Gegenmacht organisieren: Das Gebot der Stunde

#programmdebatte #orientierungsrahmen #spw

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Dirk Meyer ist Historiker und Ministerialdirektor a.D. Er lebt in Berlin.

VON Dirk Meyer

In seinem Weckruf skizziert Werner Kindsmüller eindrücklich, vor welch historischer Bedeutung die deutsche Sozialdemokratie steht:

„In einer Zeit, in der sich das Kapital von allen sozialen Verpflichtungen befreien will, schlägt nicht die Stunde der Versöhnung. Die Idee der Sozialdemokratie hat nur eine Zukunft, wenn es uns gelingt, der gesellschaftlichen Hegemonie der Kapitalfraktionen eine Gegenmacht entgegenzusetzen.“

Dieser Eindrücklichkeit und ihrer daraus folgenden Handlungsnotwendigkeiten will ich Eindringlichkeit und erste konkrete Vorschläge hinzufügen.

Dringlichkeit verstehen und annehmen

Sechs Monate sind eine kurze Zeit. In dieser Zeit ist es US-Präsident Trump in seiner zweiten Amtszeit unter anderem gelungen, aus einer stabilen eine defekte und gefährdete Demokratie zu machen, das Konzept „des Westens“ für immer zu beenden, ganze Volkswirtschaften über willkürliche Zölle dem Abgrund nahezubringen, sich selbst und seine kapitalistischen Bündnispartner massiv zu bereichern – kurzum: die USA zu einem Vorbild für eine libertär-autoritäre Transformation zu entwickeln. Der Beutekapitalismus neuen Typs hat in den USA einen mächtigen Leitstern, der gerade vormacht, wie rasend schnell und weitgehend widerstandslos das gehen kann.

Diese Transformation folgt einem gut vorbereiteten Plan. Das Drehbuch kommt nicht aus dem Nichts, es steht am Ende eines längeren Veränderungsprozesses, der im Falle der USA mit der Tea-Party-Bewegung innerhalb der Republikanischen Partei begonnen hat, aus den Erfahrungen der ersten Regierungsphase Trumps gelernt hat und im „Project 2025“ schließlich beschreibt, was mit welcher Geschwindigkeit zu tun ist. Schaut man sich die Transformationen etwa in Ungarn, Indien oder Argentinien an, wird die globale Dimension deutlich. Und mahnt: Genauso und genauso schnell könnte es in Frankreich oder bei uns passieren.

Danach ist sofort alles anders. Für jeden und jede, die sich heute zum gesellschaftlich linken und/oder progressivem Lager zählt, demokratische Parteien, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, Frauen, Migrant*innen, Journalist*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Jurist*innen usw. kann über Nacht alles anders sein, ganz real, existenzbedrohend. Eine solche staatsstreichartige Transformation muss nicht, aber sie kann passieren. Jederzeit, nicht erst 2029. Sie ist keine Gesetzmäßigkeit, aber eben auch nicht unwahrscheinlich. Sie zu verhindern wiederum stellt sich ganz sicher nicht von alleine her. Erst recht nicht ein mehrheitsfähiger progressiver und/oder linker Gegenentwurf.

Was wie eine Binsenwahrheit klingt, ist es nicht, denn es ist zu still, zu unorganisiert, zu sektoral, zu langsam, zu schlafwandlerisch in der SPD, in der gesellschaftlichen Linken, im progressiven Spektrum.

Das ist einerseits verständlich. Andererseits aber eben auch fahrlässig.

Verständlich, weil der Glaube, wir befänden uns in der unabwendbaren und vermeintlich hegemonialen sozial-ökologischen Transformation eben nur vermeintlich war: Über nahezu alle politischen Sektoren hinweg erleben wir heute schon einen Rückschlag historischen Ausmaßes. Die Defensive, in der das Progressive steckt, ist groß, die Lage unübersichtlich, die globale Rechte im Vormarsch. Verständlich auch, dass Überraschungsgewinner wie die Partei Die Linke noch im utopischen Überschwangrausch wie einst die Grünen sind – und hoffen, die gesellschaftliche Linke absehbar anführen zu können, anstatt ein breites gegenhegemoniales Bündnis anzustreben.

Fahrlässig ist dies alles, weil der Gegner stark, die osmotischen Annäherungsprozesse der CDU/CSU zur AfD in vollem Gange und die Kräfteverhältnisse innerhalb des progressiven Lagers bislang maximal Nullsummenspiele sind.

So lautet das Gebot der Stunde: Die Arbeit an einer Gegenhegemonie steht unter enormem Zeitdruck, sie braucht übergreifende Strukturen, die ihr helfen, schnell ins Verstehen und Tun zu kommen, die gleichzeitig eine vorbereitende Vorsorge sind, um auch im Falle repressiver Zeiten sofort handlungsfähig zu sein.

