Heft 264 – 03/2025
Nachruf auf Michel Aglietta
#meinung #debatte #spw #nachruf

Foto: © privat
Prof. Dr. Kurt Hübner, geboren 1953, Direktor des Instituts für Europastudien an der Universität von British Columbia in Vancouver/Kanada. Hübner ist Professor für europäische Integration und internationale Politische Ökonomie.

Foto: © privat
Dr. Uwe Kremer, geboren 1956, Sozialwissenschaftler, Mitherausgeber der spw.
VON Kurt Hübner und Uwe Kremer
Nachruf auf Michel Aglietta
Vorbemerkung von Dr. Uwe Kremer, Mitherausgeber der spw
Seitens der Redaktion bin ich gebeten worden, den von Kurt Hübner verfassten nachfolgenden Artikel zum Tode des marxistischen Ökonomen Michel Aglietta mit einigen Bemerkungen zu ergänzen, die die Wirkung des von ihm verfolgten theoretischen Ansatzes in der „Strömungsgeschichte“ der Jusos und marxistisch geprägter Sozialdemokrat*innen betreffen.
Zunächst sei frank und frei vorweggeschickt, dass es nur sehr wenige Personen in dem genannten Strömungskontext gegeben haben dürfte, die sich in den 80er Jahren mit dem – in deutscher Sprache erst spät und bruchstückhaft veröffentlichten – Werk von Aglietta befassten. Aber wie so häufig gibt es vermittelte Wirkungen, die Diskursmacht und Deutungsmuster breiterer Kreise bestimmen können, ohne dass den dadurch geprägten Akteur*innen die konzeptionellen Ausgangspunkte und Implikationen bekannt oder bewusst sind.
In ihren Ursprüngen (also den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts) waren die „spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft“ und die mit ihr verbundene Strömung der Jusos stark beeinflusst durch die Theorie des sogenannten staatsmonopolistischen Kapitalismus. In ihrem paradigmatischen Zentrum stand – kurzgefasst – die Verbindung von Staat und Monopolunternehmen als Wesensmerkmal des modernen Kapitalismus und seiner Regulationsweise.
Mitte der 80er- bis Anfang der 90er-Jahre kam es aber zu einer grundlegenden Verschiebung in den Mustern zur Deutung kapitalistischer Entwicklung – und zwar in dem Sinne, dass die Art und Weise des Produzierens und insbesondere auch der Konsumtion und der beide Seiten verbindenden sozialen Arrangements ins Zentrum rückte. Die Rede war nun immer weniger vom staatsmonopolistischen, sondern vom fordistischen Kapitalismus – eine Redeweise, die vermittelt über die in Kurt Hübners Artikel erwähnte französische Regulationsschule auch von Michel Aglietta beeinflusst war.
In gewisser Weise ähnlich gelagert, aber in seiner Wirkung – vermutlich auch aufgrund seiner Zugänglichkeit im deutschsprachigen Raum – expliziter, war übrigens das 1984 unter dem Titel „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“ erschienene Buch von Burkhart Lutz.
Die hinter diesem Wechsel des Deutungsrahmens liegende Motivation lag m. E. zum einen darin, die bisherige Rolle des Sozialstaats und der mit ihm in besonderem Maße verbundenen Sozialdemokratie in ihrer substanziellen Bedeutung für den zeitgenössischen Kapitalismus besser verstehen (und in gewisser Weise auch wertschätzen) zu können – insbesondere auch in der Verbindung von sozialer Kohäsion und Innovation.
Zum Zweiten aber war dieser Blick auf die Produktions- und Konsumtionsweisen verbindenden sozialen Arrangements auch besser geeignet, die Arrangements selbst wiederum radikalkritisch etwa hinsichtlich ihrer Implikationen für die Geschlechterbeziehungen und die ökologischen Herausforderungen zu hinterfragen. Und – beides zusammengenommen – verbesserte zum Dritten wiederum die Möglichkeit, zu tragfähigeren Schlussfolgerungen für die Zukunft progressiv-emanzipatorischer Bewegungen und Arrangements zu gelangen.
