Heft 260 – 03/2024
Sind die Linksparteien in Frankreich bereit für die Regierungsverantwortung?
#analyse #spw

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Elisabeth Humbert-Dorfmüller, ist Schatzmeisterin und Koordinatorin der Beobachtungsstelle der Europäischen Linken (eurocite.eu). Sie ist Mitglied der SPD (Ko-Sprecherin der SPD International: spdinternational. de) und der PS (vormals Mitglied des Internationalen Sekretariats). Außerdem ist sie Unternehmensberaterin (Geschäftsführende Gesellschafterin bei SEE Conseil). Sie lebt und arbeitet seit vierzig Jahren in Frankreich.
von Elisabeth HUmbert-Dorfmüller
Das Jahr 2024 war für die Franzosen aufregender, als man es noch 2022 bei der Wiederwahl von Emmanuel Macron hätte vermuten können.
Bei den Europawahlen im Juni schaffte es das rechtsextreme Rassemblement National (RN) erneut, das größte Lager zu werden, was zwar schon 2019 der Fall gewesen war, allerdings legte es um 8 Prozentpunkte zu (und kam auf 31 Prozent, im Vergleich zu 23 Prozent im Jahr 2019). Daraufhin verkündete Präsident Macron die Auflösung des Parlamentes (der Nationalversammlung), ein gänzlich unerwarteter und unangekündigter Schachzug. Entsprechend groß war die Verwirrung, nur einige Wochen vor den Pariser Olympischen Spielen.
Das Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahlen in zwei Wahlgängen Ende Juni/Anfang Juli war ebenfalls eine Überraschung: obwohl das Wahlrecht (2 Wahlgänge, wenn kein Kandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält, anschließend nur noch die Kandidaten, die 12,5 Prozent der Wahlberechtigten erreicht haben) kompliziert ist und Umfrageergebnisse erschwert, rechneten die meisten damit, dass das RN das größte Lager wird. Es wurde aber nur das drittstärkste Lager! Das passierte, weil die anderen beiden großen Lager (das linke und das Zentrums-Lager) sich jeweils vom zweiten Wahlgang zugunsten des anderen zurückzogen, wenn die Wahl eines RN-Kandidaten drohte. Diese „Republikanische Front“ war auch schon in der Vergangenheit erfolgreich um eine rechtsextreme Mehrheit zu verhindern.
Im Anschluss stand somit fest, dass niemand über eine absolute Mehrheit verfügt.
Obwohl der nächste logische Schritt gewesen wäre, dass die komplette Regierung zurücktritt, entschied Präsident Macron, dass alle seine Minister, inklusive des Premierministers Gabriel Attal kommissarisch im Amt verbleiben, auch und insbesondere um die Olympischen Spiele reibungslos durchzuführen. Diese verliefen sehr gut (auch unter Aspekten der inneren Sicherheit) und wurden somit als Erfolg für die Attal-Regierung verbucht.
Da im Parlament keines der Lager über eine absolute Mehrheit verfügt, hat trotzdem sofort das Geschacher begonnen. Schauen wir uns zunächst die Wahlergebnisse im Detail an.
Das linke Lager, in der gleichen Zusammensetzung wie 2022, nur mit einem anderen Namen, ist bei den Neuwahlen im Juni/Juli 2024 das größte Lager geworden – wahrlich ein Erfolg, der ebenfalls so von fast niemandem erwartet wurde. Zuerst zum Namen: „Nouveau Front Populaire“ (Neue Volksfront) ist an Anlehnung an den „Front Populaire“ benannt worden, der ersten Linksregierung des 20. Jahrhunderts, zwischen 1936 und 1938. Damals legte der Premierminister Léon Blum den Grundstein des Sozialstaates, mit grundlegenden Reformen, unter anderem der Einführung von bezahltem Betriebsurlaub mit ermäßigten Bahnfahrten für Arbeiter, Reduzierung der Arbeitszeit auf 40 Wochenstunden sowie Erhöhung der Gehälter und Stärkung der Gewerkschaften.
Der Name ist somit sehr positiv behaftet, denn selbst wenn der Front Populaire der 30er Jahre nur zwei Jahre regieren konnte, und die mühsam zusammengezimmerte Allianz der Linksparteien wieder auseinanderbrach, blieben die meisten Reformen oder wurden nach dem Zweiten Weltkrieg widerstandslos reaktiviert.
Die Allianz, die sich 2024 aufgemacht hat, um die Mehrheit in der Nationalversammlung zu erlangen, lehnt sich also an ein historisches Beispiel an.
