Heft 259 – 02/2024

Unsicherheit mindern, Handlungsfähigkeit herstellen: Die sozialdemokratie nach der Europawahl

#analyse #spw

Foto: © Waldemar Salesski

Matthias Ecke aus Dresden ist Europaabgeordneter für Sachsen und Thüringen. Er arbeitet in Brüssel und Straßburg zu wirtschafts- und strukturpolitischen Themen und zu Fragen von Demokratie und Zusammenhalt.

von Matthias Ecke

Die Europawahlen 2024 standen nicht nur wegen der hohen Bedeutung transnationaler Themen unter besonderer Beobachtung. Ebenso wurde mit Spannung verfolgt, ob und wie sich im Europäischen Parlament ein Rechtsruck vollzieht, der auf nationalstaatlicher Ebene bereits eine Reihe von Mitgliedsstaaten ergriffen hat. Denn in Italien, den Niederlanden, Finnland, Schweden und der Slowakei sind Parteien der radikalen Rechten bereits Teil der Regierung oder unterstützen die regierungstragende Mehrheit.

Auch bei der Europawahl setzte sich der Trend nach rechts im Europäischen Parteienspektrum fort. Dies gilt sowohl für die stärkere Rolle der Mitte-Rechts-Fraktion der EVP (Christdemokratie) als auch die Zugewinne der radikalen Rechten. Jene teilen sich bisher in eine eher transatlantisch orientierte Fraktion (EKR) und eine radikalere, russlandtreue Fraktion (ID) auf. Aktuell sind die Zusammensetzungen der Fraktionen zwar in Bewegung, sie vollziehen sich aber vor dem Hintergrund stark gewachsener nationaler Delegationen der extremen Rechten. Dabei haben vor allem große Oppositionsparteien Zugewinne (Rassemblement National aus Frankreich, die deutsche AfD) oder Verluste auf hohem Niveau erzielt (PiS aus Polen). Aber auch regierungstragende Parteien der radikalen Rechten ziehen wieder mit starken Delegationen ein (Fratelli d‘Italia oder die ungarische Fidesz).

Die Sozialdemokratie (S&D) konnte ihre nominelle Sitzstärke in einem leicht vergrößerten Europaparlament halten. Die italienische PD (21 Sitze; +2) und die spanische PSOE (20; -1) konsolidieren sich dabei als stärkste Delegationen vor einer geschrumpften SPD (14; -2), und einer deutlich gestärkten französischen (13; +7) sowie verbesserten rumänischen (11, +2) Delegation. Jedoch findet sich die S&D in einer strategisch schwierigeren Position wieder. In der abgelaufenen Wahlperiode boten die Mehrheitsverhältnisse des EP sowohl die Möglichkeit, eine zentristische Mehrheit zu nutzen, bei der S&D mit Christdemokratie (EVP) und Liberalen (Renew) gemeinsam stimmen, als auch fallweise eine progressive Mehrheit der S&D mit Liberalen, Grünen und Linksfraktion. Letzteres hat ambitionierte Gesetzgebung wie die ökologische Modernisierung der europäischen Wirtschaftsordnung (EU Green Deal) oder progressive Politik im Bereich Arbeit und soziale Rechte (Lieferkettengesetz, Mindestlohnrichtlinie) erst möglich gemacht. In der neuen Periode wird es diese Option nicht mehr geben, weil vor allem die Liberalen und Grünen herbe Verluste erlitten haben.

Was erklärt die Ergebnisse?

Europawahlen bleiben eine Verkopplung nationaler politischer Auseinandersetzungen mit einem europäischen Überbau. Insofern lassen sich die Wahlergebnisse nicht mit einem zentralen Ansatz für den ganzen Kontinent erklären.

Das angeschlagene Spitzenkandidatenprinzip

Tatsächlich hat die europäische Parteienkonkurrenz diesmal eine weniger prominente Rolle in der Auseinandersetzung gespielt als in den vergangenen beiden Europawahlen. Das Spitzenkandidatenprinzip ist angeschlagen.

Kein Wunder, schließlich hat der Europäische Rat nach der Wahl 2019 keinen der beiden Spitzenkandidaten der großen Parteienfamilien als Kommissionspräsidenten vorgeschlagen.

Diesmal schlägt er zwar die Spitzenkandidatin der EVP, Amtsinhaberin Ursula von der Leyen, als künftige Kommissionspräsidentin vor. Aber die Europawahlen waren keine echte Abstimmung darüber. Denn obwohl Nicolas Schmitt ein starker Kandidat mit einer bemerkenswerten Erfolgsbilanz in sozialdemokratischen Kernthemen war, ist er in der Öffentlichkeit weit weniger als reale Alternative zu von der Leyen wahrgenommen worden als es Martin Schulz 2014 zu Jean-Claude Juncker wurde.

Nicht zu Unrecht, denn das Spitzenkandidaten- Prinzip ist voraussetzungsvoll und funktioniert am besten im Falle einer Bipolarität der Parteienauseinandersetzung unter den nationalen Regierungen der EU und bei gleichzeitig ausgeprägtem Kooperationswillen der stärksten Kräfte im Europaparlament, die sich einig sind, dessen institutionelle Rolle zu stärken. Beides ist aktuell nicht hinreichend gegeben, weshalb der Kampf um den Kommissionsvorsitz keine entscheidende Rolle spielte.

