Jahresregister 2009

Schwerpunkte

spw 175- 07/09

Klima, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit

Eine zwölftägige UN-Konferenz in Kopenhagen brachte im Dezember 2009 die große Wende: Die weitere Aufheizung der Erde konnte kurz vor dem Point of no Return gestoppt werden. Der Klimaschutz bestimmt seitdem die Politiken in Washington, Berlin und Paris, und auch Beijing und Brazilia ziehen mit. Der Klimakollaps konnte abgewendet werden, weil sich die Weltgemeinschaft unter Führung des in letzter Minute im Kongresszentrum eingeflogenen Barack Obama für das Gute entschieden hat.


Eine solche imaginäre Betrachtung auf die aktuelle UN-Konferenz mag vielleicht für einen Kinofilm taugen, aber in der Realität wird ein solcher Verlauf selbst kühnsten Optimisten als zu schönfärberisch erscheinen. Dennoch spiegelt sich in dieser Beschreibung ein all zu oft anzutreffender Umgang mit internationalen Konflikten wieder – ein weltweiter Gipfel werde schon eine Lösung bringen.  


spw 174 – 06/09

„Das wird unser Jahrzehnt“ – Zur Lage der SPD nach der Bundestagswahl

Symbolische Inszenierungen sind besonderer Bestandteil von Wahlabenden und Parteitagen. Auch in der SPD bedienen sich die KommunikationsberaterInnen eines breiten Bauchladens von Moderne und Tradition, von den großen Gesten des strahlenden Kandidaten, über technisch ausgefeilte Präsentationen bis hin zum Bergmannschor. Doch um 18:30 Uhr des 27. September schien sich nicht nur das Fernsehpublikum im allgemeinen, sondern auch die Parteibasis auf den Wahlpartys in der falschen Vorstellung zu befinden. Wer angesichts der beispiellosen Wahlniederlage der Sozialdemokratie Gesten der Nachdenklichkeit erwartet hatte, sah sich mit einem strahlenden Wahlverlierer und einer jubelnden Menge konfrontiert, die jeden Zweifel am politischen Kurs hinweg zu applaudieren schienen. Die Inszenierung der Geschlossenheit hatte sich bis ins Absurde gesteigert. Sarkastisch fragten manche Leitartikler, ob der Jubel Erleichterung über das Ende der ungeliebten Regierungszeit oder völlige Abkopplung von der Realität ausdrücke.


spw 173- 05/09

Kurzarbeit – und dann? Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik gegen die Wirtschaftskrise

„Krise muss woanders sein!“, äußerte jüngst ein Frankfurter Investmentbanker im Einklang mit Kollegen in einer Fernsehreportage. Zumindest in der Finanzwelt scheint zwischen Börse und Afterwork-Party die Stimmung angesichts wieder steigender Aktienkurse und neuer Milliardengewinne der Großbanken glänzend. Auch weite Teile der Politik versuchen mit Blick auf den Wahltag das Bild des „Das Schlimmste liegt hinter uns. Jetzt geht es wieder aufwärts!“ zu zeichnen. Auf den Wirtschaftsseiten finden sich zunehmend Beiträge, die auf wieder steigende Aufträge und eine wieder anziehende Konjunktur hinweisen.


spw 172 – 04/09

Integration und Diskriminierung – blinde Flecken der öffentlichen Debatte

Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, wird in öffentlichen Debatten kaum noch bestritten. Nach den letzten Erhebungen des Statistischen Bundesamtes haben 15,3 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Trotzdem ist die öffentliche Debatte um Migration und Integration nach wie vor von großer Anspannung, Nervosität und Vorurteilen geprägt. Zwar wird zumeist zugestanden, dass „Integration keine Einbahnstraße“ ist.

Die nahe liegende Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis, nämlich kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt zunächst einmal anzuerkennen und gemeinsam zu gestalten, ziehen viele ProtagonistInnen des Integrationsdiskurses daraus  jedoch nicht. Im Gegenteil – die große Mehrzahl der praktischen Handlungsansätze und Vorschläge konzentriert sich ausschließlich auf Forderungen, die an die Gruppe der MigrantInnen gerichtet sind. 


spw 171 – 03/09

Anschluss verpasst?
Perspektiven berufsbezogenen Lernens

Unter dem Motto „Qualifizieren statt entlassen“ versucht die Bundesregierung eine Beschäftigungsbrücke über die Krise zu schlagen. Inwiefern diese bis ans rettende Ufer eines Aufschwungs reichen wird, bleibt angesichts der trüben Aussichten weiter fraglich. Offen ist auch, inwieweit es aktuell gelingt, den Anspruch der „Qualifizierung“ einzulösen. Denn die Ausgangssituation in Deutschland ist denkbar schlecht: Weiterbildung spielt in den meisten Betrieben und für die meisten Beschäftigten keine Rolle. Deutschland hat im Vergleich zu den Weiterbildungs-Champions im Norden Europas den Anschluss verpasst. Und der Abstand wächst. Denn seit 1997 ist die Beteiligung an Weiterbildung auch noch rückläufig. In Deutschland ist zudem eine wachsende Gruppe vom Zugang zu beruflicher Erst- und Weiterbildung ausgeschlossen.
Gerade mal ein Drittel aller Betriebe in Deutschland engagierte sich im Jahr 2007 in der betrieblichen Ausbildung. Etwas mehr als ein Viertel machte von der Ausbildungsberechtigung keinen Gebrauch und ungefähr 40 Prozent waren nicht ausbildungsberechtigt. Auch wenn im vergangenen Jahr die Ausbildungsbeteiligung erneut stieg, klafft noch immer eine Lücke zwischen dem Angebot und der Nachfrage nach Lehrstellen. Bettina Kohlrausch zeigt in ihrem Beitrag, dass die Gruppe der gering Qualifizierten wächst ohne dass es adäquate Qualifizierungangebote für sie gäbe. Die jüngsten Daten zeigen, dass jeder fünfte Ausbildungsabsolvent erst mal arbeitslos wird.


