Heft262 – 01/2025
Rezension: Mit Heller gegen Ungleichheit und für die Republik
#kultur #kritik #spw
Robert von Olberg ist Politikwissenschaftler und lebt in Münster.
von Robert von Olberg
Thilo Scholle
Hermann Heller. Begründer des sozialen Rechtsstaats.
Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2023
114 Seiten, ISBN: 978-95565-531-0, 10,90 Euro
Thilo Scholle / Mike Schmeitzner (Hrsg.)
Hermann Heller, die Weimarer Demokratie und der soziale Rechtsstaat.
J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2024
200 Seiten, ISBN: 978-3-8012-4291-6, 36 Euro
Zahlreiche Neuerscheinungen fragen nicht nur angesichts des Erstarkens der politischen Rechten derzeit nach den Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik und des Erfolgs des Nationalsozialismus. Wer die beiden zuletzt erschienenen Veröffentlichungen über den 1891 geborenen und 1933 im spanischen Exil verstorbenen sozialdemokratischen Staatsrechtslehrer Hermann Heller liest, dem steht eine Antwort auf diese Frage mit Heller deutlich vor Augen: es ist der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und demokratiegefährdenden Einstellungen.
Heller trat etwa ab 1920 als reger Teilnehmer öffentlicher Debatten über die Verfassung der jungen Weimarer Republik in Erscheinung. Ihn beschäftigte in seinen Beiträgen vor allem die Frage nach dem tatsächlichen gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer demokratischen Ordnung. Seinem Verständnis nach drücken sich im Staat die gesellschaftlichen Widersprüche aus und fungiert er zugleich als Selbstorganisation von Gesellschaft. Sein Blick richtete sich auf die Wechselbeziehungen von Sozial- und Verfassungsstruktur. In der Weimarer Verfassung erkannte er eine wenigstens potenzielle Offenheit hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.
Doch beschränkte Heller sich nicht auf Beiträge zur Theoriediskussion, sondern engagierte sich als „eingreifender Intellektueller“ (Scholle, S. 99) auch selbst. Ab 1923 war er aktiv im Hofgeismarer Kreis der Jungsozialisten. Als Verfechter des Konzepts der Volkshochschulen gründete er in Leipzig die Schule der Arbeit mit, mit der er darauf zielte, die Grundlagen für eine demokratische Veränderung der kapitalistischen Produktion zu legen. Der demokratisch-soziale Wohlfahrtsstaat, so seine Überzeugung, müsse sich durch eine gerechtere Ordnung des Wirtschaftslebens und damit verbunden eine weitgehende Beschränkung des Privateigentums auszeichnen.
1928 wurde Heller außerplanmäßiger Professor für öffentliches Recht an der Universität Berlin, gegen den Widerstand des Großteils der Professorenschaft. 1932 erhielt er eine ordentliche Professur in Frankfurt am Main, erneut durchgesetzt gegen kollegialen Widerstand. Zuvor hatte er sich auch mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich Nationalstaat und Sozialismus unter Rückgriff auf Hegel zu nationaler Macht verbinden ließen. Er wandte sich gegen die populärer werdende Rassentheorie und vertrat stattdessen die Idee, dass sich Gemeinschaft durch gemeinsamen Kulturbesitz konstituiere. Vorbehalte hatte er im Widerspruch zu seiner SPD-Mitgliedschaft gegen den Internationalismus und den historischen Materialismus. Dass solche Schlagworte auch das Interesse für eine Rezeption auf der politischen Rechten wecken können, ist vorstellbar. Sein Konzept der Gemeinschaft verstand Heller jedoch nicht als exklusiv für die „Mitgeborenen“ einer Gemeinschaft, sondern als grundsätzlich offen auch für die Integration „Fremdgeborener“.
Dass sich Heller früh als präziser Analytiker des aufkommenden Faschismus, auch als Mahner vor den Ideen seines Fachkollegen Carl Schmitt, zudem er dennoch freundlichen Kontakt hatte, erwies, mag der Teil sein, den heutige Rechte in ihrer Beschäftigung mit ihm wohl bewusst ausblenden. Denn auffällig ist, dass die „kleine Heller-Renaissance“ (Schmeitzner/Scholle, S. 12), die die Herausgeber des im vergangenen Jahr erschienenen Tagungsbands in den vergangenen etwa zehn Jahren erkennen, auch Ableger im neurechten Milieu hat. So veröffentlichte 2019 der Verlag Jungeuropa des Aktivisten der Neuen Rechten, Philip Stein, Hellers erstmals 1925 erschienenes Werk „Sozialismus und Nation“ in Neuauflage.
