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Wider den nuklearen Wahnsinn – Haltung gegen Nukleare Teilhabe nicht aufgeben

Von René Röspel und Ralf Kapschack

Wir, Ralf Kapschack (als Mitinitiator des Parlamentskreises Atomwaffenverbot) und René Röspel (als Mitglied), waren am Hiroshima-Gedenktag am 6. August 2020 vor dem Fliegerhorst Büchel und haben mit anderen für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland demonstriert. Wir waren dort als Vertreter der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglieder der Partei, die sich am längsten in Europa für Demokratie, Völkerverständigung und friedliches Zusammenleben einsetzt. Und für die Partei, die es – mit Willy Brandt und Egon Bahr an der Spitze – mit einer neuen Form des Umgangs zwischen ehemals verfeindeten Staaten ermöglichte, dass in (Kern-)Europa nach dem Zweiten Weltkrieg 77 Jahre lang keine militärische Auseinandersetzung stattfand. Stattdessen entstand in den vergangenen 30 Jahren ein friedliches Zusammenleben, Grenzen wurden abgebaut, zwischen den Menschen aus den unterschiedlichen Ländern gab es Aussöhnung und Freundschaft.

Diese Entspannungspolitik, für die der damalige Bundeskanzler Willy Brandt zu Recht 1971 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, ist nicht gescheitert, wie es uns reaktionäre Kräfte weismachen wollen. Sie ist unverzichtbarer denn je und bleibt alternativlos. Diese Erkenntnis hat sicher auch zu der langjährigen Positionierung der SPD geführt – im nach wie vor gültigen Hamburger Programm (2007) heißt es dazu:

„Die zunehmende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verlangt eine neue Politik der effektiven Rüstungskontrolle, der Rüstungsbegrenzung und der Abrüstung. Wir treten ein für den Abzug sämtlicher Atomsprengköpfe, die auf deutschem Boden lagern.“

Im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017findet sich dazu ebenfalls eine eindeutige Passage:

„Eine Welt ohne Atom- und Massenvernichtungswaffen bleibt unser Ziel. Wir unterstützen, dass sich große Teile der internationalen Staatengemeinschaft für die weltweite Abschaffung dieser Waffen einsetzen. Mit aller Entschiedenheit wenden wir uns gegen verantwortungslose Gedankenspiele über die Schaffung einer europäischen Atomwaffenmacht oder gar eine atomare Bewaffnung Deutschlands.“

Wir teilen diese Forderungen nach wie vor. Allerdings hat sich offenbar die Einstellung großer Teile der Politik zur sogenannten „Nuklearen Teilhabe“ deutlich verändert, begonnen mit der Regierungserklärung Olaf Scholz’ im Bundestag am 27.2.2022: Der Kanzler erklärte, ein atomwaffenfähiges Nachfolgesystem für die veralteten Tornado-Jets beschaffen zu wollen. Einige aus der SPD sehen sich möglicherweise erstmals mit dieser Fragestellung konfrontiert, während die Konservativen und der Militärisch-industrielle Komplex sich nun die Hände reiben und ihre Zeit gekommen sehen. Dabei gab es eine intensive Diskussion auch in der SPD darüber, ob Deutschland für die neuen US-amerikanischen Atomwaffen auch statt der alten, dann nicht mehr funktionsfähigen MRCA Tornado-Jets neue Kampfflugzeuge beschaffen soll. Die sollen dann im Krisenfall (auf Befehl des US-Präsidenten und mit deutscher Zustimmung) die amerikanischen Atomraketen als „Trägersystem“ aufnehmen und dann über dem Ziel abwerfen (ein Teil der Atomraketen würde dann im Rahmen dieser „Nuklearen Teilhabe“ von deutschen Flugzeugen über Ziele in (Ost-) Europa oder wahrscheinlich sogar Deutschland gestartet!).

Anlass für diese Kehrtwende ist zweifelsohne Putins zweiter völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine. Nun hat die Bundesregierung entschieden, 35 Mehrzweckkampfflugzeuge vom Typ Lockheed F-35 für mehrere Milliarden Euro zu kaufen, die in der Lage sind, die bereits in Büchel stationierten B61-Atombomben zu transportieren.

