Heft 262 – 01/2025
Peter von Oertzen und der demokratische Sozialismus
#kultur #kritik #spw

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Wolfgang Jüttner war 27 Jahre Mitglied des niedersächsischen Landtags, 5 Jahre Umweltminister, von 2005 – 2011 Mitglied des SPD-PV , von 2010 -2024 Vorsitzender des Beirats der Parteischule und ist seit 2013 Ehrenvorsitzender der der SPD im Bezirk Hannover.
von Wolfgang Jüttner
Am 02. September 2024 wäre der im Jahr 2008 verstorbene Peter von Oertzen 100 Jahre alt geworden. Als langjähriger Mitherausgeber, als intellektuelle Referenz und als bedeutender Protagonist der sozialdemokratischen Linken war von Oertzen auch der spw verbunden. Unter der Überschrift „Bausteine für einen demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert“ veranstalteten das Forum für Politik und Kultur, der SPD-Bezirk Hannover, der DGB Niedersachsen, spw, Arbeit und Leben Niedersachsen, perspektiven ds sowie das verdi-Bildungswerk Niedersachen am 15. November ein gut besuchtes Symposium in Hannover. Wir dokumentieren in dieser Ausgabe den Eröffnungsvortrag von Wolfgang Jüttner. (Die Redaktion)
Peter von Oertzen und der demokratische Sozialismus
Am 02.09. dieses Jahres wäre Peter von Oertzen 100 Jahre alt geworden, für viele, selbst in der Welt der heutigen Politik, kein relevantes Datum. Wir, die wir ihn erlebt haben, mit ihm zusammenarbeiten durften, haben auf ihn einen ganz anderen Blick: Er war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir wollen uns bei dieser Veranstaltung nicht vorrangig mit seiner Biographie befassen. Interessierte verweise ich auf die gründliche Dissertation von Phillip Kufferath, erschienen im Wallstein-Verlag 2017¹. Uns interessiert hier und heute etwas anderes: Sind seine konzeptionellen Überlegungen, seine Anregungen noch hilfreich in einer Welt, die sich dramatisch gewandelt hat, in der Sozialismus sehr stark diskreditiert ist und selbst die parlamentarische Demokratie unter starkem Legitimationsdruck steht? Bietet er uns Haltepunkte und Bausteine für einen demokratischen Sozialismus in den nächsten Jahrzehnten, in Zeiten von Umbrüchen und Unsicherheiten?
Desillusioniert von Faschismus und Krieg kam er 1945 nach Göttingen, fest entschlossen, an einer neuen Zeit mitzuarbeiten, sich für eine lebenswerte Gesellschaft zu engagieren. In einem intensiven Literaturstudium fand in der Marxschen Theorie das geeignete analytische Instrumentarium zur Erklärung der Gesellschaft, der Mechanismen der kapitalistischen Entwicklung. Freiheit wurde für ihn zur zentralen Leitmotiv, in Anlehnung an eine berühmte Formulierung aus dem Kommunistischen Manifest von Marx und Engels: „die freie Entwicklung des einzelnen ist die Voraussetzung der freien Entwicklung aller“. Das habe zur Konsequenz, dass jede Person über alle Dinge mitzuentscheiden habe, die sie betreffe. Sozialismus war für ihn vollendete Demokratie. Als „politischer Moralist im Sinne der Aufklärung“ (Kufferath) galten die erkämpften Grund- und Menschenrechte der bürgerlichen Revolution auf dem Weg zum und im Sozialismus uneingeschränkt fort: Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen, unabhängige Justiz, Minderheitenschutz etc. Der demokratische Sozialismus baue auf der politischen Demokratie auf und ergänze sie um die Beteiligungsrechte aller auch in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen. Erst dann sei der Kapitalismus mit seiner eigenen Logik außer Kraft gesetzt.