Dass Hellers Werk und Wirken nicht frei von Ambivalenzen ist, belegt auch das von Thilo Scholle in seiner in der traditionsreichen Reihe „Jüdische Miniaturen“ 2023 erschienenen Biografie angeführte Zitat des bekannten Verfassungsrechtlers und Rechtsphilosophen Christoph Möllers, wonach Heller wohl „zugleich der politisch meist-geliebte und der juristisch-praktisch einflussloseste Weimarer Staatsrechtler in der rechtsstaatlichen Rezeption der Bundesrepublik“ war. Angesprochen ist damit zugleich ein Aspekt, der in diesem Bändchen ein wenig zu kurz kommt: die Frage nach den Anknüpfungspunkten heutiger oder zunächst einmal früh-bundesrepublikanischer Staats- und Verfassungsdiskurse. Hier bleibt Scholle aufgrund des Formats der biografischen Miniatur allenfalls Raum für Stichworte und wenige Namen.
Eingehender befasst sich hiermit hingegen der von Scholle gemeinsam mit Mike Schmeitzner herausgegebene Sammelband. Und auch er weiß um die Interpretationsfähigkeit mancher der Heller´schen Thesen und ihrer Anfälligkeit für Diskreditierung. Selbstbewusst geben sie daher den Anspruch aus, „Leerstellen und Fehlurteile“ sowie „nicht wenige Ambivalenzen“ Hellers (S. 17) in den Beiträgen des Bandes aufzuzeigen, zugleich aber einem breiten Publikum zugänglich zu bleiben, so wie dies Scholles schmales biografisches, gut lesbares, quellenreiches und anschaulich bebildertes Bändchen bereits ist.
Fällt darin Scholles Fazit, wie sich Hellers Gedanke von den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen der Demokratie für heutige Diskussionen um zunehmende Demokratiefeindlichkeit nutzbar machen ließe, noch knapp, aber dennoch präzise aus, nämlich in der These, „dass eine republikanische Ordnung ihre gesellschaftliche Unterstützung verliert, wenn zu große Teile der Gesellschaft keine Möglichkeit mehr erkennen, ihre Interessen ernsthaft in die Diskussionen einbringen zu können“ (S. 100), so ist dies der rote Faden, der sich durch die Beiträge des neueren Sammelbands zieht.
Ebenso stringent nehmen die Autorinnen und Autoren in den einzelnen Beiträgen aber auch Stellung zu Vereinnahmungs- und Umdeutungsversuchen Heller´scher Thesen durch weniger wohlwollende oder gar rechte Interpreten. Herausgeber Schmeitzner hält so etwa dem Verdacht, Heller habe sich mit seinem Bekenntnis zum „autoritären Staat“ selbst rechtsautoritäres Denken zu eigen gemacht, entgegen, ihm sei es mit diesem Begriff „vor allem um die ‚autoritäre Überordnung‘ des Staates über die Wirtschaft“ gegangen (S. 99). Frank Schale bescheinigt Heller zwar die Verwendung von „ungenügend aufgeklärten Begriffen ‚Nation‘, ‚Kultur‘, ‚Bildung‘ und ‚Sozialismus‘“, hält rechten Verdächtigungen aber Hellers „politisches Engagement für die demokratische Republik“ entgegen (S. 126).
Einen besonders anschaulichen Gegenwartsbezug stellt Cara Röhner in ihrem Beitrag her, wenn sie zur gegenwärtigen sozialen Frage der Wohnungspolitik Stellung bezieht, dabei aber auch Befunde sinkender Wahlbeteiligung erklärt, indem sie mit Heller feststellt, dass „es mehr als eine formale Demokratie“ brauche, nämlich „eine demokratische Kultur, die über die formale Wahl hinausgeht und eine nachhaltige, überzeugt demokratische Haltung umfasst“ (S. 154). Damit nimmt sie Bezug auch auf Hellers Begriff von „sozialer Homogenität“.
Daran, dass Gegenwartsbezüge bei Schriften, die wie Hellers 100 Jahre alt sind, jedoch auch einer gewissen Begrenztheit unterliegen, erinnert Gertrude Lübbe-Wolff im Interview, das den Abschluss des Sammelbands bildet. Diese Grenzen benennt sie etwa mit dem Grad der Globalisierung und Standortkonkurrenz heute, dem vergleichsweise neuen Phänomen supranationaler Organisationen wie der EU, dem relativen Machtverlust der öffentlichen Gewalt beispielsweise gegenüber den Finanzmärkten und der Digitalisierung (S. 193).
Für ein Porträt unter dem Reihentitel „Jüdische Miniaturen“ kommt in Scholles Biografie die Bedeutung der eigenen jüdischen Identität für Heller recht kurz. Über das Verbot seiner Bücher unter dem NS-Regime hinaus, seinen frühen Weg ins Exil und das Schicksal seiner außerehelichen Tochter mit der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, die Theresienstadt und Auschwitz überlebte, spielt dieser Aspekt in der kompakten Biografie keine Rolle.
Das Verdienst der Veröffentlichungen Scholles und Schmeitzners ist es zweifelsohne erneut (so schrieb Scholle beispielsweise bereits die „Jüdischen Miniaturen“ zu Paul Levi und Hugo Haase), die Erinnerung an einen Klassiker sozialistischen Denkens auch für heutige Leserinnen und Leser zugänglich und wach zu halten.