Heft 260 – 03/2024
On demand: Auch im ländlichen Raum ohne Auto mobil
#meinung #debatte #spw

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Ulf-Birger Franz, Hannover, ist Dezernent für Wirtschaft, Verkehr, Bildung und Kultur bei der Region Hannover
VON Ulf-Birger Franz
Die Debatte über eine Veränderung der Verkehrspolitik und die Abkehr von der einseitigen Orientierung auf das Auto wird zumeist auf die großen Städte fokussiert. In den Großstädten wird viel über die Verkehrswende und die Umverteilung des öffentlichen Straßenraums gesprochen, es entstehen neue Fußgängerzonen und Radwege. Was dabei zu kurz kommt: Auch Menschen außerhalb der Städte wünschen sich Alternativen zum Auto und mehr Unabhängigkeit. Nur fehlen gerade im ländlichen Raum diese Alternativen zumeist. Allerdings gibt es auch hier positive Entwicklungen. Und das Thema on-demand-Verkehre könnte dabei für den ÖPNV im ländlichen Raum zum Game Changer werden.
Mobilität im ländlichen Raum wird in der Regel mit dem Automobil gleichgesetzt. Der Weg zur Arbeit wird zumeist mit dem Auto zurückgelegt, Kinder werden zur Schule und zum Sport gefahren. In manchen Regionen kommen über 50 Prozent der Schüler:innen mit dem Elterntaxi zur Schule. Für Menschen, die keinen Zugang zu einem Auto haben, weil sie es sich schlicht nicht leisten können, für Jugendliche und ältere Menschen bedeutet dies aber vor allem Mobilitätsarmut. Denn Kinder und Jugendliche können sich nicht unabhängig vom Auto der Eltern entfalten, ältere Menschen sind für die Versorgung mit Grundbedürfnissen auf andere (mit Auto) angewiesen.
Die Entwicklung vieler Ortschaften ist ein Abbild dieser automobilen Gesellschaft. Kleinere Supermärkte und Bäcker in der Ortsmitte wurden vielerorts durch größere Super- und Drogeriemärkte vor den Toren der Ortschaft ersetzt. In vielen Fällen führt nicht mal ein Radweg dorthin. Ein Nebeneffekt dieser Verlagerung ist die Verödung von Dorf- und Ortsmitten. Öffentliche Orte der Begegnung gehen verloren, man grüßt sich durch das Autofenster.
Seit einigen Jahren gibt es allerdings auch Gegenbewegungen. Initiativen zur Wiederbelebung von Ortszentren und kulturelle Aktivitäten entstehen. Dorfladen-Initiativen, Genossenschaften und Vereine versuchen, neue Treffpunkte zu schaffen. Damit einher geht die Umgestaltung von Ortschaften und insbesondere Ortsdurchfahrten. Ziele sind die Reduzierung der Geschwindigkeit durchfahrender Autos, die Schaffung von Radwegen oder Fahrradschutzstreifen, bessere Querungsmöglichkeiten für Fußgänger:innen und nicht zuletzt die optische Aufwertung der Ortschaft. Orte, die demografisch nicht abgehängt werden wollen, müssen attraktiv sein.
In diesem Zusammenhang hat sich auch ein breites kommunales Bündnis für mehr Möglichkeiten zur Einführung von Tempo 30 in Ortsdurchfahrten gebildet. 1.100 Städte, Gemeinden und Landkreise haben sich mittlerweile der Initiative „Lebenswerte Städte“, die maßgeblich von Leipzigs Stadtbaurat Thomas Dienberg initiiert wurde, angeschlossen. Die meisten davon sind kleine ländliche Gemeinden. Warum das so ist wird jedem und jeder deutlich, die einmal zur Hauptverkehrszeit an einer typischen Ortsdurchfahrt gestanden hat: Autos eilen mit Tempo 70 durch Orte, die bestenfalls schmale Fußwege und zumeist keine Radwege haben. Und Schulkinder versuchen sich irgendwie auf die andere Straßenseite durchzuschlagen.