Hochkonjunktur angstbesetzter Triggerthemen

Dennoch spielten europäische Themen eine wichtige Rolle. Die Menschen erwarten zurecht, dass Fragen von Krieg und Frieden, Außen- und Sicherheitspolitik (auch, aber nicht nur wegen des russischen Angriffskrieges), Migrations- oder Klimapolitik auf einer transnationalen Ebene gelöst werden. Für Deutschland waren diese drei Themen neben der sozialen Sicherheit die wahlentscheidenden. Uns als SPD ist es grosso modo nicht gelungen, in all diesen zentralen Konfliktfeldern klar verständliche Botschaften für unsere Kern- und Potentialmilieus zu formulieren (am ehesten ist dies nach den Zahlen von Infratest dimap noch beim Thema Frieden gelungen).

Dies wiegt umso schwerer vor dem Hintergrund der Aufladung und Verknüpfung gerade dieser Themen mit Alltagssorgen um Kriminalität, Sicherheit und sozialen Abstieg. Auch die gestiegenen Lebenshaltungskosten gerade der unteren Einkommensgruppen (die von den gelungenen Maßnahmen der Bundesregierung gebremst, aber nicht verhindert werden konnten) haben zu einem weit verbreiteten Bedrohungs- und Angstgefühl in Deutschland beigetragen. Politisch wurde dies vor allem von systemkritischen Akteuren an den euroskeptischen Rändern des politischen Spektrums genutzt.

Asymmetrische Mobilisierung zugunsten der Opposition

Die Europawahlen waren in einer in Deutschland bisher ungekannten Weise Mobilisierungswahlen. Wenn man die Wahlpflichtländer Belgien und Luxemburg sowie den Kleinstaat Malta unberücksichtigt lässt, verzeichnet Deutschland mit 64,8 Prozent die höchste nationale Beteiligung an dieser Europawahl. Trotz der absolut gestiegenen Beteiligung erlitt die SPD ihre größten Verluste in Richtung des Nichtwählerlagers. Man kann also von einer asymmetrischen Mobilisierung zugunsten EU-feindlicher Oppositionsparteien sprechen.

Die gewählte Wahlkampfzuspitzung „gegen Rechts“ – so stark sie ethisch geboten sein mag – hat also elektoral nicht funktioniert. Die Warnungen vor einem Erfolg der extremen Rechen haben nicht zuletzt die Siegesgewissheit und Wahlbereitschaft von deren Anhängerschaft gestärkt. Dem eigentlich richtigen Ansatz, die Annäherung der Union an die radikale Rechte zu kritisieren, fehlte die Zuspitzung. So war die Polarisierung innerhalb des demokratischen, pro-europäischen Spektrums zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien zu schwach entwickelt.

Die starken internen Verwerfungen der Ampelkoalition haben diese Zuspitzungsarbeit noch erschwert. Anstatt sich gemeinsam, aber mit unterschiedlichen Ausprägungen an der Union abzuarbeiten und die AfD zu dethematisieren, haben sich die Koalitionsparteien zum Teil gegenseitig zum Hauptgegner erklärt. Dabei haben sie zudem einen Mangel an Gemeinsamkeit in der Analyse zentraler Probleme wie der Überwindung der Wachstumsschwäche oder der Finanzierung der Transformation dokumentiert. Zurück blieb das Bild einer überforderten und zerstrittenen Koalition, das die Opposition genüsslich ausschlachten konnte.

Unsere Aufgaben als Sozialdemokratie

Letztlich wird man die extreme Rechte national und europaweit nur dann entscheidend schwächen können, wenn genügend programmatische und personelle Alternativen zwischen den Parteien der demokratischen Mitte sichtbar werden. Zugleich muss der Nährboden für den Erfolg von AfD und Co. über ihr Kernmilieu hinaus entzogen werden: die Überforderungs-, Unsicherheits- und Ohnmachtsgefühle in relevanten Teilen der Bevölkerung.

Die europäische Sozialdemokratie muss also physische und soziale Sicherheit stärken und zugleich die staatliche Handlungsfähigkeit gegenüber Krisen und destruktiven Akteuren sicherstellen – auch als Voraussetzung für die individuelle Handlungsfähigkeit der Einzelnen. Das Gefühl, das eigene Leben planen und beherrschen zu können, sich sozial abgesichert frei zu entfalten und in die Gesellschaft wirksam einbringen zu können, macht weniger empfänglich für die destruktiven Ressentiments der radikalen Rechten.

Das heißt auch, dass Themen wie die Energie- und Lebensmittelpreise, bezahlbarer Wohnraum und sichere, gut bezahlte Arbeit in einer vom Staat in ihrer Transformation begleiteten Wirtschaft eine größere Rolle spielen sollten. Wir müssen mehr öffentliche und private Investitionen ermöglichen, einen fairen Wettbewerb in der EU und global sicherstellen und realen Bedrohungsängsten mit einer Politik wirksamer innerer und äußerer Sicherheit begegnen.

Die Konservativen werden uns in eine Dekade der sozialen Entsicherung und Deregulierung treiben wollen, während die extreme Rechte ihre Agitation über einen vermeintlich umfassenden Kontrollverlust immer weiter verstärken wird. Dem sollten wir Klarheit, Kompetenz und Empathie entgegenstellen. Unsicherheit mindern, Handlungsfähigkeit herstellen.

2025-06-20T13:42:33+02:00
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