Der Weg dorthin: Reformismus! Nur so könne es gelingen, im komplexen System des Kapitalismus als Wohlfahrtsstaat gesellschaftliche Akzeptanz zu organisieren. Leninismus/ Stalinismus verachtete er, illusionäre Revolutionsattitüden waren ihm gleichfalls zuwider. Nur durch Überzeugung, die Gewinnung von Mehrheiten, die Beachtung der erklärten Maximen auch in der eigenen Politik würde eine Pervertierung der eigenen Ansprüche ausschließen. In dem Aufsatz: „Eine marxistische Grundlegung des Demokratischen Sozialismus (1980)“ führt er 4 zu berücksichtigende Leitplanken aus:
Der Reformismus
- Ist demokratisch und überzeugt in Wahlen,
- Ist gesetzlich, indem er die Verfassung achtet und beachtet,
- Ist friedlich, solange nicht Feinde der Demokratie sie durch Gewalt vernichten wollen und
- geht von einer schrittweisen Veränderung der Gesellschaft aus.
Ein optimistisches und selbstbewusstes Konzept nach dem Motto: LINKS und FREI! Über den Widerstand der herrschende Klasse machte sich Peter von Oertzen dabei keine Illusionen.
Dieses Selbstverständnis kam überall zur Anwendung, wo er sich engagierte. Da war:
- der Wissenschaftler, der mit seiner Habilitation „Betriebsräte in der Novemberrevolution“ die Frage nach dem Spielraum für eine Wirtschaftsdemokratie in der Weimarer Republik durch ergänzende Elemente von Betriebs- und Wirtschaftsräten gegen den damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstand neu beantwortet hat,
- der Berater, der vor allem in den 60er Jahren mit seinen Arbeiten die gesellschaftspolitische Debatte in den Gewerkschaften um die Mitbestimmung maßgeblich beeinflusst hat,
- der Landespolitiker, der als Kultusminister (und Wissenschaftsminister ) in Niedersachsen 1970 – 1974 neue Universitäten in Oldenburg und Osnabrück gegründet, die Einrichtung von Fachhochschulen vorangetrieben, das 10. Schuljahr eingerichtet, Gesamtschulen und Orientierungsstufen auf den Weg gebracht, Mitbestimmungsregelungen in den Hochschulen etabliert, die Wiedereinbürgerung kritischer Wissenschaft gewährleistet und damit eine sozial und demokratisch orientierte Bildungspolitik auf eine qualitativ neue Stufe gebracht hat,
- der Theoretiker der Sozialdemokratie, der sich Spitzenfunktionen wie Ministerpräsident oder Stellvertretender Parteivorsitzender entzog und lieber mehr als 20 Jahre die Programmdebatte der SPD maßgeblich beeinflusst hat durch seine Arbeit am Orientierungsrahmen 85, durch die Leitung der Parteischule und die Mitgliedschaft im Parteivorstand 1973 – 1993.
Er war ein leidenschaftlicher Debattierer und großer Netzwerker, würde man heute sagen, ein Grenzgänger zwischen Politik und Wissenschaft, der in der traditionellen Arbeiterbewegung zu Hause war und gleichzeitig mit vielen Persönlichkeiten und Gruppen der undogmatischen Linken umfangreiche Kontakte pflegte, die sich vor allem in verschiedenen Zeitschriften-Projekten konkretisierte.
Die aktive Zeit von Peter von Oertzen, die 2. Hälfte des 20 Jahrhunderts, war gekennzeichnet von Aufbruch, dem Abschütteln von geistiger Verklemmung und den Versuchen, mehr Demokratie und Selbstbestimmung zu suchen. Sich hier einzubringen war sein Lebenselixier.
Und der gesellschaftliche Fortschritt war vielerorts
sichtbar:
- Viele Unabhängigkeitsbewegungen trieben den Kolonialismus aus ihren Ländern.
- Der Kampf um den ewigen Frieden kam voran. Durch intensive Protestaktionen konnten mitten im Kalten Krieg bedeutsame Verträge zu Abrüstung und Rüstungskontrolle erreicht werden.
- Die politische Demokratie als angemessene gesellschaftspolitische Regulierungsform schien nicht mehr aufzuhalten sein, spätestens nach Ende des Kalten Krieges 1990/91.
