ANalyse

Die SPD und das Versäumnis, Europa im Wahlkampf eine sozialdemokratische Handschrift zu geben.

#analyse #spw

von Arno Brandt, Folge große Deters, Thilo Scholle und Lasse Rebbin

Sozialdemokratie nach der Europawahl. Lesson learned?

Die zentrale Frage der Beiträge dieses Heftschwerpunkts ist die nach der Ursache dafür, dass es der SPD nicht gelungen ist, im EU-Wahlkampf eine eigene europapolitische Handschrift zu entwickeln und diese in der politischen Kommunikation profilbildend zur Geltung zu bringen. Doch dass sich die Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler mit der Ampel im Wahlergebnis der SPD widerspiegelt, ist kaum von der Hand zu weisen. Der Sozialdemokratie war es nicht vergönnt, einen eigenständigen europapolitischen Wahlkampf zu führen, der die verworrene innenpolitische Konstellation in Deutschland in den Hintergrund rücken und europäische Themen und Projekte in den Vordergrund hätte stellen können.

Mit ihrem „seichten und nichtssagenden Programm“ (Paul Nemitz), das zudem im EUWahlkampf überhaupt keine Rolle spielte, hat es die SPD nicht vermocht, ihren Wählerinnen und Wählern klarzumachen, worum es in dieser Wahl ging und warum es gerade eigentlich eine politisch gestaltende Kraft wie die europäische Sozialdemokratie mehr denn je braucht. Anstatt in der gegenwärtigen geopolitischen Lage, die gleich von mehreren Krisen geprägt ist, politische Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu geben und damit auch ein sozialdemokratisches Narrativ anzubieten, wurde den Wählerinnen und Wählern die schmale Kost von „Maß und Mitte“ (so ein Wahlplakat) verabreicht. Die Abwegigkeit nationalstaatlicher Alleingänge und die Bedeutung eines vereinten und souveränen Europas im geopolitischen Kräftespiel und Auswege aus der akzelerierenden Konfrontation der Blöcke konnten nirgendwo besser aufgezeigt werden als in einer Ära der „Zeitenwende“, in der sich die großen Machtblöcke USA und China zunehmend in unbotmäßiger Konkurrenz zueinander verhalten.

Ein sozialdemokratisches Programm, das auf die Fragen der industriellen Verwerfungen, der Energiewende, der erforderlichen Infrastrukturinvestitionen, der Digitalisierung, der Zuwanderung und der sicherheitspolitischen Herausforderungen Antworten gibt, hätte einer kollektiven programmatischen Anstrengung bedurft, die in diesem unambitionierten „Nebenwahlkampf “ (Konstantin Vössing) nicht vorgesehen war.

Verschiebung nach rechts in Europa

Europa ist nach rechts gerückt. Allein die zwei rechtsextremen Parteien in Frankreich und Italien holten 37 Prozent, und auch die AfD reüssierte in Deutschland als zweitstärkste Kraft. Die relative Stärke der rechtsextremistischen Parteien wird sich in den kommenden Jahren auch im institutionellen Gefüge der Europäischen Union bemerkbar machen. Das Kräfteparallelogramm verschiebt sich zu Lasten der demokratischen Linken in Europa. Neue Initiativen in Richtung des „Green Deals“ sind damit in Zukunft weniger zu erwarten; stattdessen steht die wirtschaftliche Resilienz der EU im Zentrum der politischen Agenda. Dies muss kein Nachteil sein, solange die diskursive Hoheit einer auf staatliche Intervention und Nachhaltigkeit bedachten Ökonomie aufrechterhalten werden kann. Aber die Anzeichen einer neoliberalen Renaissance sind mittlerweile wieder unverkennbar.

Die Untoten (Zombies) sind wieder unter uns. Kurt Hübner hat in der letzten Ausgabe von spw darauf hingewiesen, dass Transformationskrisen Zeiten sind, in denen die Monster ihre Schatten werfen (Gramsci-Konstellation) und das Irrlichtern rechtspopulistischer Bewegungen um sich greift. Der Pfadwechsel zu einem neuen Wachstumsmodell einer postfossilen Gesellschaft kann vor diesem Hintergrund ökonomisch wie politisch extrem teuer werden.

Perspektiven der demokratischen Linken

Steffen Vogel hat in den Blättern für deutsche und internationale Politik angemerkt, dass sich auf den zweiten Blick das Bild verändert und sich das Bild vom Rechtsruck relativiert, wenn man die Länder, in denen sich die demokratische Linke gut behauptet oder sogar wieder an Boden gewonnen hat, in den Fokus rückt. Das gilt für Skandinavien, die iberische Halbinsel, aber auch für Osteuropa. Nimmt man die jüngsten nationalen Wahlen in Frankreich, Polen oder auch – außerhalb der EU – in Großbritannien hinzu, dann kann von einem Dammbruch zugunsten rechtskonservativer oder rechtspopulistischer Parteien in Europa keine Rede sein. Unabweisbar ist aber, dass die demokratische Linke mit der kommenden Legislaturperiode nur noch eine letzte Chance hat, um den Durchmarsch der Rechtspopulisten in Europa zu verhindern. Mit ihrem bisherigen Politikangebot wird die Sozialdemokratie die Bugwelle von rechts auf jeden Fall nicht aufhalten.

