Law statt Order – Für die Verteidigung des Rechtsstaats
#mit recht politisch #asj #spw

Foto: © privat
Maximilian Pichl ist Professor für das Recht der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Bundesvorsitzender der Vereinigung Demokratischer Jurist:innen (VDJ). Zuletzt ist von ihm das Buch „Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat“ (2024) bei der edition Suhrkamp erschienen.
VON Maximilian Pichl
„Ab jetzt gilt wieder Law and Order an der Grenze“ schrieb der bayerische Ministerpräsident Markus Söder auf der Plattform X kurz nach Einführung der Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen im Mai 2025. „Mehr Schärfe und Härte“ verspricht der Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) öffentlich, um die migrationspolitischen Maßnahmen der neuen Bundesregierung zu legitimieren. Doch der Rechtsstaat kommt unter die Räder.
Anfang Juni 2025 hat das Verwaltungsgericht Berlin die Zurückweisungspraxis für europarechtswidrig befunden. Die Bundespolizei hat keine taugliche Rechtsgrundlage für die Zurückweisungen, so die drei Richter*innen aus der zuständigen Kammer. „Eine Einzelfallentscheidung“ sei das, so die Bundesregierung. Aber auch der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts erläuterte zutreffend in einem Interview mit dem Handelsblatt, dass das Verwaltungsgericht grundsätzliche juristische Erwägungen vorgenommen hat. Die Zurückweisungen an den Grenzen gehen dennoch weiter.
Exekutiver Ungehorsam in der Asylpolitik?
Unter Jurist*innen wird deshalb darüber diskutiert, ob die Bundesregierung einen exekutiven Ungehorsam in der Asylpolitik ausführt. Der Rechtswissenschaftler Philipp Koepsell versteht darunter ein Regierungs- und Verwaltungshandeln, dass Gerichtsentscheidungen nicht umsetzt oder ignoriert.
Die Gewaltenteilung weist das Durchsetzungsproblem auf, dass Gerichte nicht selbst die Machtmittel in der Hand halten, um ihren Urteilen Geltung zu verschaffen. Das Bundesverfassungsgericht hat keine eigene Polizei. Gerichte sind daher auf eine Kultur der Rechtsstaatlichkeit angewiesen, dass Urteile und Entscheidungen prinzipiell anerkannt werden.
Im Fall der Zurückweisungen konnten die Kläger*innen zwar einreisen und ihr Dublin-Verfahren in Deutschland durchführen. Gegenüber den konkreten Beschwerdeführenden haben Bundesregierung und Bundespolizei daher durchaus die Entscheidung des VG beachtet. Aber die rhetorische Delegitimation der grundsätzlichen Wirkung, die sich aus der Entscheidung ableiten lässt, deutet auf ein problematisches Rechtsstaatsverständnis hin.
Die Umdeutung des Rechtsstaats
Eine Diskussion über die Verteidigung des Rechtsstaats zu führen, fällt aber schwer, weil der Begriff in der Öffentlichkeit ordnungspolitisch umgedeutet wurde. An dieser Diskursverschiebung waren und sind auch führende Sozialdemokrat*innen beteiligt. Die ehemalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser benutzte im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus stets markige Worte wie die „volle Härte des Rechtsstaats“. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, „Rechtsstaat heißt nicht vor allem Minderheiten zu schützen, sondern die Mehrheit zu schützen vor Kriminalität“. Auf diese Weise wird der liberale Rechtsstaatsbegriff entkernt.
Denn Rechtsstaat heißt vor allem, dass der Staat an Grundrechte gebunden ist, staatliche Gewalt und Maßnahmen durch das Recht begrenzt werden und die Freiheit des Einzelnen geschützt werden muss – im Übrigen auch die von Kriminellen.
Hinter der Law-and-Order-Rhetorik steckt aber nicht nur politische Überzeugung, sondern eine explizite Strategie. Teile der Sozialdemokratie orientieren sich an Dänemark, wo die Sozialdemokratin Mette Frederiksen seit 2019 regiert. Ihr damaliger Wahlsieg und die Verringerung extrem rechter Wählerstimmen wird vermeintlich auf einen harten Law-and-Order-Kurs in der Migrationspolitik zurückgeführt. Diese Analyse hat jedoch viele Leerstellen.
In einer lesenswerten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung („Erfolgsmodell oder Fallgrube“, 2024) haben die Autor*innen Jakob Schwörer und Kristina Birke Daniels diese These auseinandergenommen.
Erstens habe das rechte Wählerpotenzial nicht abgenommen, vielmehr habe sich die rechte Parteienlandschaft in Dänemark pluralisiert. Bereits bei der Europawahl 2024 mussten die Sozialdemokraten herbe Verluste hinnehmen und viele Wähler*innen wanderten zu linkeren Parteien.
Zweitens habe der Rechtsruck der Sozialdemokratie insgesamt zu einem rassistischeren Klima in Dänemark beigetragen und schrecke auch Fachkräfte vor Einwanderung ab.
Mittlerweile ist die dänische Sozialdemokratie sogar bereit, die menschenrechtlichen Grundlagen Europas in Frage zu stellen. Auf Initiative von Mette Frederiksen und ihrer italienischen Amtskollegin Giorgia Meloni versammelten sich im Mai 2025 mehrere EU-Mitgliedstaaten hinter einem Brief, in dem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angegriffen wurde. Für eine Sozialdemokratie, der Europa und die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz wichtig ist, kann Dänemark daher kein Vorbild sein.
Der Rechtsstaat ist unteilbar
Die Aushöhlung des Rechtsstaats in der Migrationspolitik bleibt auf dieses Feld nicht begrenzt. Erosionen der Rechtsstaatlichkeit sind auch im Strafrecht, im Sozialrecht, im Völkerrecht und im Arbeitsrecht festzustellen.
Die Verteidigung des Rechtsstaats für Asylsuchende und Migrant*innen ist zugleich eine Verteidigung des Rechts aller Menschen auf Gleichheit vor dem Gesetz und eine strenge Bindung des Gewaltmonopols an die Grund- und Menschenrechte.
Gerade die Sozialdemokratie sollte daran ein genuines Eigeninteresse haben: Denn nicht ohne Grund verknüpft das Grundgesetz in Artikel 20 verschiedene Elemente zu einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Dieser ist die Voraussetzung dafür, sich demokratisch zu organisieren und die Verhältnisse zukünftig solidarisch zu gestalten.
