Heft 260 – 03/2024
It’s the infrastructure, stupid! Wie die Bahn endlich wieder zuverlässig werden könnte
#meinung #debatte #spw

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Cosima Ingenschay, 45, lebt in Berlin und ist stellvertretende Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft und Mitglied im Aufsichtsrat der DB AG.

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Florian Wrobel, 46, lebt in Erlangen und leitet die Beratungsagentur der gewerkschaftlichen EVA Akademie. Er berät Aufsichts- und Betriebsräte der Eisenbahnunternehmen in Deutschland.
VON Cosima Ingenschay und Florian Wrobel
Die Qualität der Deutschen Bahn ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Im vergangenen Jahr lag die durchschnittliche Pünktlichkeit aller Fernverkehrszüge auf dem deutschen Schienennetz bei nur etwa 65 Prozent. Im August 2024 sank dieser Wert sogar auf 60 Prozent. Auch die Güterzüge der DB Cargo AG verzeichnen ähnlich schlechte Pünktlichkeitswerte. Diese Entwicklung sorgt nicht nur bei Bahnreisenden für Frust, sondern verursacht auch erhebliche Schäden für die deutsche Wirtschaft.
Die Gründe dafür sind vielfältig und bekannt. Fachkräftemangel, insbesondere bei Lokführer* innen, Qualitätsprobleme bei den Zugherstellern oder falsche Prioritäten der Eisenbahnunternehmen tragen alle zu den Schwierigkeiten bei. Doch von den meisten Expert*innen wird zu Recht die seit Jahrzehnten vernachlässigte Schieneninfrastruktur als Hauptursache ausgemacht.
Wie marode das Schienennetz in Deutschland tatsächlich ist, zeigt der sogenannte „InfraGo- Zustandsbericht 2023“. Dieser Bericht, erstellt von der neu geschaffenen gemeinwohlorientierten Infrastrukturgesellschaft der DB AG (DB InfraGo AG) im Auftrag der Bundesregierung, analysiert und bewertet den Zustand der gesamten Schieneninfrastruktur in Deutschland – dazu gehören Strecken, Brücken, Tunnel, Weichen und Signalanlagen. Die Bewertung erfolgt anhand von Notenstufen und weiteren Kennzahlen.
Das Ergebnis ist alarmierend: Große Teile des Schienennetzes, insbesondere auf hochfrequentierten Streckenabschnitten, sind dringend sanierungsbedürftig. Besonders betroffen sind Stellwerke, Weichen und Bahnübergänge. Über 25 Prozent aller Stellwerke sind in einem derart schlechten Zustand, dass sie dringend erneuert werden müssen. Dass viele dieser Anlagen noch mit Technik aus „Kaisers Zeiten“ arbeiten, überrascht daher kaum.
Die Dringlichkeit der Erneuerungen wird besonders an einer Zahl deutlich: Die DB InfraGo AG schätzt den Wert der Anlagen, die aufgrund eines erhöhten Störaufkommens kurz- oder mittelfristig erneuert werden müssen, auf rund 92 Milliarden Euro. Dies betrifft sämtliche Anlagen, die als „schlecht“, „mangelhaft“ oder „einschränkend“ bewertet wurden. Diese Summe entspricht etwa 16 Prozent des Wiederbeschaffungswertes des gesamten DB-Schienennetzes. Angesichts der angespannten Haushaltslage des Bundes – der laut Grundgesetz (Art. 87e GG) für die Investitionen in die Schieneninfrastruktur verantwortlich ist – wird schnell klar, welche Mammutaufgabe hier bevorsteht. Die Deutsche Bahn AG wird diese Summen allein keinesfalls schultern können.
Um einen vollständigen Kollaps des Eisenbahnverkehrs zu verhindern, haben sich die Deutsche Bahn AG und der Bund darauf verständigt, bis 2030 im Rahmen von 40 Sanierungsprojekten mehr als 4.000 Kilometer Schienenwege auf den am stärksten frequentierten Streckenabschnitten zu modernisieren. Dies soll etwa 40 Milliarden Euro kosten. Ziel ist die Schaffung eines 9.200 Kilometer umfassenden Hochleistungsnetzes. Doch die Finanzierung ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse von 2023 und den daraus resultierenden Kürzungen im Bundeshaushalt erneut ungewiss.