- Die Gleichheit der Geschlechter kaum erkennbar voran.
- Durch starke Gewerkschaften und eine aufgewachte Zivilgesellschaft konnten Sozialreformen erzwungen und dem Kapitalismus ein humaneres Gesicht abgezwungen werden,
- Neue Themen, wie die Folgen des brachialen Umgangs mit den Ressourcen konnten identifiziert und erste Schritte nachhaltigen Wirtschaftens und Verhaltens adressiert werden.
Wie brüchig diese Fortschritte waren, wie erfolgreich „altes Denken und Handeln“ revitalisiert werden konnte, erreichte auch von Oertzen. Beunruhigt hat ihn am Ende seines Lebens die mangelnde gedankliche Kraft des undogmatischen Denkens und der aufziehende Neoliberalismus. Getroffen hat ihn zum einen, dass der Neoliberalismus auch Theorie und Praxis der SPD infizierte, vor allem in der rotgrünen Koalition zwischen 1998 und 2005. Ich verweise auf das sogenannte Schröder-Blair- Papier einerseits, die arbeitsmarktpolitische „Liberalisierung“ von rot-grün andererseits. Getroffen hat ihn vor allem die Abwicklung von Teilen seiner Bildungsreform, kulminierend in der Abschaffung der Orientierungsstufe durch die SPD-Regierung in Niedersachsen zwischen 1998 und 2003. Den Parteiaustritt unseres Ehrenvorsitzenden 2005 hätten wir am liebsten nicht zur Kenntnis genommen, zu verheimlichen war er natürlich nicht. Sein Vermächtnis an uns, seine Erben im SPD-Bezirk, uns noch einmal inhaltlich mit seinen Ideen zu befassen, sind wir dann in einer Tagung nachgekommen und haben diese auch dokumentiert.²
Das 21. Jahrhundert hat uns inzwischen in den Griff genommen, die schönen Träume des platzt: Militärische Gewalt verdrängt die Diplomatie, Verträge zur Rüstungskontrolle sind gekündigt, die internationalen Organisationen sind weitgehend ohnmächtig, der Kapitalismus ist in eine neue Phase der Enthemmung getreten, die Klimakrise zeigt immer bedrohlichere Konsequenzen, die sozialen Spaltungsprozesse kulminieren! Der gewaltige Transformationsbedarf produziert Unsicherheiten, für die Rechtsradikale und rechte Populisten ihre Therapie „Vorwärts nach gestern!“ anbieten. Krisen im Kapitalismus sind nicht neu; in der Vergangenheit hat er sie – nicht immer elegant – aufzulösen vermocht.. Heute wird immer offensichtlicher: nicht der Kapitalismus ist in einer Krise, sondern der Kapitalismus selbst ist das Problem! Um es mit den Worten eines abwägenden Juristen, dem Bundesverfassungs- richter a.D. Ernst-Wolfgang Böckenförde zu sagen: „Der Kapitalismus krankt nicht an seinen Auswüchsen, sondern an seinem Ausgangspunkt, seiner zweckrationalen Leitideen deren systembildende Kraft.(2009). Es wird mehr als deutlich, dass er
- eine angemessene Teilnahme nicht länger gewährleisten kann,
- gesellschaftlich Spaltungstendenzen produziert,
- unfähig ist, Naturzerstörung zu verhindern.
Ist das nicht die ideale Voraussetzung, mit linken, demokratischen Angeboten zu überzeugen, mit einem attraktiven Modell einer sozial-ökologischen Demokratie erfolgreich zu werben?
Die bittere Realität: Das alte Kampflied „Mit uns zieht die neue Zeit“ ist aus der Zeit gefallen.
