Heft 260 – 03/2024
Rezension: Eine Idee für Morgen
#kultur #kritik #spw
Leon Billerbeck ist Büroleiter des SPD-Unterbezirks in Lüneburg
von Leon Billerbeck
Krell, Christian/Lorenz, Ansgar
Eine Idee für Morgen
Über die Aktualität des demokratischen Sozialismus.
Schüren Verlag, Marburg 2024
72 Seiten, 10 Euro
Hörsaal, Systemkonflikt und Marx-Engels-Werke. Das sind die klassischen Dinge, die man mit einer Diskussion über den demokratischen Sozialismus verbindet. Zumeist wird die Theorieentwicklung und Diskussion unter recht restriktiven Voraussetzungen betrieben – auch innerhalb der Sozialdemokratischen Partei. Der Anspruch der demokratisch-sozialistischen Bewegung, die mit einem utopischen Überschuss die bessere Welt von Morgen beschreiben und für eine solche kämpfen und Mehrheiten organisieren möchte, muss allerdings ein anderer sein. Das Manko der komplizierten Sprache, welches bereits seit den Anfängen des demokratisch-sozialistischen Denkens ein Problem darstellte (wie Engels auch Marx immer vorwarf, vgl. Hunt 2012), versucht Christian Krell in seinem kurzen, aber eingängigen Buch zu überwinden.
Der Autor Dr. Christian Krell, seines Zeichens Professor für Politikwissenschaft an der HSPV in Köln und Honorarprofessor der Wilhelms- Universität in Bonn, versucht in seinem Heft der Schriftenreihe der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus die Grundidee des sozialistischen Denkens in einfachen Worten und kurzen Kapiteln auf den Punkt zu bringen. Hierbei bedient sich der ehemalige Leiter der nordischen Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung nicht nur einfacher Sprache, sondern auch zahlreichen Bildern zur Veranschaulichung und Alltagssituationen, an denen er Errungenschaften großer Sozialist*innen festmacht und verdeutlicht.
Grundstruktur des insgesamt 65 Seiten langen Buches sind 10 Kapitel, in denen jeweils Denker*innen mitsamt ihrer Bedeutung für die Idee des demokratischen Sozialismus dargestellt werden. Diese reichen von Klassikern wie Karl Marx und Friedrich Engels, die wahrscheinlich in keiner zusammenfassenden Lektüre über die sozialistische oder kommunistische Denkschule fehlen dürfen, über Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein bis hin zu aktuelleren Personen wie dem ehemaligen Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Erhard Eppler oder der amerikanischen Repräsentantenhausabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez. Wie man an dieser Aufzählung bereits erkennen kann, ist die Auswahl der beschriebenen Personen vielfältig und ebenso die Geschichten zum Beitrag der Akteure in den jeweiligen Kapiteln.
Startend mit der Frage, ob das Schulfest von Dr. Krells Sohn bereits Sozialismus sei (S. 10), hangelt er sich über Theoreme und Errungenschaften aus der politischen Praxis über die Jahrhunderte hinweg. Immerhin, so das Argument des Autors, ließen sich alle im weiteren Verlauf des Buches als sozialistische Theoriestücke auszumachenden Teilbereiche der Sozialistischen Denkschule in dem Schulfest finden. Die Organisation sei basisdemokratisch geschehen, die Getränkepreise unterlägen nicht den Kräften des freien Marktes und jede*r könne sich am Fest beteiligen und seinen Beitrag leisten, ganz nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen.
Diese alltägliche Beobachtung dient der Grundlage, die Theoriewelt des demokratischen Sozialismus ein wenig zu erkunden. Er bewegt sich von „[…] der […] Analyse der verheerenden Realität des Industriekapitalismus.“, also von Wilhelm Weitling, Karl Marx und Friedrich Engels (S. 17), über Eduard Bernstein und die Frage, ob es einer Revolution oder eines Reformweges hin zur Gesellschaft der Freien und Gleichen bedarf (S. 29) bis hin zur Bedeutung des demokratischen Verfassungsstaats, für den der Autor stellvertretend Hermann Heller heranzieht (S.35).