Kurzum: Es mangelt nicht an Erkenntnissen – doch was genau muss geschehen, um das deutsche Schienennetz mittel- und langfristig wieder auf Vordermann zu bringen?
1. Staatliche Steuerung notwendig
Der Staat muss endlich seiner Verantwortung gerecht werden und die Steuerung im Bereich der Schieneninfrastruktur übernehmen. Ein zentraler Hebel könnte der geplante langfristige Infrastrukturplan des Bundes sein, der gemeinsam mit der Bahn entwickelt wird. Dieser Plan sollte ein klar definiertes Zielnetz sowie die notwendigen Aus-, Neubau- und Instandhaltungsmaßnahmen für einen bestimmten Zeitraum umfassen.
Ein Blick nach Österreich, das oft als Vorbild für ein funktionierendes Eisenbahnsystem gilt, zeigt, wie erfolgreich ein solches Vorgehen sein kann. Der Staat legt dort gemeinsam mit der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) ein Zielnetz fest, das seine langfristige Schienenstrategie beschreibt, um beispielsweise klima- und verkehrspolitische Vorgaben zu erfüllen. Derzeit befindet sich das „Zielnetz 2040“ in der Endabstimmung.
Umgesetzt wird dieses Zielnetz über den sogenannten „ÖBB-Rahmenplan“. Dieser enthält sämtliche geplante Projekte und das dazugehörige Investitionsvolumen für einen fortlaufend aktualisierten Sechsjahreszeitraum. Enthalten sind auch alle Kosten für die notwendige Instandhaltung des Netzes. Auch andere Nachbarstaaten wie die Schweiz oder die Niederlande verfolgen ähnliche Ansätze.
2. Auskömmliche Finanzierung
Es klingt banal, aber keine Bahn der Welt kann aus eigenen Mitteln ein flächendeckendes Schienennetz bauen und unterhalten. Daher bedarf es einer wirklich auskömmlichen staatlichen Finanzierung. Hier hat Deutschland erheblichen Nachholbedarf.
Zwar haben sich die Pro-Kopf-Investitionen in das deutsche Schienennetz seit 2010 nahezu verdoppelt, was insbesondere der steigenden Mittelbereitstellung in den letzten drei Jahren durch Klimapakete und einer verstärkten Bereitstellung von Eigenkapital für die Deutsche Bahn AG zu verdanken ist. Doch mit 115 Euro pro Kopf liegt Deutschland noch weit hinter anderen Ländern wie der Schweiz (477 Euro), Österreich (336 Euro) und Großbritannien (215 Euro). Dies verdeutlicht die Allianz pro Schiene in ihrem jährlichen Investitionsvergleich europäischer Staaten.
Trotz des deutlichen Anstiegs der Bundesmittel fehlen laut DB InfraGo AG in der aktuellen Finanzplanung des Bundes bis 2030 etwa 60 Milliarden Euro für die Generalsanierung des Netzes sowie kapazitätserweiternde Investitionen. Ohne diese zusätzlichen Mittel wird die Bahn gezwungen sein zu priorisieren, um wenigstens die notwendigsten, sicherheitsrelevanten Instandhaltungsmaßnahmen umsetzen zu können.
Wichtige Modernisierungsprojekte, wie die Digitalisierung der Stellwerke oder die Elektrifizierung von Strecken, müssen dann vorerst aufgeschoben werden. Von einer Modernisierung der Schiene kann unter solchen Bedingungen keine Rede sein. Zusätzliche Kapazitätseinschränkungen, Verspätungen und eine erhebliche Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs gegenüber dem Straßen- und Luftverkehr wären die Folge.
3. Überjährige Finanzierung zur Schaffung von Planungssicherheit
Langfristige Infrastrukturprojekte, wie die großangelegte Sanierung von Schienenstrecken oder der Ausbau von Bahnhöfen, erfordern Planungssicherheit. Diese ist mit dem Prinzip der jährlichen Haushaltsaufstellung oft nicht vereinbar. Hinzu kommt, dass mehrjährige Bauprojekte eine gewisse finanzielle Flexibilität verlangen, da Preissteigerungen und unvorhersehbare Ereignisse die Kostenentwicklung schwer kalkulierbar machen. Ohne langfristige Planungssicherheit führt dies häufig zu Ineffizienzen und steigenden Kosten.
