Heft 261 – 04/2024

Was haben Lambsdorffpapier, Hartzreform und das aktuelle CDU-FDP-Narrativ gemeinsam?

#analyse #spw

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Dr. Michael Dauderstädt ist Publizist und Berater und war bis 2013 Leiter der Abteilung für Wirtschaft- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung.

von Michael Dauderstädt

Wirtschaftspolitisches déjà vu: Mit Sozialabbau aus der Krise

Konservative und liberale Politik und die sie wie üblich unterstützenden Medien beklagen seit Monaten Deutschlands wirtschaftliche Lage: Beim Wachstum hat es die rote Laterne, die Wettbewerbsfähigkeit ist gefährdet oder schon verloren, der Standort unattraktiv. Abhilfe kann nur eine angebotsorientierte Politik schaffen mit weniger Staat und mehr Markt sowie einem weniger großzügigen Sozialstaat, da er die Menschen von der Arbeit abhalte. Bis in die Wortwahl (die rote Laterne sah Hans-Werner Sinn schon¹) erinnert das an zwei vorangehende Krisen, die ähnlich diagnostiziert und therapiert werden sollten.

1982 schrieb der damalige liberale Wirtschaftsminister Lambsdorff sein berühmtes Papier „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, das als Scheidungspapier der sozialliberalen Regierungskoalition unter Helmut Schmidt in die Geschichte einging. 20 Jahre später war es wieder so weit. Diesmal antwortete eine rot-grüne Regierung auf den Reformstau der Kohl-Regierung und die dominante Krisenpanik (Vorreiter: ifo-Präsident Sinn) mit den Hartz-Reformen der Agenda 2010. Wie sich die Bilder gleichen: Heute sehen die schwarzseherischen Kritiker der Ampel die Situation wieder genauso und holen die gleichen Rezepte aus der Mottenkiste. Der ehemalige Chefökonom der Deutschen Bank Thomas Mayer stellte im Interview² mit dem Deutschlandfunk am 29.07.2024 die aktuelle Lage ganz explizit in diese Dreier-Reihe. Am 01.11.2024 veröffentlichte Bundesfinanzminister Lindner sein „Lambsdorffpapier“ mit ähnlichem Titel „Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit“ und ähnlichen Folgen: Sturz einer SPD-geführten Regierung.

Aber stimmten die Diagnosen überhaupt und halfen die Therapien?

Die drei Krisen unterscheiden sich eigentlich sehr deutlich vom weltwirtschaftlichen Hintergrund, wenn auch weniger in der Symptomatik: Anfang der 1980er litt Deutschland unter dem zweiten Ölpreisschock. Die sonst notorisch positive Leistungsbilanz geriet ins Defizit, die Arbeitslosigkeit stieg auf über 7 Prozent (1982), das Wachstum brach ein, die Haushaltsdefizite stiegen auf über 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Verschuldung auf fast 40 Prozent (1982). Um die Jahrtausendwende war Deutschlands Entwicklung von den Folgen der Wiedervereinigung und der Einführung des Euro gezeichnet, verbunden mit einer starken Überbewertung der DM bzw. im Euroraum. Die Arbeitslosigkeit war viel dramatischer (über 10 Prozent), das Wachstum schwächelte, die Staatsverschuldung und das Defizit verletzten die damals gerade neuen Maastricht-Regeln (3 bzw. 60 Prozent des BIP), wenn auch nur leicht. Die Leistungsbilanz, die nach der Vereinigung defizitär geworden war, wies ab 2002 wieder Überschüsse auf. Und heute? Deutschland traf ein Doppelschlag: erst die Pandemie, dann der Ukrainekrieg mit seinen Folgen in Form von Sanktionen, Inflation, Flüchtlingen und Mehrausgaben für Rüstung und Hilfe für die Ukraine. Dahinter droht dieses Mal ein komplexeres Krisensyndrom, welches das traditionelle Wachstumsmodell in Frage stellt: keine billige Energie, keine US-garantierte Sicherheit und kein langfristig stabiler Absatzmarkt China mehr. Aktuell kränkelt zwar das Wachstum, aber die Arbeitslosigkeit bleibt relativ stabil bei 5 – 6 Prozent. Die Leistungsbilanz ist weiter deutlich im Überschuss, die Staatsfinanzen sind relativ gesund, auch wenn die Schuldenstandsquote durch die hohen Ausgaben in der Doppelkrise um mehr als 60 Prozent gestiegen war. Ungeachtet dieser Unterschiede wurden die Ursachen gern als hausgemacht beschrieben und im überbordenden Sozialstaat, Freizeitmentalität und zu hoher Belastung der Unternehmen durch Steuern, Löhne und Auflagen verortet.