spw 170- 02/09

Linke Hegemonie?
Die Krise des Neoliberalismus nutzen

„Der Neoliberalismus ist gescheitert, das System fährt gegen die Wand“ – diese und ähnliche Analysen finden sich seit dem Ausbruch der Finanzkrise zunehmend als Kommentare in Medien des politischen Mainstreams und nicht nur in den Analysen linker PolitikerInnen und Parteien. Dass kapitalistische Systeme krisenanfällig sind, ist keine neue Erkenntnis. Dass diese Krisen in der Folge nicht zwangsläufig in einen Verlust der gesellschaftlichen Legitimität der Wirtschaftsordnung führen, hat die radikalreformerische Linke in den letzten einhundert Jahren immer wieder erfahren müssen. Auch in der aktuellen Krise ist offen, wie sich die politische und gesellschaftliche Regulierung von Ökonomie weiter entwickelt. In spw 1/2009 haben wir diskutiert, wie ein globaler „New Deal“ für wirtschaftliches Wachstum und soziale Entwicklung aussehen kann. Ob es gelingt, ein solches anderes Regulierungsmodell für den Kapitalismus an die Stelle der bisherigen neoliberalen Orientierung zu setzen, wird von der Strategie- und Hegemoniefähigkeit der Linken abhängen. Zwar hat in den letzten Monaten Kritik an „Gier und Habsucht“ der Manager die politische Debatte bestimmt. Auch Zeitungen des (wirtschafts-)politischen Mainstreams wie die „Zeit“ begannen die Frage nach Zustand und Zukunft des Kapitalismus zu diskutieren.s wird.


spw 169 – 01/09

Zeit für einen neuen New Deal!

Zu Beginn des neuen Jahres befinden wir uns in Mitten der größten Krise kapitalistischen Wirtschaftens seit den Zeiten der Großen Depression. Der Internationale Währungsfonds (IWF) mag lange Zeit für seine wirtschaftspolitische Ausrichtung gescholten worden sein, um so bemerkenswerter sind die jüngsten Prognosen der Washingtoner Behörde: Um über zwei Prozent soll die Wirtschaftsleistung in den entwickelten Ländern zurück gehen und ohne ein entschiedenes und koordiniertes Handeln der Regierungen drohe vielen dieser Ländern der Absturz in eine Deflation. Das sind nötige und klare Worte, die angesichts des Szenarios gebraucht werden, die aber bislang eher Mangelware sind. 
Der richtige Ort für klare Worte wäre ein wirkliches Weltwirtschaftsforum, aber von den Schweizer Bergen ging Ende Januar kein entsprechendes Signal aus. Es ist zwar mittlerweile eine gute Tradition für die Eliten aus Unternehmen, Politik und Wissenschaft geworden, zum jährlichen Stelldichein beim World Economic Forum zusammen zu kommen, aber zur Bewertung und Auflösung der augenblicklichen Krise hat das Forum in Davos nichts beizutragen gehabt. Dieses Treffen steht allerdings stellvertretend für die existierenden Erklärungsmuster der wirtschaftlichen und politischen Eliten: Ein Teil der TeilnehmerInnen geißelt mittlerweile routiniert die unakzeptable Gier einiger weniger, während der andere Teil argumentativ umgeschwungen ist und sich jetzt ganz pragmatisch für staatliche Interventionen ausspricht.
Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, brauchte es eine lange Zeit. Noch im Sommer wollte insbesondere die deutsche Regierung nichts von konjunkturstützenden Maßnahmen wissen und setzte auf eine Strategie des Abwartens. Mittlerweile haben Christ- und SozialdemokratInnen, nach einem ersten zaghaften Versuch vom November 2008, tatsächlich ein Konjunkturprogramm verabschiedet. In diesem Zusammenhang ist die Kritik des „too little and too late“ sicher berechtigt, aber ohne Zweifel ist in Berlin mittlerweile verstanden worden, dass Abwarten nicht mehr reicht. Diese Maßnahmen und die Unterstützung von Banken markieren eine vorläufige Wende in der Wirtschaftspolitik, die vor der Krise vehement von der Bundesregierung abgelehnt wurde. Ob diese Stützungsversuche ausreichen werden, steht jedoch angesichts der Deflationsgefahr auf einem anderen Blatt.