Eine Lösung könnte die Entkoppelung der Investitionsmittel von den jährlichen Haushaltsberatungen und der Schuldenbremse sein. Vorstellbar wäre etwa ein Schienenfonds, der eng mit dem erwähnten Infrastrukturplan abgestimmt ist und langfristige Mittel bereitstellt. Ein ähnliches Modell existiert bereits in der Schweiz, die ebenfalls oft als Vorbild für die Qualität im Schienenverkehr gilt. Dort wurde vor einiger Zeit ein Bahninfrastrukturfonds geschaffen, der sowohl den Ausbau als auch den Unterhalt der Eisenbahninfrastruktur finanziert und so langfristige Planungs- und Umsetzungssicherheit bietet.
4. Verschlankung der Förderarchitektur
Um den Ausbau der Schieneninfrastruktur in Deutschland zu beschleunigen, ist es notwendig, die bestehenden rund 200 Fördertöpfe zu reduzieren und die Genehmigungsverfahren zu vereinfachen.
Die aktuelle Förderarchitektur verursacht einen enormen bürokratischen Aufwand. Projekte verweilen im Durchschnitt fünf bis sieben Jahre in der Planungs- und Genehmigungsphase, bevor mit dem eigentlichen Bau begonnen werden kann. Diese Verzögerungen kosten nicht nur Zeit, sondern auch Geld: Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2020 steigen die Kosten aufgrund von Verzögerungen bei Infrastrukturprojekten um 20 bis 30 Prozent.
Hinzu kommt, dass die Zersplitterung der Zuständigkeiten zu einer ineffizienten Vergabe von Fördermitteln führt. Laut DIW blieben im Jahr 2021 etwa 2,4 Milliarden Euro an Fördermitteln für Schienenprojekte ungenutzt. Dies verlangsamt den dringend benötigten Netzausbau, besonders im Vergleich zu Ländern wie der Schweiz, wo Genehmigungsverfahren um etwa 40 Prozent schneller abgewickelt werden und Fördertöpfe klarer strukturiert sind.
5. Punktuelle und vorübergehende Reduzierung von Verkehrsmengen
Um während der Generalsanierung des Netzes einen verlässlichen Fahrplan zu gewährleisten, könnten gezielte, temporäre Reduzierungen von Verkehrsmengen auf besonders belasteten Streckenabschnitten sinnvoll sein. Dadurch lässt sich die Belastung des ohnehin überbeanspruchten und durch Baustellen sowie Langsamfahrstellen beeinträchtigten Netzes verringern. Kurzfristig könnte so die Pünktlichkeit und betriebliche Qualität verbessert werden.
Eine interne Untersuchung der Deutschen Bahn AG zeigt, dass ein solches Vorgehen zu einer Verbesserung der Pünktlichkeit um bis zu 15 Prozent führen kann. Länder wie Frankreich und die Schweiz haben ähnliche Maßnahmen bereits erfolgreich ergriffen. Wichtig ist jedoch, dass nach Abschluss der Baumaßnahmen das ursprüngliche Angebot wiederhergestellt wird, um den Verkehr in vollem Umfang bedienen zu können.
6. Die Bahn als attraktiver Arbeitgeber
Angesichts des Fachkräftemangels in der Bahnbranche müssen die Eisenbahnunternehmen verstärkt als attraktive Arbeitgeber auftreten – insbesondere im operativen Bereich. Für die geplante schnelle Sanierung der Infrastruktur bedarf es einer großen Anzahl von Planer*innen, Bauüberwacher*innen und Gleisarbeiter*innen. Diese müssen in Großprojekten gebündelt eingesetzt werden und dürfen nicht an anderen Stellen fehlen. Ein gezielter Personalaufbau in diesen Bereichen ist deshalb unumgänglich. Ähnliches gilt auch für das operative Personal, das direkt auf den Zügen und in den Wartungswerken tätig ist. Diese Beschäftigten arbeiten aktuell bereits am Limit und sorgen vor allem durch Schichtarbeit und mit einer hohen Identifikation mit ihrer Arbeit dafür, dass der Betrieb trotz der gravierenden Mängel überhaupt noch aufrechterhalten werden kann.