Die aktuelle Novelle der Straßenverkehrsordnung greift dies übrigens auf und weitet die Möglichkeiten zur Geschwindigkeitsreduzierung auf Tempo 30 aus. Die in der Initiative zusammengeschlossenen Kommunen sind sich einig, dass dieser Kompromiss nur ein Anfang sein kann. Dies zeigt, dass sich ziemlich flächendeckend und in der Regel parteiübergreifend die Ansprüche an die räumliche Gestaltung von Ortschaften und Verkehrsräumen zugunsten des Fuß- und Radverkehrs verändert haben.
Einher geht diese Veränderung mit einer Zunahme des Radverkehrs auch in kleineren Ortschaften und vor allem im überörtlichen Verkehr. Moderne E-Bikes haben dazu in erheblichem Maße beigetragen. Die Zunahme des Radverkehrs ist allerdings stark abhängig von der Qualität des Radnetzes – und der Ausbau kostet Zeit und Geld. Große Projekte wie der Radschnellweg Ruhr (RS 1) mit über 100 km Länge oder der geplante 60 km lange Radschnellweg am Mittellandkanal in der Region Hannover werden den Anteil des überörtlichen Radverkehrs weiter erhöhen.
Auch als Zubringer zur Schiene hat der Radverkehr in den letzten Jahren im ländlichen Raum deutlich an Bedeutung gewonnen. Fahrradabstellanlagen platzen gerade an den kleinen Bahnhöfen mit guter Anbindung an die großen Städte aus allen Nähten. Denn das Fahrrad ist ein sehr flexibles, preiswertes und vor allem zuverlässiges Verkehrsmittel. Wer den stündlich fahrenden Zubringerbus verpasst, der hat reichlich Wartezeit. Das eigene Fahrrad dagegen wartet. Und dank Elektroantrieb hat sich der Einzugsbereich ländlicher Bahnhöfe deutlich vergrößert. Zurzeit entstehen überall in der Republik neue Abstellanlagen, die Bike&Ride-Offensive von Bundesregierung und Deutscher Bahn ist hier positiv hervorzuheben. Insgesamt sollen allein durch diese Initiative 100.000 neue Abstellplätze entstehen, viele Kommunen nutzen das attraktive Förderprogramm. In Freising (Bayern) ist mit 800 Plätzen die bislang größte Anlage entstanden, nach niederländischem Vorbild doppelstöckig.
Es tut sich also etwas, auch im ländlichen Raum. Allerdings bleibt der ÖPNV dort eine harte Nuss. Die Regional- und S-Bahnen in die größeren Städte, gerade für Berufspendler:innen in vielen Regionen wichtige Existenzgrundlage, sind heute dank der systematisch vernachlässigten und chronisch überlasteten Schienen-Infrastruktur so unzuverlässig wie nie zuvor. Es wird ein bis zwei Jahrzehnte dauern, bis die Betriebsqualität in Deutschland wieder das Niveau unserer Nachbarländer erreicht hat. Darunter wird die Attraktivität vieler ländlicher Kommunen als Wohnstandort deutlich leiden.
In vielen Regionen existiert der Busverkehr lediglich als reiner Schüler:innenverkehr. Angebote für Berufspendler:innen fehlen, am Wochenende oder in den Abendstunden sieht es noch schlechter aus. Angesichts der geringen Bevölkerungsdichte ist es auch kaum möglich, eine einigermaßen akzeptable Auslastung in den Bussen hinzubekommen. Und ein Bus, der nur einmal die Stunde fährt, ist für Alltagsfahrten zum Einkaufen oder zum Sport keine wirkliche Alternative zum Auto. Erfolgreiche Ausnahmen mit Fahrgaststeigerungen gibt es allerdings auch. Direktbus-Linien aus kleineren Ortschaften in die Großstädte werden gut angenommen, wenn sie attraktive Takte, hohe Zuverlässigkeit und moderne Fahrzeuge mit WLAN bieten. Für die meisten Relationen gilt dies leider nicht, hier fehlt schlicht die kritische Masse für klassische Busverkehre.
