Machen wir mehr Gesellschaftspolitik!
#asj #mit recht politisch #spw
28.11.2025

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Dr. Antje Draheim ist Co-Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen in der SPD; Landesvorsitzende der ASJ in Mecklenburg-Vorpommern und Staatssekretärin a.D.
VON Antje Draheim
Wir als Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen (ASJ) berufen uns seit mehr als 70 Jahren auf den Grundsatz „Rechtspolitik ist Gesellschaftspolitik“. Dieser Grundsatz ist für uns konstitutive Legitimation; Rechtsstaat nicht nur als Herrschaft des Rechts, sondern als fortdauernde Sicherung der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, als Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit und Verteidigung der Menschenrechte. Dies ist unsere Signatur in der politischen Parteienlandschaft. Als Arbeitsgemeinschaft sind wir Teil der SPD, wir „sind Bindeglied zu den gesellschaftlichen Gruppen“1. Das politische, gesellschaftliche und ökonomische Umfeld für Politik und damit auch für Rechtspolitik hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Das hat Rückwirkungen auf unsere fachliche, rechtliche Arbeit, mit denen wir uns stärker lösungsfokussiert und politischer als bisher beschäftigen müssen2:
- Öffentliche Meinung: Seit ca. 15 Jahren sehen wir weltweit große Verwerfungen der Meinungsbildung, in den letzten Jahren auch verstärkt in Deutschland. Der politische und öffentliche Diskurs wird nicht mehr allein (und manchmal auch gar nicht mehr) durch die demokratischen Parteien bestimmt. Die Rolle und Wirkung der – sehr unterschiedlichen – sozialen Medien dabei wird nach wie vor erheblich unterschätzt. Angebote öffentlicher Medienanstalten werden in Frage gestellt, Zeitungen verschwinden oder sind auf wenige Eigentümern konzentriert. Mediennutzung wird selektiver, Informationsflüsse, -kanäle, -räume verändern sich, schotten sich ab. Auseinandersetzungen im politisch-öffentlichen Raum finden häufig reaktiv statt: Man reagiert auf Behauptungen, die oft faktenfrei getroffen wurden – es werden „Phantomdebatten“ geführt3; Diskussionen werden abgeschnitten, zugespitzt, verfremdet, gehen viral und entzünden öffentliche Empörungswellen. Es gibt projektbezogene Protestgruppen, Parteien, die sich splitten; Internetbewegungen, über Plattformen organisierte Kurzzeit-Aktionen – die tradierte Rolle demokratischer Parteien in der Meinungsbildung zerfranst, geht verloren. Politische Willensbildung ist volatil, launenhaft, immer erregt und oft genug „dagegen“. All das verändert den medialen und ökonomischen Kontext für politisches Handeln.4
Wie gehen wir mit dieser Art der Meinungsbildung um (politisch und juristisch)? Gibt es Reformbedarfe für die öffentlichen Medien? Gibt es regulative Bedarfe für soziale Medien? Wie gestaltet man die Eindämmung von Fake News? Welchen Einfluss hat Künstliche Intelligenz auf Medien und Meinung? Wie kann Meinungsbildung von und über demokratische(n) Parteien wieder gestärkt werden? Gibt es weitere Instrumente, um Bürgerinnen und Bürger an der Willensbildung stärker partizipieren zu lassen? Wie stärkt man das Vertrauen in (welche) Meinungsbildungsprozesse?