Die derzeit geplanten Stellenkürzungen bei der Deutschen Bahn AG – über 30.000 Stellen sollen abgebaut werden – kommen zur Unzeit und sorgen sowohl bei der Belegschaft als auch bei potenziellen Bewerber*innen für Verunsicherung. In Anbetracht der katastrophalen betrieblichen Lage im Unternehmen ist es wenig verwunderlich, dass viele Mitarbeiter*innen aus Frust nach alternativen Arbeitsplätzen suchen. Statt über einen solch großen Stellenabbau zu diskutieren, sollten dringend die Arbeitsbedingungen weiter verbessert und die gezielte Nachführung von Personal und der Transfer vom systemischen „Eisenbahner-Wissen“ im Vordergrund der Personalpolitik stehen.
7. Effiziente Aufstellung der DB AG als integrierter Konzern
Die Deutsche Bahn AG muss als Gesamtkonzern effizienter aufgestellt werden. In den letzten Jahren gab es in vielen Bereichen, insbesondere in den Zentralen, einen überproportionalen Zuwachs an Führungspositionen. Diese kostenintensiven Strukturen sollten einer kritischen Prüfung unterzogen und, wenn nötig, reduziert werden. Auch Doppelfunktionen müssen hinterfragt und nach und nach abgebaut werden.
Der Fokus auf Effizienz darf jedoch nicht in endlosen akademischen und ideologischen Strukturdebatten versanden. Solche Diskussionen lenken nur von den eigentlichen Problemen ab, nämlich der chronischen Unterfinanzierung des Schienennetzes. Die häufig geforderte Zerschlagung der Deutschen Bahn AG würde die bestehenden Probleme nicht lösen – sie würde weder einen Meter Schiene sanieren noch die betriebliche Qualität verbessern. Stattdessen drohen wichtige Synergien innerhalb des Systems verloren zu gehen, was letztlich auch die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten verschlechtern könnte. Forderungen wie „mehr Güter auf die Schiene“ bleiben ohne eine intakte Infrastruktur reine Wunschvorstellungen.
Eine Trennung von Eisenbahninfrastruktur und Verkehrsunternehmen bietet keinerlei betriebliche oder verkehrspolitische Vorteile gegenüber der heutigen Struktur. Im Gegenteil: Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass integrierte Eisenbahngesellschaften wie in der Schweiz, Österreich oder Frankreich erfolgreich arbeiten. In Großbritannien hingegen führte die Trennung von Infrastruktur und Verkehr zu erheblichen Problemen, weshalb die Labour-Regierung die Rückabwicklung dieser Trennung plant. Auch Frankreich hat seine Eisenbahninfrastruktur vor einigen Jahren wieder in die nationale Bahngesellschaft SNCF integriert.
8. Wirtschaftliche Stabilität der DB AG
Langfristig wird der Staat nicht in der Lage sein, Investitionen im derzeitigen Umfang fortzuführen. Daher ist es entscheidend, die wirtschaftliche Stabilität der Deutschen Bahn AG zu gewährleisten, um ihre Kreditwürdigkeit auf den Kapitalmärkten zu sichern. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Stabilisierung ist der nachhaltige Abbau der Schuldenlast, die derzeit bei rund 33 Milliarden Euro liegt (Nettofinanzschulden).
Jährlich zahlt die Deutsche Bahn AG über 600 Millionen Euro an Zinsen – Gelder, die durch den Betrieb der Eisenbahn in Deutschland aktuell nicht erwirtschaftet werden können. Nur durch einen Schuldenabbau wird die Deutsche Bahn in die Lage versetzt, eigenständig in die Modernisierung der Infrastruktur, neue Fahrzeuge und die betriebliche Qualität zu investieren.
Vor diesem Hintergrund ist es zwingend notwendig, dass Erlöse aus dem Verkauf der DB Schenker AG vollständig in den Schuldenabbau der DB AG fließen.
In Summe ist der Staat in den letzten Jahrzehnten seiner Aufgabe der Daseinsfürsorge im Bereich der Schieneninfrastruktur nicht ausreichend nachgekommen. Hinzu kam ein Bahn- Management, das die Situation schöngeredet und falsche Prioritäten gesetzt hat. Im Augenblick kann man leise Hoffnung auf eine Kurskorrektur hegen, aber deren Umsetzung wird Fahrgästen, Beschäftigten und der Wirtschaft viel Geduld abverlangen. Das gehört leider zur bitteren Wahrheit dazu.