Hierbei ist die von Dr. Krell aufgezeigte Geschichte des demokratischen Sozialismus, wie könnte es auch anders sein, die Geschichte der SPD und der vielen Kämpfe, die sie in ihrer mittlerweile über 160-jährigen Geschichte auszufechten hatte. Die Geschichte ist allerdings auch eine Geschichte der realpolitischen Erfolge, welche von der Ideologie des demokratischen Sozialismus ausgegangen sind. Ob der oben bereits genannte demokratische Verfassungsstaat, die durchsetzbare Mitbestimmung im Arbeitsrecht, das Frauenwahlrecht, welches auf Drängen von aktiven Genossinnen seinen Weg in die Verfassung der ersten deutschen Demokratie in Weimar fand, oder aber die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Manifestation der Würde des Menschen, welche ebenfalls von aktiven Sozialdemokratinnen mitgeprägt worden ist (hier stellvertretend Toni Sender, S. 43).
Drei Kapitel und Gedankengänge des Autors möchte ich an dieser Stelle besonders hervorheben, weil sie eine gewisse Aktualität haben. Inhaltlicher Natur droht sich die Sozialdemokratie immer wieder an den Auseinandersetzungen um Integration oder Exklusion, ebenso wie am vermeintlichen Widerspruch zwischen Ökologie und Ökonomie zu zerreiben. Der Autor versucht in den jeweiligen Kapiteln darzulegen, dass sowohl die Inklusion von Menschen nicht-deutscher Herkunft als auch die Integration von ökologischen Ideen und die Betrachtung dieser als Chance für die Industrie Grundideen des demokratischen Sozialismus sein können, gar müssen. Stellvertretend für diese beiden Konflikte, die sich in den Bewegungen des demokratischen Sozialismus immer wiederfinden lassen, stehen Erhard Eppler (ab S. 53) und Alexandria Ocasio-Cortez (auch AOC ab S. 59). Der Appell des Autors: Gemeinsam sind wir stark. Solidarität war schon immer ein Grundgedanke der Arbeiter*innenbewegung, und wieso sollte diese durch Widersprüche gebrochen werden?
Neben den beiden oben genannten, inhaltlichen Abschnitten ist außerdem das Kapitel 7 meines Erachtens besonders herauszuheben. Es befasst sich mit Willi Eichler und Susanne Miller (ab S. 46) und damit einhergehend mit dem Theoriepluralismus innerhalb der sozialdemokratischen Partei und Bewegung. Die Grundessenz: Verschiedene Meinungen machen uns nicht schwächer, sondern stärker. Eine Idee, die in der politischen Debatte und der Schnelllebigkeit von Heute leicht unterzugehen droht. Die SPD ist eine der wenigen Parteien weltweit, die pluralistische Strömungen immer wieder integrieren konnte und dadurch gesellschaftlich mehrheitsfähig geworden ist. Hierauf gilt es sich zu besinnen und Debatten wieder offen zu führen. Dass Einsparungen in Strukturen der Partei und parteinahen Organisationen zuerst die inhaltlichen Kommissionen zu treffen scheinen, ist hierbei eine erschreckende Entwicklung.
Alles in allem hat Dr. Christian Krell es geschafft, in einem kurzen und kurzweiligen Buch eine schnelle Übersicht über wichtige Teile der demokratisch-sozialistischen Bewegung zu geben und Denkanstöße zu vermitteln. Besonders für den Start des Eintauchens in die Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung und ihre Gedankenwelt eignet sich das Buch ideal – allerdings ohne Garantie auf Vollständigkeit. Bei über 200 Jahren Geschichte und 65 Seiten Platz ist dies allerdings auch schier unmöglich.