Heft 262 – 01/2025
Reform der Schuldenbremse – Ein Befreiungsschlag?
#meinung #debatte #spw

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Torsten Windels (Hannover) war von 2007-2018 Chefvolkswirt der NORD/LB und koordiniert die im Januar 2019 gegründete Regionalgruppe Nord der Keynes Gesellschaft.
VON Torsten Windels
Nach langer Ablehnung einer Reform der Schuldenbremse ging es nun doch sehr schnell mit der Änderung des Grundgesetzes. Warum? Und wie ist dies zu bewerten?
Krise als Change? Momente der politischen Beschleunigung
Am 23.02.2025 wurde in Deutschland die regierende Ampelkoalition abgewählt. CDU/CSU wurden stärkste Partei im neuen Bundestag, wenn auch mit dem zweitschlechtesten Wahlergebnis seit ihrem Bestehen. Eine Koalition mit der SPD, die ihr schlechtestes Wahlergebnis einfuhr, ist wahrscheinlich.
Mitte Februar 2025 machte US-Vizepräsidenten Vance auf der Münchener Sicherheitskonferenz die Haltung der neuen Trump- Administration zu Europa deutlich. Die Hauptgegner kämen aus dem Inneren. Es seien die EU-Regierungen, die den Volkswillen, die Meinungsfreiheit, die gemeinsamen Werte verleugneten. Schon im Bundestagswahlkampf zeigten Trump-Vance offene Sympathie gegenüber der AfD. Schlusspunkt dieser Zuspitzung in der Realisierung neuer weltpolitischer Koalitionen war die Kündigung der militärischen Ukrainehilfe durch die US-Administration am 28.02.2025. Die EU war in der Unterstützung der Ukraine auf sich gestellt. Auch die US-Unterstützung im Rahmen des NATO-Beistandsabkommen ist unsicher.
Dieser Bruch mit den USA löste einen politischen Schock in Deutschland und Europa aus. Er ist Ursache für die finanzpolitische Wende des designierten Bundeskanzlers Friedrich Merz und der CDU/CSU. In den Sondierungsgesprächen für eine mögliche Koalition zwischen CDU/CSU und der SPD wurden Finanzierungsmöglichkeiten für eine umfassende militärische Stärkung Deutschlands und der EU diskutiert. Bereits am 04.03.2025 wurde eine Reform der Schuldenbremse präsentiert. Nach wichtigen Ergänzungen dieses Vorschlags durch B‘90/Die Grünen (100 Mrd. EUR für den KTF, Mitfinanzierung der kommunalen Wärmewende aus dem Ländertopf, Zusätzlichkeit der Investitionen, Verlängerung der Laufzeit des Sondervermögens auf 12 Jahre, Erweiterung des Sicherheitsbegriffs) stimmte am 18.03.2025 der Bundestag und am 21.03.2025 der Bundesrat jeweils mit zwei-Drittel-Mehrheit den Grundgesetzänderungen zu. 3 Wochen vom Bruch bis zur Gesetzgebung! Inhalt:
- Von den zu berücksichtigenden Einnahmen aus Krediten ist der Betrag abzuziehen, um den die Verteidigungsausgaben, die Ausgaben des Bundes für den Zivil- und Bevölkerungsschutz sowie für die Nachrichtendienste, für den Schutz der informationstechnischen Systeme und für die Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten 1 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt übersteigen. (Art. 115 GG).
- Zur Stärkung des Wachstums wird ein Sondervermögen über 500 Mrd. EUR aufgelegt für Investitionen in die Infrastruktur und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 (Art. 143h GG).
- Die Bundesländer in ihrer Gesamtheit dürfen zulässige Kredite in Höhe von 0,35% des BIP aufnehmen ohne gegen die Schuldenbremse zu verstoßen (Art. 109 GG mit Durchgriff in die Landesgesetzgebung).
- Einfachgesetzliche Konkretisierungen hierzu sollen zeitnah nach Koalitions- und Regierungsbildung erfolgen (dies wird vermutlich schwerer, als es hier klingt).
- Eine Expertenkommission soll bis Ende 2025 einen weitergehenden Reformvorschlag der Schuldenbremse erarbeiten (auch hier ist Skepsis angebracht).
Aufrüstung oder neue Finanzpolitik? Eine Bewertung
Die Zwei-Drittel-Mehrheit zur Nutzung von Krediten als Finanzierungsinstrument darf nicht über die sehr unterschiedlichen Motive von CDU/CSU auf der einen Seite und SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf der anderen Seite hinwegtäuschen. Die Unionsparteien sahen sich hierzu durch die militärische Situation genötigt. Die Anschauung einer kreditfinanzierten Finanzpolitik ist dadurch nicht beseitigt. Inhaltlich ist dies eben kein ‚Militärkeynesianismus‘ (Krebs/Weber), sondern eher ‚Notwehr‘. Für SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist die Grundgesetzänderung dagegen die Realisierung eines schon länger geforderten finanzpolitischen Instruments zur nötigen Belebung des Wirtschaftswachstums und der generationengerechten Modernisierung der deutschen Volkswirtschaft. Dies scheiterte in der Ampel an der FDP.
