Heft 258 – 01/2024

Rezension: Klassenanalysen

#kultur #kritik #spw

Thilo Scholle ist Mitglied der spw-Redaktion, Jurist und lebt in Lünen.

von Thilo Scholle

Mario Candeias (Hg.)
Klassentheorie
Vom Making und Remaking
Argument Verlag, Hamburg 2021
554 Seiten, 20 €

Jakob Frag/Kim Lucht/John Lütten (Hg.)
Die Wiederkehr der Klassen
Theorien, Analysen, Kontroversen
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2022
232 Seiten, 30 €

Enno Stahl/Klaus Kock/Hanneliese Palm/ Ingar Solty (Hg.)
Literatur in der neuen Klassengesellschaft
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2020
300 Seiten, 42,90 €

Die Frage, wie sich gesellschaftliche Schichtungen mit Blick auf sozioökonomische oder ggf. weitere Spaltungslinien verhalten, gehört zu den zentralen Themen für linke Politikentwicklung.

Einen mit 554 Seiten ausgesprochen umfangreichen „Reader“ zum Thema Klassentheorie stellt der gleichnamige von Mario Candeias vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebene Sammelband dar. Der Untertitel „Vom Making und Remaking“ gibt zugleich eine inhaltliche Richtung vor – Herausgeber und Autor*innen des Bandes gehen weder von einfach so für sich noch von überzeitlich existierenden Klassen aus, sondern sehen die Bildung von Klassen als einen immer wieder neu entstehenden Prozess, der sich zudem nicht einfach aus ökonomischen Entwicklungen ableiten lässt. Die im Band enthaltenen 27 Texte sind überwiegend bereits an anderer Stelle erschienen und bestehen teils auch aus Buchauszügen. Gegliedert ist der Band in die Abschnitte „Die Grundlegung bei Marx und Engels“, „Das Making of “, „‘Rasse‘ und Klasse“, „Struktur, Reproduktion, Widerstand“, „Geschlecht und Klasse“, „ReMaking: Transnationalisierung und Prekarisierung der Klasse“ sowie „Verbindende Klassenpolitik“. In seiner Einleitung hält Mario Candeias zunächst fest, die Grundlage von Klassenbildungsprozessen sei nach wie vor vorhanden. Dies sage jedoch nichts über die konkrete Zusammensetzung von Klassen aus. Die Klasse der Lohnabhängigen sei vielfältig differenziert. Prozesse der Ausdifferenzierung fänden auf mindestens drei Feldern statt: dem ökonomischen Feld – spezifischer der Teilung und Organisation der Arbeit (einschließlich der betrieblichen, gesellschaftlichen und geschlechtlichen Arbeitsteilung), dem alltagskulturellen Feld und dem politischen Feld der Assoziation bzw. Organisation der Klasse. Ein „Hauptwiderspruch“ ist schwer zu bestimmen, so könne es sein, dass in einer konkreten geschichtlichen Situation in der direkten Konfrontation von Kapital und Arbeit im Betrieb politisch keine Dynamik mehr existiere, systemische Herausforderungen aber sehr wohl in der Wohnungs- oder etwa der Klimafrage bestünden. Es gebe daher nicht den einen Punkt, an dem die Herrschaft im Kern getroffen werden könne. Als politische Perspektive bietet Candeias das – in Teilen der Linkspartei diskutierte – Konzept einer „verbindenden sozialistischen Klassenpolitik“ an. Die „sozialistische Perspektive“ könne hier eine Verbindung aus kurzfristig erreichbaren Zielen mit einer Perspektive über die bestehende Ordnung hinaus schaffen.