Entsprechend sahen die Therapievorschläge aus: Rentenreform, Kürzungen bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen, „Entbürokratisierung“. Was geschah tatsächlich und hat es geholfen? Lars Feld, der Berater von Bundesfinanzminister Lindner, hat 2013, 30 Jahre nach dem Lambsdorff-Papier, dessen Folgen untersucht.³ Aus liberaler Sicht beklagt er, dass die neue christlich-liberale Regierung unter Helmut Kohl zu wenig von den liberalen Forderungen umsetzte, im Kern nur einige Steuersenkungen. Der Sozialstaat blieb weitgehend unangetastet. Das Wachstum erholte sich trotzdem, mit deutlicher Verspätung auch die Staatsfinanzen. Auch die Leistungsbilanz wies wieder Überschüsse auf, wohl auch wegen des wieder sinkenden Ölpreises. Nur die Arbeitslosigkeit blieb hoch, da die Produktivität schneller als die Nachfrage stieg.

Die 2003 bis 2005 ergriffenen Maßnahmen der rotgrünen Regierung unter Bundeskanzler Schröder (Agenda 2010) konzentrierten sich auf den Arbeitsmarkt mit seiner schon lange hohen Arbeitslosigkeit. Die Effekte sind umstritten und wegen der schweren Finanzmarktkrise 2008 – 2010 auch nur verzerrt zu beobachten. Mittelfristig entwickelte sich Deutschland zwar vom „kranken Mann“ zum „Superstar“, aber kurzfristig (bis zur Krise) blieb das Wachstum eher schwach, obwohl die Arbeitslosigkeit sank. Dies erklärte sich durch die Zunahme der Minijobs in dem wachsenden Niedriglohnsektor, womit sich ein stagnierendes Arbeitsvolumen auf mehr und schlechter bezahlte Beschäftigte verteilte. Die Leistungsbilanz verbesserte sich deutlich dank schwacher Binnennachfrage und interner Abwertung (sinkende Lohnstückkosten). Der Staatshaushalt konsolidierte sich nur wenig, um in der Krise ab 2009 wieder massiv ins Defizit zu rutschen. Inwieweit die mittelfristigen Erfolge der deutschen Wirtschaft ab 2010 noch der Agenda-Politik zuzuschreiben sind, ist fraglich. Sie beruhen eher auf eben dem exportorientierten Wachstumsmodell, das heute in Frage steht: Nachfrage aus China, billige Energie, Friedensdividende und Leben von der Substanz (unterlassene Staatsausgaben für Infrastruktur und Bildung). Das heute oft gehörte christlich-liberale Lob für die Agenda-Politik ist ideologisch geprägt und bewertet nicht die tatsächlichen Effekte. Zu denen zählen auch zwei weitere Folgen, nämlich die gestiegene Ungleichheit und Armut und – auf politischer Ebene – die Stimmenverluste der SPD an die 2007 gegründete „Linke“.

Wenn heute wieder der Freizeitpark Deutschland mit seinen sozialen Hängematten für schwaches Wachstum und sinkende Wettbewerbsfähigkeit verantwortlich gemacht wird, ist es höchste Zeit, diese Jahrzehnte alten Argumentationsfiguren zu hinterfragen. Wer mehr Wachstum durch Lohnsenkungen und Sozialkürzungen erreichen will, will schlicht eine Umverteilung zugunsten des Kapitals. Tatsächlich hat sich das Wachstum in den beiden vergangenen Krisen vor allem durch höhere Nachfrage aus dem Ausland erholt. Darauf kann man sich in einer zunehmend protektionistischen Weltwirtschaft kaum verlassen. Stattdessen wäre ein anderes Wachstumsmodell angezeigt, das mehr auf die Bedürfnisse der eigenen Wirtschaft und Gesellschaft abzielt. Deutschland braucht Investitionen – auch im Zeichen des Klimawandels – in die Infrastruktur, den Wohnungsbau, die grüne Transformation, in Bildung und Gesundheit. Das Modernisierungsprogramm der Ampel wies da in die richtige Richtung, entgleiste aber in der Ukrainekrise und kam wegen koalitionsinterner Konflikte auch nicht wieder in Schwung. Deshalb auf die falschen Rezepte der Vergangenheit zurückzugreifen bringt das Land einer Lösung aber nicht näher. Im Lindner- Papier findet sich wieder der alte Mix aus wirklichkeitsfremder Ideologie (Marktwirtschaft vs. Industriepolitik) und Umverteilung zulasten der Schwächsten: Steuersenkungen für Unternehmen und reichere Haushalte, weniger Geld für bedürftige Deutsche und Asylberechtigte sowie für den Klimaschutz.

