Online Special
Verlorene Verbindungen und neue Perspektiven
#meinung #debatte #spw
Dr. Joachim Rock ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.
von Joachim Rock
Mit der meritokratischen Wende der Sozialdemokratie in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren hat sich ihre elektorale Basis über die Industriearbeiterschaft hinaus spürbar verengt. Auch Angehörige sozialer Berufe und viele prekär Beschäftigte im Bereich sozialer Dienstleistungen wandten sich zunehmend ab, nicht zuletzt aufgrund der demonstrativen Distanzierung der SPD von ihrer Rolle als Anwältin der „einfachen Leute“. Diese Entfremdung erfasste auch zivilgesellschaftliche Akteure und führte zur Erosion des politischen „Vorfeldes“. Besonders spürbar war der Verlust gesellschaftlich engagierter Multiplikatorinnen. Wer in der Pflege, in Kindertagesstätten, der Jugendhilfe oder im Bildungsbereich arbeitet, hat tagtäglich Dutzende Gespräche mit Freundinnen, Kolleg*innen und Angehörigen. Verlorenes Vertrauen verbreitet sich hier wie in einer Kaskade.
Versuche, verloren gegangenen Rückhalt zurückzugewinnen, indem man „Leistungsträger“ gegen Menschen mit Unterstützungsbedarf ausspielt, haben sich für Parteien der politischen Mitte nie ausgezahlt. Die SPD bildet da keine Ausnahme. Wohl aber konnte sie bei der Bundestagswahl 2021 mit dem Versprechen auf mehr Respekt für Menschen mit geringen Einkommen punkten: Mit der Aussicht auf die Überwindung von Hartz IV, sicheren Renten, höheren Mindestlöhnen und einem stärkeren Mieterschutz. Solche „Brot-und-Butter-Themen“ sind in der politischen Debatte ebenso präsent wie am Abendbrottisch oder in Talkshows. Sie verschaffen Parteien nicht nur Aufmerksamkeit, sondern schaffen Profil und Relevanz im Alltag der Menschen.
Die Stärkung der sozialen Daseinsvorsorge, insbesondere durch gemeinnützige und soziale Initiativen mit über zwei Millionen hauptamtlich und rund drei Millionen ehrenamtlich engagierten Menschen, muss daher mehr Gewicht erhalten. Ein sinnvoller Schritt wäre, Renditen im Sozial-, Gesundheits- und Pflegebereich zu begrenzen und gemeinnützigen Trägern gesetzlich Vorrang bei der Leistungserbringung einzuräumen. So könnten Mittel im System gehalten und immer wieder ins Soziale reinvestiert, zivilgesellschaftliche Akteure langfristig gestärkt werden. Leider fehlt es bislang auch in der Sozialdemokratie an jeglicher konkreten Initiative dazu, obwohl sie angesichts von Anfechtungen und Anfeindungen der Zivilgesellschaft in den letzten Wochen dringend notwendig wären.
Auch die Idee einer echten sozialen Bürgerversicherung, in den vergangenen Jahren nur noch zögerlich vertreten, verdient neue Aufmerksamkeit. Sie könnte Teil eines sozialen Projekts sein, nachdem fortschrittlichen Kräften zentrale Vorhaben wie das Bürgergeld oder die Kindergrundsicherung mehr und mehr entgleiten. Ein pragmatischer Einstieg wäre, die gesetzliche Krankenversicherung für Beamte attraktiver zu machen, etwa durch eine flächendeckend garantierte hälftige Beitragsübernahme. Ein solcher Schritt wäre auch in der aktuellen Regierungskonstellation durchsetzbar.
Ein Rückschritt hingegen wäre es, Errungenschaften des Bürgergeldes, wie etwa die zeitweise Nichtanrechnung von Ersparnissen, wieder zurückzunehmen oder Sanktionen weiter zu verschärfen. Solche Maßnahmen nähren soziale Ängste und Abstiegsbedrohungen bis tief in die Mittelschichten hinein. Sie spielen damit den Gegnern von Demokratie und Menschenrechten in die Hände. Ein neues, sozial inklusives Projekt kann dem entgegenwirken: Es entzieht den Spaltern Energie und schafft neue Formen von Solidarität. Und genau die brauchen wir.