Michel Aglietta (1938 – 2025)
Michel Aglietta (1938 – 2025)
Von all den theoretischen Versuchen, die Häutungen des Kapitalismus zu ergründen, zählt Michel Agliettas Großwerk A Theory of Capitalist Regulation. The US Experience zu den wichtigsten und einflussreichsten, die im letzten Teil des 20. Jahrhunderts publiziert wurden. Erschienen im Original im Jahr 1976 wurde das Buch bereits 1979 von Verso auf Englisch veröffentlicht und dadurch einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht. Es ist ein komplexes Werk, das damals neuere ökonomietheoretische Ideen und Konzepte mit einer Marx-inspirierten Analyse der Kapitalakkumulation in Verbindung brachte. Lange bevor Post-Keynesianer wie Paul Davidson durch eine Neulektüre von Keynes die zentrale Rolle von Geld in einer kapitalistischen Ökonomie herausarbeiteten, hat Aglietta versucht, Geld systematisch in seinen originär marxistischen Ansatz einzuarbeiten, und sich dabei nicht gescheut, Anregungen von Keynes aufzunehmen, aber auch darüber hinausgehend neuere finanztheoretische Erkenntnisse zum Kreditsystem zu überdenken. Keine kleine Sache, wenn man bedenkt, dass die vorherrschende ökonomische Theorie der Neoklassik – bis heute – ein geldloses Paradigma ist, das gerade einmal ‚Geld’ als numeraire versteht, und dass die damals diskutierten marxistischen Analysen Geld und lange Zeit auch dem Finanzregime wenig systematische Beachtung schenkten. Mit seiner zusätzlichen Konzeptualisierung der Rolle gesellschaftlicher Institutionen wurde Neuland beschritten.
Die Frage damals wie heute ist, wie man die Häutungen kapitalistischer Regime erklären kann, und wie es kommt, dass die kapitalistische Dynamik, getrieben von der profithungrigen Suche nach Innovationen, nicht zu einem Zustand der andauernden Instabilität, oder alternativ zu einer verfestigten technologiebedingten Monopolisierung führt. Aglietta erklärte die – zeitlich begrenzte – Kohäsion eines gegebenen Akkumulationsregimes mit speziellen institutionellen Arrangements, insbesondere mit der Rolle des sogenannten Lohnverhältnisses, das Konsumnachfrage wie soziale Integration der Lohnarbeit mit den Prozessen der Kapitalakkumulation und insbesondere dem finanziellen Regime verband. Akkumulationsregime sorgen für Phasen, bei denen Innovation und soziale Kohäsion simultan produziert und reproduziert werden. Es lohnt sich gerade auch heute seine Idee der gesellschaftlichen Mediation als strukturelles Selbstbegrenzungselement zu verstehen.
Hier eine zentrale Stelle:
„Um eine kohärente Produktivkraft zu gewährleisten, eine, die in der Lage ist, das ihr zur Verfügung stehende Arbeitspotenzial zu bewahren, muss der Kapitalismus durch einschränkende Strukturen gebremst werden. Solche Strukturen sind nicht das Ergebnis kapitalistischer Selbsteinsicht oder das spontane Ergebnis des Wettbewerbs, sondern gehen vielmehr von der Generierung gesellschaftlicher Institutionen hervor, die durch kollektive Werte legitimiert werden, aus denen Gesellschaften ihren Zusammenhalt schöpfen. Dieser Zusammenhalt ist das Produkt sozialer Interaktionen, die verschiedene Formen annehmen: Konflikte, von denen einige gewalttätig sein können, Debatten, die ihren Weg in die politische Arena finden, Vereinigungen, die Gruppen von Arbeitern kollektive Stärke verleihen, und gesetzliche Bestimmungen, die soziale Rechte einführen und festigen. Innerhalb seiner eigenen Reihen entfesselt der Kapitalismus Konflikte, die seine eigene Entwicklung behindern. Aber es beschwört auch Kräfte, die sich seinem Wunsch nach Akkumulation widersetzen, Kräfte, die einen Weg finden, diese Opposition in die gesellschaftliche Mediation zu lenken. In einem historischen Kontext ist es diese Vermittlung, die den Begriff der Lohngesellschaft ausmacht. Dank dieser Vermittlung können Prozesse der Kapitalakkumulation auch die Lebensbedingungen der Arbeiter verbessern. Technischer Fortschritt kann in sozialen Fortschritt umgewandelt werden. Das ist natürlich nur eine Möglichkeit; alles hängt von der Schaffung von Vermittlungsmechanismen und ihrer Wirksamkeit als Mediatoren ab.”