Statt optimistischer Blicke in die Zukunft grassieren Verlustängste, werden Orientierungspunkte eher in der Vergangenheit gesucht, ist die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, marginalisiert. Statt der sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität dominiert die Suche nach gestern, sind nationalautoritäre Weltbilder en vogue, müssen Grundrechte und Wertvorstellungen verteidigt werde, deren zu Disposition zu stellen wir nicht in ärgsten Träumen uns haben vorstellen können. Wer hätte es vor 10 Jahren für möglich gehalten,
- dass in einem Mutterland der Demokratie wie den USA ein permanenter Lügner, Sexist und verurteilter Straftäter zum zweiten Mal ins Präsidentenamt gewählt wird,
- dass in Deutschland eine weitgehend als rechtsradikal eingestufte politische Organisation bei Wahlen mehr als 30 Prozent der Stimmen aus dem Kreis der Industriearbeiter auf sich vereinen kann.
- dass im Jahr 2024 die Jugend rechts wählt und dort ihre vermeintliche Zukunft sucht.
Wo sind die Anknüpfungspunkte für demokratisch- sozialistische Politik? Es gibt sie, und sie können Maßstab für aktives Handeln werden. Wir finden sie in den vielfältigen zivilgesellschaftlich Initiativen, die sich um emanzipatorische Projekte entwickelt haben, in den gewerkschaftlichen Grundpositionen, in denen die Ansprüche auf eine Wirtschaftsdemokratie aufblitzen, auch aber im gültigen Grundsatzprogramm der SPD von 2007, das mit bemerkenswerter Klarheit Ansprüche an eine Welt von morgen formuliert. Ich zitiere: „Unsere Geschichte ist geprägt von der Idee des demokratischen Sozialismus, einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, in der unsere Grundwerte verwirklicht sind. Sie verlangt eine Ordnung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, in der die bürgerlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte für alle Menschen garantiert sind, alle Menschen ein Leben ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt, also in sozialer und menschlicher Sicherheit führen können.(…) Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision eine freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung eine dauernde Aufgabe ist.“
Also: Ziele, Visionen gibt es zur Genüge, und die Debatte des aufkommenden 20. Jahrhunderts zwischen Karl Kautsky/August Bebel auf der einen und Eduard Bernstein auf der anderen Seite, ob man auf den großen Kladderadatsch warten oder proaktiv werden muss, ist lange entschieden. Denn, so Bernstein, die Vision sei schnell formuliert, die Entwicklung und Umsetzung einer sozialistischen Strategie, die zu einer Annäherung an den demokratischen Sozialismus führe, sei eine komplexe und immer wieder mit Zielkonflikten und Rückschlägen verbundene Aufgabe. So auch Peter von Oertzen: Der Weg ist Teil des Ziels!
Die politische Arbeit der SPD darf sich in Zukunft nicht im Kampf gegen rechts erschöpfen. Es geht vielmehr um eine solidarische Alternative gegen einen enthemmten Freiheitsbegriff und um die Frage, wo die Logik des Marktes endet, welche Güter seinen Mechanismen überlassen bleiben können und wo staatliche oder gesellschaftliche Antworten unabdingbar sind. Da geht es sicher zuallererst um Korrekturen von Fehlentwicklungen der letzten Jahre, um das Stopfen von Gerechtigkeitslücken. Die können aber durchaus helfen, eine neue, transzendierende Logik zu entwickeln. In einer zukunftsfähigen Gesellschaft darf der Staat sich nicht nur um faire Rahmenbedingungen in der Wirtschaft, die Gewährleistung der öffentlichen Infrastruktur und die Sicherung der sozialen Wohlfahrt kümmern. Die Tiefe der notwendigen gesellschaftlichen Transformation erfordert seine Intervention als Innovator und Investor von Großprojekten, mit denen beispielsweise die Klimakrise und ihre Folgen erfolgreich bekämpft werden können.
Es braucht erkennbar eine neue Erzählung, die optimistisch ist, Widrigkeiten nicht verschweigt und attraktiver ist als eine Rekonstruktion eines Gestern, das selbst gestern nicht überzeugen konnte.
¹ Philipp Kufferath, Peter von Oertzem (1924 – 2008), Eine politische und intellektuelle Biografie, Göttingen 2017.
² Siehe dazu die Besprechung in spw 178 .