Vor diesem Hintergrund werden in vielen Regionen zurzeit sehr erfolgreich on-demand-Verkehre getestet. Die Idee solcher Bedarfsverkehre mit Kleinbussen ist nicht einmal neu, bereits in den 70er Jahren gab es dazu einige sehr aufwendige Experimente. Was heute aber neu ist: Durch die Digitalisierung und entsprechende Software lassen sich solche Verkehre heute viel leichter planen, buchen und abwickeln. Das macht sie für viele Zielgruppen attraktiv und autonomes Fahren kann sie in der Zukunft auch für viele ÖPNV-Aufgabenträger bezahlbar machen.
Das derzeit größte in den ÖPNV integrierte ondemand- System in Europa existiert seit Sommer 2021 in der Region Hannover. Der „sprinti“ wurde zunächst in drei Kommunen erfolgreich getestet und 2023 im Rahmen der vom Bund geförderten ÖPNV-Modellregion Hannover auf zwölf Kommunen ausgeweitet. 120 Kleinbusse befördern seitdem täglich rund 5.000 Fahrgäste. Das Bediengebiet umfasst ein Gebiet von der doppelten Größe Berlins, rund 360.000 Menschen wohnen dort. Ausgewählt wurden Kommunen am äußeren Rand der Region Hannover (Tarifzone C), die überwiegend ländlich strukturiert sind. Die Fahrt mit sprinti ist zum normalen ÖPNV-Tarif ohne Aufschlag möglich. Allerdings können nur Fahrten innerhalb der eigenen Kommune oder zu Sonderzielen wie Bahnhöfen gebucht werden. Verantwortlich für die Verkehre ist das kommunale Verkehrsunternehmen ÜSTRA in Zusammenarbeit mit dem on-demand- Anbieter VIA.
Neu ist bei sprinti die konsequente Einbindung in den ÖPNV, nicht nur tariflich. So ist eine Buchung nur möglich, wenn in den nächsten 20 Minuten kein reguläres Nahverkehrsangebot zur Verfügung steht. Es werden so also nur Angebotslücken geschlossen und Parallelverkehre vermieden. Innerhalb von 20 Minuten steht in der Regel ein Fahrzeug zur Verfügung, das Fahrgäste entlang der gebuchten Strecke einsammelt. Fast die Hälfte der Fahrten wird als Zubringer zum Bahnhof gebucht, die übrigen Fahrten erfolgen zwischen kleineren Ortschaften. Mehr als die Hälfte der Fahrten finden im Pooling, also mit mehreren Buchungen, statt. Verfügbar sind die Fahrzeuge in der Woche bis 1 Uhr, am Wochenende bis 4 Uhr. Abends sind die barrierefreien Mercedes-Transporter vor allem bei Jugendlichen beliebt. Die Stimmung ist gut, dank des persönlichen Service ist das subjektive Sicherheitsgefühl deutlich höher als bei anderen Verkehrsmitteln.
Ebenfalls neu ist die konsequente Digitalisierung des Angebots. Es gibt zwar eine Notruf-Telefonnummer, die Buchung soll aber über das Smartphone erfolgen. Begleitet wird diese eindeutige Kommunikation von Schulungsangeboten, Infoständen auf Wochenmärkten und Volkshochschul- Abenden zum Thema „Wie buche ich meinen sprinti?“. Über 96 Prozent der Fahrten werden so digital gebucht, auch dank der intuitiven App. Auch ältere Menschen schaffen das übrigens problemlos, sie nutzen das Angebot genau wie jüngere überdurchschnittlich oft.