Nun zum Wahlergebnis: die linke Allianz hatte zwei Jahre zuvor (mit dem Namen „NUPES“, aber in genau der gleichen Zusammensetzung) 151 (von 577) Sitzen erlangt; 2024 kann der „Nouveau Front Populaire“ oder NFP sich über 178 Sitze freuen. Das interne Kräfteverhältnis hat sich leicht verschoben: LFI1 (Unbeugsames Frankreich) bleibt das stärkste Element und bleibt fast stabil, von 75 (2022) auf 72 (2024) Abgeordnete. Zweitstärkste Kraft bleibt die Sozialistische Partei (Parti Socialiste), mit 66 Sitzen ist das mehr als eine Verdopplung der Sitze (es waren 2022 nur 31 Abgeordnete). Die Grünen (Ecologiste et Social) haben ihre Sitze von 23 auf 38 erhöhen können. Die Fraktion „Gauche democrate et républicaine“, die insbesondere aus der Kommunistischen Partei Frankreichs besteht (PCF) verliert leicht, von 22 (2022) auf 17 (2024) Sitze. Hierbei ist hervorzuheben, dass der Parteichef der PCF, Fabien Roussel, sein Mandat 2024 an einen Kandidaten des rechtsextremen Rassemblement National verloren hat.
Aber obwohl die linke Allianz das stärkste Lager geworden ist, macht sie nur knappe 31 Prozent der Sitze aus. Wäre sie koalitionsfähig, wäre das unproblematisch: Emmanuel Macron würde eine herausgehobene Persönlichkeit aus diesem Lager zum nächsten Premierminister und Chef der parlamentarischen Mehrheit ernennen, mit der Aufgabe, eine Koalition mit den anderen Kräften zu schmieden.
Nur ist Frankreich solche lagerübergreifenden Koalitionen nicht gewöhnt. Die 1958 von Charles De Gaulle eingeführte Verfassung erlaubt dies durchaus: zwar dominiert in dieser Verfassung das Mehrheitswahlrecht, aber Koalitionen sind rein technisch denkbar. Wer aber an die monatelangen Koalitionsverhandlungen z.B. der Ampel in Deutschland im Herbst 2021 denkt, kann schon ahnen, dass dieses Prozedere ohne jahrzehntelange „Koalitionskultur“ nicht einfach so übernommen werden kann. So verkündete Jean- Luc Mélenchon, der Übervater von LFI, schon am Abend des zweiten Wahlganges (7. Juli): „Wir haben gewonnen und wir werden unser Programm, und zwar ausschließlich unser Programm durchziehen“. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass er sich nicht nur als Leader von LFI, sondern auch als Leader der Allianz NFP versteht, selbst wenn LFI innerhalb der Allianz nicht die Mehrheit darstellt. Das sehen natürlich nicht alle so. Die Parti Socialiste ist zwar nur Zweite in dieser Allianz, hat aber den größten Zuwachs an Sitzen. Nicht zu vergessen ist auch die Performance der Parti Socialiste einen Monat zuvor bei den Europawahlen: mit ihrem Spitzenkandidaten Raphaël Glucksmann, der eine klar sozialdemokratische Linie verfolgt, schaffte es die PS alleine auf Platz drei (mit 13,8 Prozent), wohingegen LFI Platz vier einnahm (mit 9,9 Prozent). Anders gesagt: die PS performt alleine besser als in Allianz mit LFI.
In den anschließenden zwei Wochen werden verschiedene Optionen für einen linken Premierminister geprüft und wieder verworfen. Die einen passen LFI nicht, die anderen der PS. Unter anderem werden beide Parteichefs, Jean-Luc Mélenchon für LFI und Olivier Faure für die PS, vorgeschlagen und von der jeweils anderen Partei abgelehnt. Die Grünen und die Kommunisten halten sich dabei weitgehend heraus. Ein erster Rückschlag kommt bei der Wahl zum Parlamentspräsidenten: gewählt wird im dritten Wahlgang Yaël Braun-Pivet, aus dem Zentrums-Lager, die bereits den gleichen Posten 2022 – 2024 innehatte. Der ihr unterlegene Kandidat der linken Allianz heißt André Chassaigne, ein Kommunist mit langjähriger Parlamentserfahrung. Wahrscheinlich nicht der Richtige, um das bürgerliche Lager zu erwärmen, das für eine Mehrheit nötig war. Wäre ein parlamentserfahrener Sozialdemokrat oder ein moderater Grüner erfolgreicher gewesen? Durchaus möglich.
Unter dem Strich kann man sagen, dass das Zentrums-Lager und die Bürgerlichen (Les Républicains) zwar zusammen keine Mehrheit haben (ihnen fehlen ca. 80 Stimmen dazu), aber im Großen und Ganzen das Geschehen der Nationalversammlung zusammen bestimmen können. Laurent Wauquiez, der scharfzüngige Vorsitzende der Fraktion der Républicains, hat bereits einen „legislativen Pakt“ angekündigt, den er aber auf keinen Fall als Koalition mit dem Zentrum verstanden wissen will.