- Rolle der Parteien: Demokratische Parteien als große „tradierte“ Organisationen kommen hierbei unter Druck. Das ist in einer Parteiendemokratie wie Deutschland fatal, rüttelt es doch an den zentralen Elementen des Staates. Parteien „(…) sind vornehmlich berufen, die Bürger freiwillig zu politischen Handlungseinheiten mit dem Ziel der Beteiligung an der Willensbildung in den Staatsorganen organisatorisch zusammenzuschließen und ihnen so einen wirksamen Einfluss auf das staatliche Geschehen zu ermöglichen. Den Parteien obliegt es, politische Ziele zu formulieren und diese den Bürgern zu vermitteln sowie daran mitzuwirken, dass die Gesellschaft wie auch den einzelnen Bürger betreffende Problem erkannt, benannt und angemessenen Lösungen zugeführt werden.“5
Parteien und Staat seien eben nicht dasselbe, vielmehr sei die „vom Grundgesetz vorausgesetzte Staatsfreiheit der Parteien (…) mithin nicht nur ein Verbot der Abhängigkeit vom Staat, sondern auch das Gebot der Abhängigkeit von Parteibasis und Bürgern.“6 Und aus diesem Grundsatz der Freiheit der Parteien vom Staat folgt „ein Gebot der fortdauernden Verankerung der Parteien in der Gesellschaft“.7 Das an Bürgerinnen und Bürger gebundene Parteiensystem ist in unserem föderalen System unabdingbar, um für gesellschaftliche Themen einen Konsens zu organisieren. Sehr bewusst sind unsere staatlichen Institutionen auf Kooperation ausgerichtet. Ein Parteiensystem, das sich gegenseitig blockiert, blockiert den Staat. Nur noch 9 % der Menschen haben Vertrauen in unsere Parteien, 46 % haben immerhin Vertrauen in die Partei, die sie wählen.8 Die Zahlen müssen uns besorgen, denn Vertrauen ist die politische Währung: „Wenn die Menschen das Gefühl haben, die Parteien seien nicht oder nicht mehr bereit oder fähig, jene Themen aufzugreifen und jene Probleme zu lösen, die ihnen wirklich auf den Nägeln brennen, dann kann es nicht erstaunen, wenn grundsätzlich gefragt wird: Sind die Parteien überhaupt die geeignete Form der Willensbildung und Machtorganisation in der repräsentativen Demokratie?“
(Wie) Können demokratische Parteien dem Auftrag der Zielformulierung und Willensbildung weiterhin gerecht werden? Brauchen wir weitere Elemente der Willensbildung? Sind demokratische Parteien so staatsfern und gesellschaftsverankert, wie es erforderlich ist? Was ist das jeweilige Maß dafür und wer überprüft das? Sollten Legislative und Exekutive weniger verschränkt miteinander sein? Wie erreichen demokratische Parteien – und erst recht wir als SPD – wieder die Verankerung in der (Breite) der Gesellschaft?
- Veränderte Gesellschaft: Es ist viel die Rede von der „Spaltung der Gesellschaft“9. Ein Großteil der Menschen10 in Deutschland nimmt eine Spaltung der Gesellschaft tatsächlich wahr.11 Gleichzeitig zeigen Befragungen, dass die Mehrheit der Bevölkerung einen breiten Konsens zu vielen Themen hat.12 Es gibt Themen, die stark polarisieren, bei denen sich dennoch Mehrheiten zugunsten eines Pols finden: so sind 75 % der Deutschen sehr besorgt über den Klimawandel, 79 % sehen große Ungleichheiten bei den Vermögen, immerhin 61 % finden, dass Migration das kulturelle Leben bereichert13. Hierbei wird deutlich, dass sich die Wahrnehmung selbst verändert hat14 und diese Wahrnehmung sich rückkoppelt in die gesamte Gesellschaft: Das wiederum führt zu Polarisierung trotz inhaltlicher Stabilität.15 Der Austausch zu solchen polarisierenden Themen wird in der Folge immer stärker bewusst vermieden. Auf politischer Ebene werden echte Zielkonflikte, die bestehen, nicht aufgelöst.16 Die Wahrnehmung fehlenden gesellschaftlichen Konsenses führt auch dazu, dass wichtige Projekte nicht mehr oder verändert angegangen werden und verstärkt die Sorge vor Veränderungen.17
Wie schaffen wir es, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken? Wie gelingt es den Demokraten, Kompromisse zu finden, die als Stärke und nicht als Spaltung wahrgenommen werden? Wie können wir als SPD für die polarisierenden Themen Lösungsvorschläge erarbeiten, die als Option – und nicht als Ergebnis – im politischen Wettbewerb diskutiert werden? Wie können wir als ASJ wieder zu einer Instanz in der Rechts- und Sozialpolitik werden, die Vorschläge z.B. zur Verringerung sozialer Ungleichheit, zum generationengerechten Umgang mit den Folgen des Klimawandels, zu mehr Bürgerbeteiligung und zur Gewährleistung von Chancengleichheit nicht nur macht, sondern auch innerhalb der SPD auf die Agenda setzt und durchsetzen kann? Wie schaffen wir es, die Wahrnehmung durch eigenes Handeln so zu beeinflussen, dass das Ideal eines liberalen Rechtsstaats mit mündigen Bürgerinnen und Bürgern, die ihre Rechte nicht nur kennen, sondern auch in Anspruch nehmen, erreichbar scheint? Wie vermitteln wir den Wert und die Institutionen des Rechtsstaats und echte Freude und Begeisterung an der Demokratie? Was sind unsere rechtspolitische Leitthemen?