So ist die Fokussierung auf das BIP-Wachstum schon lange fragwürdig, da das BIP wichtige Wohlfahrtselemente wie Freizeit ebenso ausblendet wie negative externe Effekte, vor allem für die Umwelt. So zeigt etwa ein detaillierter aktueller Vergleich Deutschlands mit den gern als Vorbild präsentierten USA, dass die USA bei vielen Indikatoren der Lebensqualität schlechter abschneiden. So ist die Zahl der Arbeitsstunden pro Beschäftigten in Deutschland mit unter 1.200 eine der niedrigsten in der OECD und deutlich niedriger als in den USA (über 1.400). Aber ist weniger Freizeit oder Zeit für Erziehung und Pflege in der Familie oder Ehrenamt gesellschaftlich erstrebenswert?

Ebenso löcherig ist die ökonomische Grundlage des Begriffs „Wettbewerbsfähigkeit“. Paul Krugman bezeichnete ihn schon 1994 als „gefährliche Obsession“. Angesichts hoher Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands muss man schon gewisse Verrenkungen machen, um einen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit zu entdecken. Dann sind die Überschüsse Zeichen dafür, dass Deutschland mehr spart als investiert (was richtig ist) und dass es für Investitionen nicht attraktiv ist. Schon Hans-Werner Sinn musste, um seinen Befund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit mit der Realität starker Exporte in Einklang zu bringen, Deutschland zu einer Basarökonomie mit einem pathologischen Exportboom erklären. Plausibler ergeben sich die hohen Ersparnisse in Deutschland als Ergebnis einer ungleichen Einkommensverteilung und diese sollten bei Bedarf vom Staat absorbiert werden, wie Carl Christian von Weizsäcker schon 2013 zeigte. Doch davor bewahrt uns die Schuldenbremse, ein weiteres Relikt falschen ökonomischen Denkens, das auch der Kern des Lindner-Papiers und der Auslöser des Ampel-Endes ist. Dabei sind die von Lindner ins Feld geführten deutschen und europäischen Schuldenregelungen volkswirtschaftlich kontraproduktiv und setzen auf technokratische Indikatorenarithmetik statt auf eine demokratisch beschlossene und kontrollierte finanzpolitische Strategie, um langfristig Wohlstand und sozialen Zusammenhalt zu sichern.¹⁰

¹ Sinn, Hans-Werner (2002): Die rote Laterne – Die Gründe für Deutschlands Wachstumsschwäche und die notwendigen Reformen, in: ifo Schnelldienst, 2002, 55, Nr. 23, 3-32
² https://www.deutschlandfunk.de/interview-mit-thomas-mayer-oekonomzu-%20eu-defizitverfahren-und-konjunktur-dlf-addc0bda-100.html (Zugriff%20am%2009.09.2024)
³ Feld, Lars P. (2013): Zur Bedeutung des Manifests der Marktwirtschaft oder: Das Lambsdorff-Papier im 31. Jahr, Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik, No. 13/9 (https://www.econstor.eu/bitstream/ 10419/88112/1/772166285.pdf Zugriff am 09.09.2024)
Dobusch, L., & Passoth, J.-H. (2022). Mehr digitale Offenheit wagen, https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/debatte-zum-offentlich-rechtlichen-rundfunk-mehr-digitale-offenheit-wagen-8853490.html [05.03.2025]Dustmann, Christian u.a. (2014) From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy, CDP No 06/14 (https://creammigration. org/publ_uploads/CDP_06_14.pdf Zugriff am 09.09.2024)
Priewe, Jan (2024): Comparing living and working conditions – Germany outperforms the United States, IMK Study 91, (https://www.imk-boeckler. de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008792 Zugriff am 09.09.2024)
Krugmann, Paul (1994) Competitiveness: A Dangerous Obsession, in: Foreign Affairs Vol.73/ No.2 (http://gesd.free.fr/krugman94.pdf Zugriff am 09.09.2024)
Sinn, Hans Werner (2005); Die Basar-Ökonomie. Deutschland: Exportweltmeister oder Schlusslicht? Berlin Econ
Von Weizsäcker, Carl Christian (2013) Vorsorge-Albtraum, in: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 93. Jahrgang, 2013 Heft 13 S. 7–15 (https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2013/heft/13/beitrag/der-vorsorge- albtraum.html Zugriff am 09.09.2024)
¹⁰ Eine umfassende Analyse der Hintergründe und Folgen dieser Schuldenregelungen findet sich in Philippa Sigl-Glöckner (2024) Gutes Geld. Wege zu einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft, Köln Bastei Lübbe

2025-06-26T15:03:21+02:00
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