Die Linke in verschiedenen Parteien stößt sich an der Aufrüstung. Die Einschätzung einer Bedrohungslage durch Russland ist überhaupt nicht einheitlich. In SPD und bei den Grünen war diese Skepsis aber nicht mehrheitsfähig. Der vorstellbare Rückzug der USA aus den NATO-Garantien verstärkten die weitergehende Zustimmung zu deutlich höheren Sicherheitsaufwendungen in Deutschland und Europa. Und die Aussicht auf Investitions- und Transformationsmilliarden brachte dann auch die Zwei-Drittelmehrheit.
Jenseits unterschiedlicher Bewertungen von erhöhten Sicherheitsausgaben sind die Grundgesetzänderungen eindeutig ein Fortschritt für eine handlungsfähige Fiskalpolitik. Das Sondervermögen bringt unmittelbar mehr (kreditfinanzierte) Mittel für Investitionen. Aber auch die Kreditfinanzierung von Ausgaben des Bundes für Verteidigung, Zivilund Bevölkerungsschutz, Nachrichtendienste, Schutz der informationstechnischen Systeme und Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten, die über ein Prozent des BIP hinausgehen, stimulieren die Nachfrage, entlasten den Bundeshaushalt und geben Raum für andere Ausgaben.
Die ökonomische Kritik ist zwar richtig, dass eine Reform der Schuldenbremse eigentlich die Investitionen befreien sollte (Wiedereinführung der sog. ‚Goldenen Regel‘) und statt der Aufrüstung sollte eher die Dekarbonisierung noch stärker im Fokus stehen. Doch wird die deutliche Erhöhung der Investitionen für Infrastruktur und Klimaschutz Wirkung zeigen. Und auf der Verteidigungsseite bringt erst das quasi unbegrenzte Ausgabepotential (‚whatever it takes‘) die nötige politische Wirkung gegenüber den USA und Russland.
Gesamtstaatlich stehen durch das Sondervermögen für die nächsten 12 Jahre jahresdurchschnittlich fast 42 Mrd. EUR mehr zur Verfügung. Dies ist aktuell knapp 1% des BIP. Werden jährlich 2% (NATO-Ziel) oder 3% (politisch verlautbartes Ziel) für Verteidigung und Sicherheit ausgegeben, erhöht sich der mögliche Kreditrahmen um weitere 43 bzw. 86 Mrd. EUR pro Jahr dauerhaft (BIP 2024). Hinzu kommen bis zu 15 Mrd. EUR aus dem zusätzlichen Verschuldungsspielraum von 0,35% des BIP für die Bundesländer. Diese 100 bis 143 Mrd. EUR zusätzlichen Mittel sind reichlich und besorgen eher hinsichtlich einer vernünftigen und hinreichend schnellen Verwendung.
Leitbildwechsel
Der militärischen Notlage ging eine ökonomische Debatte voraus. Schon länger fordern zahlreiche Ökonomen, Verbände und Gewerkschaften sowie Politiker von SPD, Grünen und auch der CDU-Landesebene (u.a. Günther, Kretschmer, Wegner) eine Lockerung der starren Grenzen der Schuldenbremse, um mehr in die unzureichende öffentliche Infrastruktur investieren zu können. Diese Engpässe belasten das Wachstumspotential. Hier war und ist auch ein grundsätzlicher Leitbildwechsel erkennbar:
- Öffentliche Investitionen: Bislang wurde behauptet, staatliche Investitionen verdrängten private Investitionen (crowding out) und führten zu höheren Zinsen und Inflation. Heute überwiegt eine komplementäre Sichtweise, nach der öffentliche und private Investitionen sich wechselseitig stärken oder öffentliche Investitionen sogar Voraussetzung für private Investitionen sind.
- Generationengerechtigkeit: Konservative Kreise lehnten bislang Staatsschulden als Belastung zukünftiger Generationen ab. Jenseits des fortbestehenden Denkfehlers eines notwendigen Abbaus von Staatsverschuldung wurden zunehmend Verweise auf eine gleiche oder gar höhere Belastung zukünftiger Generationen durch unterlassene öffentliche Investitionen akzeptiert. Die riesigen Investitionsbedarfe zur Beseitigung der versäumten Ersatz- und Modernisierungsinvestitionen bei der Bahn sind Sinnbild hierfür.