- Sicherheit statt Krise: Immer gab es auf der Welt Krisen, Kriege und Herausforderungen. Deutschland rücken diese in den letzten Jahren bedrohlich nahe: die Flüchtlingsbewegungen, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, Terrorangriffe, Handelskriege, Angriffe auf den Rechtsstaat in Europa wie in den USA, die wirtschaftliche Stagnation in Deutschland und Europa.18 Man werde die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen, heisst es aus den Reihen der demokratischen Parteien und Institutionen. Man muss es auch, wenn man nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken will: Nur noch 22 % der Bürgerinnen und Bürger glauben, „dass Deutschland ausreichend vorbereitet ist, die großen Transformationsaufgaben unserer Zeit zu bewältigen.“19
Wie gelingt es der SPD den außen- und sicherheitspolitischen Sorgen der Bürgerinnen und Bürger so zu begegnen, dass Vertrauen in die eigene Stärke, in Bündnisse, in Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit wächst? Wie kann die ASJ sicherstellen, dass Außen- und Sicherheitspolitik nicht die Grundrechte beschädigt? Welche Maßnahmen sind notwendig und geeignet, wirtschaftlichen Aufschwung zu erzeugen? Wo sind die Herausforderungen der Zuwanderung, die uns als Gesellschaft schmerzen und wie können wir mit ihnen umgehen?
- Vielfältiges Partei-Innenleben: Es gab und gibt immer ein wieder durchaus spannungsreiches Verhältnis der ASJ zu unserer Partei, der Sozialdemokratie. Rechtspolitik gilt oft nicht viel, dabei geht am Ende wenig ohne sie. Die ASJ muss, wie die SPD auch, ein eigenes, unverwechselbares Profil haben.20
Die ASJ will die Positionen in der SPD mit beeinflussen, will gestalten. Das kann und muss auch öffentlich geschehen: Diskurse mitzugestalten, auch wenn man es nicht schafft, die Mehrheitsmeinung zu ändern, ist wichtig für die Wahrnehmung von unterschiedlichen Positionen in der Gesellschaft: „Auch innerhalb der Parteien muss breit und kontrovers diskutiert werden. Das verträgt sich nicht mit dem ständig wiederholten beschwörenden Ruf nach ‚Geschlossenheit‘, mit dem Überspielen innerparteilicher Kontroversen, der Ausgrenzung von ‚Querdenkern‘, mit aller Art von Kanalisierung und Egalisierung im Interesse einer glatten Parteifassade. All das trägt dazu bei, dass die Parteien nicht genug Ideen entwickeln und nicht genug Persönlichkeiten herausstellen, mit denen sich die Wahlbürger identifizieren wollen und mit deren Hilfe die Parteien in einen wirklichen, nicht nur in einen vorgeblichen und von der Medien-Wirkung bestimmten Wettkampf treten können. Das heißt: sie werden für die Bürgerinnen und Bürger uninteressanter.“21
An Diskussionsfreude in der ASJ mangelt es nicht. Wir müssen jedoch wieder stärker ins Handeln kommen: Für Juristinnen und Juristen heisst das, Positionspapiere und konkrete Gesetzgebungsvorschläge zu wirklich gesellschaftlich relevanten Themen zu formulieren, breit zu diskutieren, Kompromisslinien finden, andere überzeugen. Das heißt, zu den Menschen zu gehen, in großen Veranstaltungen wie im Dialog, zu denen, die nicht unsere Position vertreten. Das ist harte Arbeit, man braucht einen langen Atem und gute Partner. Man braucht gut vernetzte Mitglieder, die bereit sind, im Ehrenamt für sozialdemokratische Rechtspolitik zu streiten. Bei allen oben genannten und sonstigen Herausforderungen, ist dabei zunächst zu fragen:
Was können wir als ASJ für eine starke Sozialdemokratie leisten? Wie wird die ASJ zum zentralen Agenda Setter in der SPD für rechtspolitische Themen? Bedienen diese Themen die derzeit relevanten Themen der Gesellschaft?
Letztlich bedeutet es sehr nüchtern und konkret: Welchen Teil tragen wir als ASJ zum Erfolg der SPD bei? Schaffen wir es, mit unserer Arbeit gesellschaftliche Gruppen an die SPD zu binden? Sprechen wir unterschiedliche – auch neue – Gruppen an? Kann die SPD unsere Arbeitsergebnisse am Ende auch konstruktiv nutzen?
Literatur