Unter diesen Umständen hat Emmanuel Macron dann auch den Namen der Kandidatin, die die linke Allianz nach zwei Wochen Beratungen als Premierministerin vorgeschlagen hat, quasi ignoriert. Es handelt sich um Lucie Castets, eine gänzlich unbekannte Finanzbeamtin der Stadt Paris, die sich politisch engagierte, als sie eine Vereinigung zur Rehabilitierung der öffentlichen Dienstleistungen gründete.
Lucie Castets hat zwar anfangs die Mélenchon- Rhetorik übernommen („ausschließlich unser Programm“), hat aber nach einigen Wochen die Hand in Richtung der anderen Lager ausgestreckt. In einem Brief an alle Parlamentarier (außer an die des RN) am Tag nach Olympia definiert sie Prioritäten für die Zukunft: mehr Kaufkraft, mehr Ökologie, mehr Gesundheit sowie eine neue Arbeitsweise für das Parlament, das bei Gesetzesvorhaben anfänglich stärker Elemente der Zivilgesellschaft (u.a. Gewerkschaften) einbinden soll.
Kaufkraft, Ökologie und Gesundheit sind wahrscheinlich auch Prioritäten für Wähler des Zentrums- und des bürgerlichen Lagers. Der Weg dahin wird aber unterschiedlich sein. Genauso wie es auch bei der Ampel in Deutschland regelmäßig knirscht, wäre eine Minderheitsregierung in Frankreich unter der linken Allianz eine ständige Auseinandersetzung, mit dem zusätzlichen Risiko auseinanderzufallen.
Und so hat der Präsident Macron einen Premier Minister ernannt, der zum „legislativen Pakt“ des Zentrums mit den Républicains passt. Darf er das überhaupt? Er darf. Artikel 8 der Verfassung sagt lediglich, dass der Präsident den Premierminister ernennt, kein Wort mehr. Natürlich ist es Usus, dass der Premierminister über eine Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt – wenn es denn eine Mehrheit gibt. Die Argumentation von Macron ist vermutlich, dass eine Persönlichkeit aus der Mitte des Gravitationszentrums der politischen Ausrichtung des Parlamentes es eher schaffen wird, sich Mehrheiten für Gesetzestexte zusammenzuzimmern.
Der neue Premier Minister Michel Barnier ist ein alter Hase der französischen Politik: Abgeordneter, Minister unter Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy, Europa-Kommissar und zuletzt Chefverhandler der Europäischen Kommission beim Brexit. Die Idee ist, die Républicains (aus denen er stammt) und das Zentrum zu einer halbwegs stabilen Allianz zusammenzuführen. Das große Problem dabei ist, dass die rechtsextreme RN ihre stillschweigende Unterstützung zugesagt hat – solange sie sich nicht zu sehr auf die Füße getreten fühlt. Ethisch ist das nicht, den der Wähler hat ja gerade durch die „republikanische Front“ seine mehrheitliche Ablehnung des Mitspracherechtes des RN ausgedrückt. Es ist wohl eher als eine Überlebensgarantie für Macron bis 2027 zu verstehen – denn von Rücktritt will er selbstverständlich nichts wissen.
Und was passiert nun mit der linken Allianz? Diese muss die Gelegenheit nutzen, in diesem Kontext eine intelligente Opposition zu führen: durchaus mit einer gewissen Diversität, aber mit dem Willen, die richtigen Akzente zu setzen. Gegen alles zu opponieren wäre eine gefährliche Falle, die nicht von Fähigkeit zur Regierungsverantwortung zeugt. Schwierig wird auch die Vermeidung von thematischen Konvergenzen mit dem RN. Die Wiederherabsetzung des Renteneintrittsalters von 64 auf 62 (und unter gewissen Umständen sogar 60 Jahre) stand im Programm sowohl der NFP, als auch des RN. In den Umfragen ist dieser Punkt sehr populär, aber sowohl das Zentrum als auch die Républicains sind dagegen. Bei einer parlamentarischen Abstimmung dazu muss die NFP den Abstand zu den Rechtsextremen wahren oder zumindest deutlich machen.
Ein Thema, in dem die linke Allianz punkten könnte, ist die Erhöhung des Mindestlohns auf 1.600 Euro netto (was so in ihrem Programm stand). Dieser liegt zurzeit bei knappen 1.400 Euro, und eine Erhöhung um 14 Prozent ist vielen Unternehmen zuzutrauen. Diese Maßnahme belastet auch nicht allzu sehr den öffentlichen Haushalt, der wie allseits bekannt, mit einer hohen Schuldenquote (110 Prozent des BIPs) zu kämpfen hat. Zwischen populär und verantwortlich ist das Spannungsfeld, auf dem eine linke Allianz die kommenden Präsidentschaftswahlen (2027) vorbereiten sollte.