Fazit und Ausblick

Die Sozialdemokratie wird in der EU nur dann wieder eine Chance haben, auf Dauer Mehrheiten zu gewinnen, wenn sie sich der kollektiven Kraftanstrengung unterwirft, eine eigene Erzählung über ein demokratisches, soziales und nachhaltiges Europa zu entwerfen, das wirtschafts- und sicherheitspolitisch Stabilität und Wohlstand verspricht. In diesen Entwicklungsprozess müssen alle intellektuellen Ressourcen, die der Sozialdemokratie europaweit zur Verfügung stehen – von den politischen Stiftungen, Think Tanks, wissenschaftlichen Netzwerken bis zu den Fraktionen – eingebracht werden. Nur so kann es gelingen, die Meinungsführerschaft (kulturelle Hegemonie) als Voraussetzung für die Erlangung politischer Macht zurückzugewinnen. Und selbstverständlich gehört dazu auch, dass die Sozialdemokratie dann mit einem überzeugenden und inspirierenden Personal antritt.

Der Beitrag von Paul Nemitz behandelt die aktuellen Herausforderungen des demokratischen Systems nach der EU-Parlamentswahl. Nemitz geht dabei auch auf die jüngsten Wahlergebnisse der nationalen Parlamentswahlen in verschiedenen europäischen Ländern ein, wie den Wahlerfolg der Labour-Partei in Großbritannien und den Aufstieg der PS in Frankreich. Paul Nemitz kritisiert die national geprägte Perspektive auf die EU-Wahlen und die fehlende Führungskraft innerhalb der Europäischen Sozialdemokratischen Partei (SPE). Aus seiner Sicht braucht die SPE neue Strukturen und mehr Engagement, um in Zukunft tiefgehende und umfassende Politikkonzepte für Europa und damit eine größere Attraktivität in künftigen Wahlkämpfen zu entwickeln.

Timo Grunden widerspricht in seinem Beitrag der These, dass der Niedergang der SPD aufgrund des sozialen und wirtschaftlichen Strukturwandels und der damit verbundenen Auflösung sozialdemokratischer Milieus unvermeidlich sei. Stattdessen seien die Wahlniederlagen bzw. schwachen Ergebnisse der Partei Ausdruck von politischen Fehlentscheidungenpolitische der SPD, die zu einem Verdruss ihrer Wählerinnen und Wähler geführt habe. Die Niederlage der SPD bei der Europawahl 2024 war daher kein unvermeidliches Schicksal, sondern das Ergebnis politischer Weichenstellungen, die in Zukunft durch einen Kurswechsel und eine inspirierende Kommunikation neu zu justieren sind.

Konstantin Vössing macht in seinem Beitrag die nicht zu Ende erzählte Geschichte, insbesondere die fehlende Verbindung konkreter Maßnahmen mit Werten als zentrale Schwachstelle der europapolitischen Erzählung der SPD aus.

Dominika Biegon und Livia Hentschel ordnen die Ergebnisse der Europawahl aus gewerkschaftlicher Sicht ein. Bei aller Vorsicht im Angesicht der neuen machtpolitischen Verhältnisse gehen beide davon aus, dass gewerkschaftliche Forderungen etwa beim Arbeitsschutz oder bei der Mitbestimmung nun schwieriger in konkrete Regulierungsvorhaben gegossen werden dürften.

Matthias Ecke, MdEP aus Sachsen, schließt aus dem Wahlergebnis u.a., die europäische Sozialdemokratie müsse physische und soziale Sicherheit stärken und zugleich die staatliche Handlungsfähigkeit gegenüber Krisen und destruktiven Akteuren sicherstellen – auch als Voraussetzung für die individuelle Handlungsfähigkeit der Einzelnen.

Welchen Herausforderungen, Chancen und Aufgaben sich progressive Kräfte in Europa jetzt stellen müssen, beschreibt Rachid Khenissi aus der Sicht der „Young European Socialists (YES)“. Er plädiert für eine Umverteilungspolitik, die auf die Probleme von jungen Menschen eingeht. Dafür müssen die progressiven Kräfte aus seiner Sicht eine linke Vision für die Europäische Union entwickeln. Gleichzeitig werden von Khenissi die Gefahren des Zugewinns rechter Kräfte in Europa und der Kooperation von konservativen Parteien mit eben diesen aufgezeigt.

Andreas Fisahn befürchtet einen konservativen Rollback nach den Europawahlen. Trotz der marktliberalen Schlagseite der europäischen Verträge sei in den letzten Jahren ein progressiver Spurwechsel wahrnehmbar gewesen. Als herausragende Beispiele nennt er den schuldenfinanzierten Corona-Aufbaufonds, den „Green New Deal“ oder die flexiblere Handhabung der Verschuldungsregeln. Aktuell zeichne sich aber als weiterer Schwerpunkt eine Stärkung der Rüstungsindustrie ab – eine ökologische Transformation und ein neuer Rüstungswettlauf schlössen sich inhaltlich aber aus. Die Chancen, dass die EU den Pfad einer ökologisch-sozialen Transformation weiter beschreitet, sind nach Fisahn schlecht, weil insbesondere die Klimaschutz-Interessen in die Defensive geraten seien.