Im Jahr 2022 hat das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) das Projekt sprinti evaluiert. Fast 1.200 Fahrgäste haben (natürlich digital) mitgemacht. Die Ergebnisse sind eine Bestätigung für diese Angebotsform: 40 Prozent der Fahrten mit sprinti ersetzen eine Autofahrt, weitere 33 Prozent der Fahrten hätten ohne dieses Angebot nicht stattgefunden. Gerade letzteres ist bemerkenswert. Jugendliche hätten ohne passgenaues Angebot also einen Sport nicht betreiben können, Menschen hätten auf Kultur- und Restaurantbesuche verzichtet. Bei on demand im ländlichen Raum geht es nicht nur um Klimaschutz, es geht schlicht um Teilhabe, gleiche Lebenschancen und die Bekämpfung von Mobilitätsarmut.
Neben dem hannoverschen Angebot, das 2023 mit dem Deutschen Mobilitätspreis ausgezeichnet wurde, gibt es auch in anderen Regionen vergleichbare Projekte. Flandern in Belgien führt ein ähnliches Angebot ein, in Deutschland sind es u. a. der Regionalverband Braunschweig, der Landkreis Osnabrück und der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV). Hier werden zumeist Preisaufschläge für on demand erhoben. In Hamburg gibt es darüber hinaus eine Kooperation mit dem privaten Anbieter MOIA, der Rabatte für ÖPNV-Kund:innen gewährt. Auch die Deutsche Bahn beschäftigt sich mit on-demand-Systemen als Zubringer zu ländlichen Bahnhöfen.
Gemeinsam haben alle ÖPNV-Projekte im ländlichen Raum die unsichere Finanzierungsperspektive. Fördermittel durch die EU (EFRE) oder den Bund (Modellregion ÖPNV) gibt es bislang nur zur Anschubfinanzierung. Wenn das System sich bewährt hat und funktioniert, dann müsste es eigentlich wieder eingestellt werden. Deshalb haben Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland als erste Bundesländer Förderrichtlinien für Bedarfsverkehre im ÖPNV auf den Weg gebracht. Dies ist auch dringend erforderlich. Denn der Zuschussbedarf pro Fahrgast liegt bei mindestens 10 Euro. Individualität kostet gegenüber der Massenbeförderung in Großstädten deutlich mehr Geld. Autonomes Fahren kann die Kosten möglicherweise irgendwann senken, aber darauf sollten wir nicht warten. Ohne eine Förderung durch Bund und Länder wird sich on demand auf dem Lande deshalb nicht etablieren können. Und das wäre schade. Denn die bisherigen Beispiele zeigen, wie dringend es dort gebraucht wird.
Schonvermögen und schlechte Arbeitsbedingungen
Die jüngsten Ampel-Pläne zum Bürgergeld3 untergraben den ohnehin nicht sehr starken Glauben in das Versprechen des Bundeskanzlers. Bisher durften Leistungsberechtigte des Bürgergeldes während der Dauer eines Jahres bis zu 40.000 Euro ihres Vermögens behalten und konnten dennoch Bürgergeld beziehen. Diese Frist wird jetzt auf ein halbes Jahr zusammengekürzt. Das Ampel-Papier bescheidet dazu kühl:
„Das Bürgergeld dient als existenzsichernde Leistung und ist nicht dafür da, das Vermögen einzelner abzusichern.“4 Dieser Satz nährt die weit verbreitete Angst der Mittelschicht, bei ungünstigen Umständen ungebremst nach unten durchgereicht zu werden.
Außerdem sollen die Zumutbarkeitsregeln für Job-Angebote nach Ampel-Plänen „zeitgemäß“ überarbeitet werden, zum Beispiel soll jetzt ein Arbeitsweg von insgesamt drei Stunden zumutbar sein. Aktuell zeigen offizielle Zugfahrpläne bestenfalls sehr theoretische Mindestfahrzeiten an. Man kann sich ausmalen, wie viele Stunden Fahrtzeit den geringstverdienenden Betroffenen tatsächlich zugemutet werden soll.