Wir wollen nicht auf die unglaubliche Summe eingehen, die es kosten wird, die deutsche Luftwaffe in die Lage zu versetzen, Atombomben über Europa abwerfen zu können. Für uns steht im Mittelpunkt die Frage: Ist dieses Konzept der nuklearen Abschreckung überhaupt noch geeignet oder ein höllisches Spiel mit dem Feuer? Dazu braucht es die Betrachtung, ob sich der Abzuschreckende abgeschreckt fühlt oder nicht. Und wie „unsere“ Seite darauf reagiert. Nun mag Abschreckung eine Zeit oder einige Male funktioniert haben, weil auf beiden Seiten der Konfrontation hoffentlich Entscheider standen, die sich vielleicht doch von Rationalität, Verantwortungsbewusstsein und/oder auch nur Angst haben leiten lassen und deshalb am Ende nicht zum Äußersten gegangen sind (vermutlich dramatisch knapp in der Kuba-Krise mit Kennedy auf der einen und Chruschtschow auf der anderen Seite; während der Aufrüstungsphase der 80er Jahre mit Staatslenkern, die am Ende vermutlich den Einsatz der Atomwaffen (in Europa) scheuten).

Nun kann niemand in Wladimir Putins Kopf schauen, aber es gibt zwei mögliche Situationen. Beiden gemeinsam ist, dass zunächst Putin „das Heft des Handelns“ in den Händen hält, es dann aber entscheidend auf die Reaktion der NATO (bzw. der USA) bzw. des „Westens“ ankommt.

Die kurze und gute Variante Nr. 1 wäre: Putin lässt sich von Abschreckung durch Atomwaffen beeindrucken und eskaliert nicht, um keinen atomaren Gegenschlag zu provozieren. Er wird deshalb auf keinen Fall (strategische) Atomwaffen einsetzen, maximal „taktische“, die örtlich begrenzt zerstören (schlimm genug!).

Die andere ist: Er lässt sich nicht beeindrucken, weil er kalkuliert, dass die NATO diese Waffen nicht einsetzen wird – oder er lässt es einfach darauf ankommen. Das könnte in ein europäisches Inferno münden, wenn das Abschreckungsszenario durch eine Reaktion der NATO verwirklicht würde.

Unsere Einschätzung: Putin lässt sich nicht abschrecken und hält den Westen eh für schwach. Rationalität scheint Kalkül gewichen zu sein. Er reagiert bisher allein auf konkretes Verhalten des Gegenübers und erfährt bislang, dass „der Westen“ (richtigerweise!) die direkte Konfrontation vermeidet und sich auf die Lieferung von Waffen u. a. beschränkt. In seiner Sichtweise mag das schwächlich oder feige sein. Das allerdings sind Sichtweisen, auf die wir uns nicht einlassen dürfen.

An diesem Punkt hängt die Entscheidung über eine atomare Eskalation tatsächlich (und leider oder glücklicherweise) beim Westen – bei uns. Ehrlicherweise müssen wir jetzt endlich folgende Frage beantworten: Sind wir wirklich bereit, im Ernstfall Atomwaffen in Europa einzusetzen? Wenn wir alle

  • (1) das tatsächlich nur als maximale Drohung verstanden haben und nicht bereit sind, in letzter Konsequenz auch abzufeuern – dann brauchen wir diese Waffen auch nicht.
  • (2) Wenn es tatsächlich den Willen gibt, diese Waffen auch im Letzten einzusetzen, wird es das atomare Inferno für Europa bedeuten. Das wäre auch kein Akt der Verteidigung mehr, sondern bloße Vergeltung und die Zerstörung nicht nur Deutschlands.

Nukleare Waffen sind kein dienendes Element mehr für politisches Taktieren. Sie sind mehr denn je konkrete Bedrohung für unser Leben. Noch nie war es so ernst. Die Verantwortung politisch Denkender und das Handeln politisch Verantwortlicher muss darauf ausgerichtet sein, Leben zu schützen und Zerstörung zu verhindern. Gerade jetzt wäre es nicht naiv – wie manche behaupten – sondern zwingend, energisch für ein Verbot von Atomwaffen zu werben und dem Atomwaffenverbotsvertrag weltweite Geltung und Respekt zu verschaffen. Die vermeintliche Zeitenwende rechtfertigt keine atomare Aufrüstung, ganz im Gegenteil.

Die Bundesregierung und die Abgeordneten tragen jetzt die konkrete Verantwortung für das Wohlergehen und Leben der Menschen in unserem Land! Die militärische Eskalation muss verhindert werden, der Einsatz von Atomwaffen darf nicht Bestandteil politischen Handelns sein. Deshalb ist die Abschaffung atomarer Waffen unverzichtbar und Nukleare Teilhabe zu beenden. Alles andere wäre ein unverantwortlicher Fehler.