Als Grundlagentexte eröffnen zwei Beiträge von Michael Vester und Stuart Hall den Band. Vester macht dabei insbesondere mit Blick auf E.P. Thompson die historische Bedingtheit von Klassen und die Tatsache, dass Klassen nicht einfach vorgefunden werden können, sondern durch gesellschaftliche Prozesse entstehen und dabei beeinflussbar seien, deutlich. Thompson selbst kommt später auch durch Auszüge aus dem Band „Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse“ zu Wort. Beachtenswert sind u.a. auch die Texte von Stuart Hall und Etienne Balibar zum Thema „Rasse“, die sich als gute Alternative zu manchen auf Theorien von „critical whiteness“ beruhenden aktuellen Ansätzen lesen lassen. Rassismus sei nicht unter Abstraktion sozialer Verhältnisse zu erklären, sondern ein Phänomen, das immer wieder in seinem jeweiligen historischen Kontext neu analysiert werden muss. Ein längerer Auszug aus einem Text von Alex Demirovic stellt Nicos Poulantzas Vorstellung vom Staat als „instabiles Kompromissgleichgewicht“ von Klassen vor. Eher knapp fallen die Beiträge etwa im Abschnitt „ReMaking: Transnationalisierung und Prekarisierung der Klasse“ aus, in dem etwa Auszüge aus Didier Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“ enthalten sind, sowie zwei Beträge, die sich mit Fragen der Klassenbildung im digitalen Kapitalismus auseinandersetzen. Transnational meint hier die digitalen Vernetzungen, allerdings ist die Diskussion hier in der Tat noch sehr am Anfang. Abgeschlossen wird der Band mit einem Text von Klaus Dörre und „20 Thesen für eine demokratische Klassenpolitik“. Eine „zeitgemäße Klassentheorie“ müsse dabei von einer „begrenzten Pluralität sozialstrukturell relevanter Kausalmechanismen“ ausgehen. Zu diesen Mechanismen gehörten vertraglich auf Äquivalententausch beruhende Ausbeutung (Marx), sekundäre Ausbeutung, die aus ungleichem Tausch, äußerökonomischem Zwang und Dominanz resultiert, soziale Schließung, bürokratische Kontrollmacht, Enteignung unter anderem von Gemeineigentum und öffentlichen Gütern, Distinktion einschließlich bewusster Auf- und Abwertungen sozialer Gruppen.

Anspruch des Bandes ist erklärtermaßen nicht, alle denkbaren aktuell spannenden klassetheoretischen Ansätze in einem Band zu sammeln. Mit Blick auf sich stetig ausdifferenzierende Diskussionsstränge erscheint dies auch kaum möglich. Auf überzeugende Weise verbindendes Element der meisten Beiträge ist die Koppelung einer Einordung der jeweiligen Stellung von Menschen innerhalb einer kapitalistischen Ökonomie mit der Suche nach weiteren für die jeweilige Klassenbildung relevanten gesellschaftlichen Faktoren.

Aus dem Umfeld von Klaus Dörre an der Universität Jena mit dem „Projekt Klassenanalyse“ stammen auch die Herausgeber*innen des Bandes „Die Wiederkehr der Klassen“. Wie die Herausgeber*innen in ihrer Einleitung festhalten, handelt es sich nicht um gesellschaftliche Ungleichheits-, sondern um gesellschaftliche Klassenverhältnisse. Die im Band versammelten Beiträge eint ein primär sozioökonomisch fundierter Klassenbegriff, „der Klassen entlang vertikaler Kausalbeziehungen von Herrschaft, Ausbeutung sowie der antagonistischen Aneignung von ökologischen Ressourcen fasst“. Erfasst werden müssten zugleich Konfliktlinien durch Geschlechterverhältnisse und Rassismus in ihrer relativen Eigenständigkeit. Der Band versammelt im folgenden sechs durchweg gelungene Beiträge.

Kim Lucht, Livia Schubert, Lena Reichardt, Greta Hartmann und Sophie Bose widmen sich der „Aktualität feministischer Klassentheorie- und Politik“. Ihnen geht es um eine Verschränkung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen. Es geht um den Zusammenhang von Produktions- und Reproduktionssphäre. Janina Puder und Genevieve Schreiber nehmen sich „Klasse im Kontext von Rassismus“ vor. Beide gehen davon aus, dass Rassismus nicht nur eine ökonomische Struktur habe, sondern daneben auch eine politische und ideologische Dimension besitze. Rassismus wurde nicht durch den Kapitalismus hervorgebracht, sondern in diesen integriert. Hans Rackwitz widmet sich dem ökologischen Gesellschaftskonflikt als Klassenfrage. Zentral ist die Untersuchung des Verhältnisses von Klassen- und Naturverhältnissen. „Die Ausbeutung der Lohnarbeit und die systematische Produktion ökologischer Gefährdungen fallen in ihrem Ursprung im als Klassenherrschaft verstandenen Kapitalverhältnis zusammen.“ Eine Perspektive „globaler Norden“ gegen „globaler Süden“ versperre den Blick auf die sozialen Spaltungen innerhalb der Länder. Die drei weiteren Beiträge widmen sich der Klassentheorie in der „Kritischen Theorie“, Klassenverhältnissen und Prekarisierung sowie Klassenverhältnissen im internationalen Kontext.