Im Nachwort zu der Wiederauflage des Buches heißt es dann:
„Die Schaffung von Institutionen ist ein essentieller politischer Vorgang, und Politik ist niemals ein individuelles Unterfangen. Staatsinterventionen, industrielle Konflikte und auch durch Gesetzgebung formalisierte Kompromisse müssen in Rechnung gestellt werden, um Veränderungen von Institutionen zu verstehen und die hierarchischen Strukturen dieser Beziehungen zu beschreiben. Die Regulationsweise steuert die Spannung zwischen der expansiven Kraft des Kapitals und dem demokratischen Prinzip. Dieses Prinzip ist die Quelle des Vermittlungsmechanismus, das wiederum reguläre makroökonomische Muster generiert, die es erlauben, dass Kapitalakkumulation mit gesellschaftlicher Kohäsion vereinbar ist.“ (Übersetzungen k.h.).
Impulsgeber für die Regulationstheorie
Dieses Konzept wurde schnell von anderen französischen Forschern aufgenommen, insbesondere von Robert Boyer und dessen Kollegen, und dann als ‚École de la Régulation‘ weit über die französischen Grenzen hinaus bekannt. Anders als Aglietta hat diese Schule allerdings den marxistischen Rahmen nie weiter verfolgt. Die vielen Fordismus- und Post-Fordismus-Studien wendeten sich, soweit sie ökonomisch fundiert waren, eher keynesianischen Analyserahmen zu. Oder sie wurden, wie etwa die nach wie vor lesenswerte Analyse von Joachim Hirsch und Roland Roth, in post-marxistischen Kleidern präsentiert. Das Konzept sozialer Institutionen und normativer Konventionen, inklusive dem Verständnis von Geld als sozialer Institution, ist Dank Aglietta ein wichtiger Bestandteil späterer Analysen geworden und hat zum Verständnis kapitalistischer Akkumulationsregime enorm beigetragen.
Aglietta hat in den 1980er- und 1990er-Jahren eine intensive Theoriedebatte angestoßen, seine weiteren Arbeiten dann auf die Bereiche Geld und Währung konzentriert. Diese Arbeiten wurden freilich weniger stark rezipiert, vielleicht auch, weil sie oft eine eher soziologische und fundamental post-marxistische Ausrichtung hatten, und dieses Feld von Politökonomen eher gemieden wurde. Oder aber einfach deshalb, weil Aglietta gerade seine Arbeiten zu Geld und Schulden (Money: 5000 Years of Debt and Power, Verso 2018) immer auch mit einem Generalangriff auf das vorherrschende ökonomische Paradigma verband, und Modell-orientierte Ökonomen an Arbeiten, die Geld als soziale Institution und Regler kapitalistischer Reproduktion verstehen, kein Interesse hatten.
Heute ist keine Rede von einer radikal-theoretischen marxistischen Debatte im Geiste von Aglietta, und die Arbeiten der ‚École de la Régulation‘ sind in einen breiteren Theoriestrom eingegangen, der wesentlich von den Arbeiten von Peter A. Hall und David Soskice getragen wurde. Das dort fortgeschriebene Konzept einer Varietät nationaler Kapitalismen atmet zwar den Ursprungsgeist von Aglietta, hat dann allerdings eine andere Richtung genommen, die mehr formale Institutionen und weniger die normativen Konventionen oder gar die sozialen Basisinstitutionen wie etwa Geld in Augenschein nahmen.
Michel Aglietta war ein unabhängiger Denker, der von der Wichtigkeit seiner Arbeiten auch dann überzeugt war, wenn sie nicht breit diskutiert wurden. Ich erinnere die erste große internationale Konferenz zur Regulationstheorie in Barcelona, wesentlich organisiert von Robert Boyer. Ich war zusammen mit Aglietta und Robert Goodman auf einem Panel zum US-Dollar als internationale Währung. Wir hatten zusammen 90 Minuten, um unsere Gedanken vorzutragen. Aglietta beanspruchte 75 Minuten, und Goodman und ich hatten uns die restlichen 15 Minuten zu teilen. Sendungsbewusstsein wie das vieler französischen Intellektuellen zu der Zeit war ihm nicht fremd. Er ist im April 2025 verstorben.