- Vorsorge – Resilienz: Unter dem Begriff einer unzureichenden ‚Resilienz‘ wurden während der Corona- Pandemie die Abhängigkeiten von Lieferanten oder die geringe Risikovorsorge (Atemschutzmasken, Ausrüstungen, Medikamente, usw.) diskutiert. Diese Fragen sind im Rahmen des Angriffs Russlands auf die Ukraine noch lauter geworden (Energieversorgung, militärische Ausrüstung, militärische Aufklärung) und stehen bei der Herstellung einer strategischen Unabhängigkeit auch von den USA auf der Tagesordnung. Gleiches gilt für Klimaschutzinvestitionen.
- Inklusives Wachstum: Auch auf internationaler Ebene (Weltbank, IWF, OECD, EU-Kommission) werden seit Jahren die Hemmnisse eines nicht-inklusiven Wachstums diskutiert und zunehmend auch soziale Balancen als bedeutend integriert (EU-Sozialcharta).
Ist das Finanzpaket umsetzbar/finanzierbar?
Realwirtschaftlich produziert die deutsche Volkswirtschaft mehr als sie konsumiert oder investiert. Die resultierenden deutschen Leistungsbilanzüberschüsse lagen in den letzten Jahren zwischen 6 und 8% des BIP (2022 aufgrund hoher Energieimportpreise ‚nur‘ 4%). D.h., eine zusätzliche Nachfrage von Waren und Dienstleistungen für die innere und äußere Sicherheit in Höhe von zusätzlich 2% sowie Infrastrukturinvestitionen in Höhe von 1% des BIP durch eigene oder importierte Wertschöpfung stellt kein Gleichgewichtsproblem dar. Eher im Gegenteil, der seit langem kritisierte chronische Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands widerspricht den Forderungen des Stabilitätsgesetzes (§ 1) und den Kriterien der EU für eine gleichgewichtige wirtschaftliche Entwicklung (Europäisches Semester).
Auch finanzwirtschaftlich stellen diese Summen kein Problem dar. Selbst bei voller Ausschöpfung der neuen Verschuldungsspielräume von anfänglich 143 Mrd. EUR und einem nominalen Wachstum des BIP von 3% (2% Inflation, 1% reales Wachstum) steigt die Staatsschuldenquote von aktuell 62% auf 82% in 2044. Dies stellt im internationalen Vergleich noch immer keinen hohen Wert dar. Der Anstieg der Renditen für 10 jährigen Bundesanleihen seit der Ankündigung des Finanzpakets am 04.03.2025 um gut 40 Basispunkte von 2,47% auf 2,90% am 06.03.2025 ist weniger Finanzierungs- oder Inflationsskepsis, sondern hierdurch erhöhte Wachstumserwartungen und ein erweitertes Anleiheangebot (Dezernat Zukunft, 12.03.2025). Mit den raschen Beschlussfassungen zu den Grundgesetzänderungen stiegen die erkennbaren Kapitalmarktbeanspruchungen weiter an. Gleichzeitig sanken die deutschen Renditen um 10 Basispunkte auf 2,78% am 26.03.2025. Dies ist kein Signal von Kapitalmarktsorgen.
Staatsreform
Neben erheblichen Defiziten in der staatlichen Infrastruktur in Deutschland gibt es zahlreiche Kritiken auch an einer unzureichenden Konzept- und Handlungsfähigkeit des deutschen Staates. Im Vergleich zu ähnlich entwickelten Ländern wie Dänemark (Fehmarnbeltquerung) und der Schweiz (Ausbau der Zulaufbahnstrecke zum Ceneri-Tunnel im Rheintal) behindern deutsche Planungsverzögerungen den Ausbau dieser europäischer Infrastrukturvorhaben teilweise um Jahrzehnte. Gleiches gilt für eine aufgabengerechte Verteilung der öffentlichen Mittel auf die Gebietskörperschaften. Das katastrophale Ergebnis der Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes (OZG) symbolisiert dieses Politik- und Verwaltungsversagen. Die kommunalen Spitzenverbänden drängen auf föderale und finanzpolitische Reformen. Zur Verwaltungsreform liegen zahlreiche Vorschläge vor (z.B. Arbeitskreis Staatsreform in der SPD: https://www.akstaatsreform. de/ oder die Vorschläge der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, die am 12.03.2025 Reformvorschläge vorgelegt hat).
Angesichts der offensichtlichen Widersprüche zwischen CDU/CSU und SPD bleibt noch viel zu tun. Immerhin eine wesentlich Sollbruchstelle wurde gelockert, Geld auch für widersprüchliche Politiken ist jetzt verfügbar. Es wird nicht einfach, aber es gibt mehr Möglichkeiten als gestern. Das ist heutzutage schon eine gute Aussicht.