Das von den Herausgeber*innen eingangs skizzierte Konzept der Klassenanalyse halten die Beiträge durchweg durch: Sozioökonomische gesellschaftliche Spaltungslinien werden nicht einfach abstrakt weiteren Konfliktlinien etwa im Bereich der Ökologie an die Seite gestellt, sondern ernsthaft mit Blick auf die gegenseitigen Bezüge eingeordnet. Diese Herangehensweise kann im Ergebnis auch für Fragen der gesellschaftlichen und politischen Allianzbildung wichtige Hinweise geben, etwa mit Blick darauf wie sich soziale und ökologische Sorgen politisch miteinander verbinden statt gegeneinander ausspielen lassen könnten.

Mit der „Literatur in der neuen Klassengesellschaft“ widmete sich das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut auf einer Tagung im Jahr 2018 einem spannenden Thema, deren Vorträge und Diskussionsbeiträge nun in einem lesenswerten Sammelband vorliegen. Die Beiträge im Band sind dabei auf zwei große Abschnitte verteilt. Teil 1 thematisiert unter der Überschrift „Von der alten zur neuen Klassengesellschaft“ vor allem historische Fragen. Enthalten ist etwa ein Beitrag zu Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopie bei Heinrich Mann und Alfred Döblin von Norbert Niemann, ein Text von Enno Stahl zu Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“, von Stefan Schmitzer zu Pier Paolo Pasolini sowie von David Salomon zu „neoliberalen Rebellen“ in Werken von Michel Houellebecq sowie von Bret Easton Ellis. In einem zweiten Teil des Abschnitts stellt u.a. Klaus Dörre seine auch an anderen Stellen ausgearbeiteten Überlegungen zur „demobilisierten Klassengesellschaft“ vor. Der zweite große Abschnitt des Bandes ist „speziellen Widersprüchen in der ausdifferenzierten Gesellschaft“ gewidmet. Enthalten sind hier überwiegend soziologisch grundierte Beiträge, etwa von Hannes Schammann zu „Arenen der Migrationsdebatte“ sowie von Thomas Wagner zur „Kulturarbeit der neuen Rechten“. Ingar Solty mustert in seinem Text in den letzten Jahren erschienene Belletristik aus dem Bereich „Literatur der Migration“. Im Anschluss an die einzelnen Abschnitte sind zudem Wortmeldungen aus der jeweiligen Publikumsdiskussion abgedruckt. Eingeleitet wird der Band mit einem Überblicksartikel zu „Literatur in der neuen Klassengesellschaft“ von Ingar Solty und Enno Stahl, einem Text von Hans-Jürgen Urban zu „Klassenpolitik und Literatur“ sowie einer Podiumsdiskussion u.a. mit Klaus Dörre und Raul Zelik zum Thema „Soziale Klassen und Literatur?“

Ein klarer roter Faden entwickelt sich im Band nicht. Geschuldet ist dies in erster Linie der Fragestellung selbst: Die „neue Klassengesellschaft“ ist kein feststehender Begriff, dem sich nun leichterhand aktuelle literarische Texte zuordnen lassen könnten. Anders als bei der die historischen Bezüge des Fritz-Hüser- Instituts bildenden Idee der „Literatur der Arbeitswelt“ sind noch kaum erkennbare neue Milieus entstanden, die entsprechend literarisch spiegeln und verarbeiten lassen. In einer Wortmeldung im Band wird denn etwa auch vermerkt, dass vielleicht die Gruppe der „Rider“ bei Lieferdiensten für literarische Beobachtungen interessant sein könnte – zugleich aber vermutlich die dort tätigen Personen jenseits ihrer Arbeit in völlig unterschiedlichen lebensweltlichen Bezügen anzutreffen wären. So trägt der Band im Ergebnis durchaus einzelne Elemente und Ansätze zusammen, die eine erste Etappe bei einer noch weiterzuentwickelnden Debatte über aktuelle Literatur in der Klassengesellschaft darstellen können.

2025-06-20T12:40:43+02:00
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