Was nun ist zu tun?

In Werner Kindsmüllers Weckruf finden sich wichtige Hinweise, die zum einen deutlich machen, was innerhalb der deutschen Sozialdemokratie ansteht, aber auch, wie dies mit der gesellschaftlichen Linken und den progressiven politischen Kräften zu verbinden ist.

Die Ansatzpunkte, die beim Organisieren der Gegenmacht zu fokussieren sind, müssen ineinandergreifen und sind keinesfalls sequentiell zu verstehen. Sie müssen gleichzeitig passieren und sie müssen als agiler Prozess gedacht werden, in dem jederzeit die Hypothesen des „Vortages“ einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.

Der erste Ansatzpunkt ist die inhaltlich-programmatische Arbeit, das Wiederfinden des strategischen Kompasses: Wie sind die Konturen der neuen politisch-ökonomischen Ordnung des Kapitalismus? Dazu braucht es die intellektuelle Mobilisierung des gesamten institutionellen Ökosystems der emanzipatorischen Kräfte in neuen Diskursräumen.

Zum zweiten braucht es hieran anknüpfende alltagstaugliche Referenzrahmen, Triggerpunkte, Erprobungs- und Erfahrungsfelder in der unmittelbaren politischen Auseinandersetzung, um über den politischen Kampf ins gemeinsame Spiel zu kommen.

Zum dritten, auch darauf weist Werner Kindsmüller indirekt hin, braucht es eine Medienstrategie, die an der radikal veränderten Struktur des Öffentlichen ansetzt, um in der digital vermachteten Medienwelt (auch unter repressiven Bedingungen) gehört zu werden.

Zum vierten braucht es eine europäische, besser noch globale Vernetzung, um in diesem globalen Kampf bestehen zu können.

Programmatische Gravitationskraft in neuen Diskursräumen schaffen

Die gesellschaftliche Linke und die politischen Kräfte in der progressiven Arena ringen je unterschiedlich und je unterschiedlich intensiv mit sich selbst, um diesem Anspruch gerecht zu werden: Die SPD sucht Wege aus ihrer historischen Wahlniederlage 2025 und entwickelt gerade erst eine neue Programmdebatte. Die GRÜNEN changieren zwischen umwelt- und klimapolitischer Fokussierung und Fortsetzung des Habeckschen Bündnisansatzes bei größtmöglicher Wahrung bürgerlicher Anschlussfähigkeit. Die Partei Die Linke genießt ihren aktuellen Wahlerfolg, der strategischen Fehleranalysen folgte, beginnt sich ihrer konfliktären inhaltlichen Leerstellen zu öffnen und versucht nun ihren Mitgliederzuwachs gut zu verdauen. Die Industriegewerkschaften kämpfen mit Widersprüchen innerhalb ihrer Mitgliederschaft, zwischen offenen und AfD-offenen Mitgliedern. Die außerparlamentarische Klimabewegung sucht nach neuen Begriffen und Kampfformen im Angesicht des fossilen Rollbacks. Die Friedensbewegung kommt nicht ins take-off trotz historisch einmaliger globaler Aufrüstung; Spaltungsfragen sind der Krieg gegen die Ukraine und der Gaza-Krieg. Die christlichen Kirchen taumeln weiterer Säkularisierung und neuer evangelikaler Radikalisierung entgegen. Zugespitzte Schlaglichter, die zeigen, wie divers die Ausgangslage ist.

Alle zusammen beginnen erst langsam zu verstehen, dass nichts mehr wird, wie es einmal war. Erst langsam sickert durch: Diese Zeiten sind grundsätzlich anders und sie sind disruptiv.

Schlimmer noch, das inhaltliche Werkzeug hat gefehlt, die Kraft der disruptiven Rechten zu erkennen und dieser etwas entgegenzusetzen. Dies ist um so erstaunlicher, als der Brexit oder systemrelevante Wahlgewinne der Autoritären Muster aufgezeigt haben, deren Lesen und Erkennen nicht zum adäquaten Gegensteuern geführt haben. Stattdessen verlor und verliert sich das Tun oft in Gewohntem und/oder Sicherheit verleihendem Kleinklein des Alltagshandelns.

Aber die auf dem Tisch liegenden großen Fragen bleiben, harren des progressiven, emanzipatorischen bzw. linken Gegenentwurfs:

  • Wie verbinden sich ökologisch-digitale Transformation und soziale Gerechtigkeit, um das Verwüstungsanthropozän, wie Werner Kindsmüller zitiert, zu verhindern?
  • Wie gelingt die Umkehr der wachsenden sozialen Ungleichheit?
  • Wie sehen Friedensordnungen aus und wie verhindern sie den gigantischen globalen Rüstungswettlauf?
  • Wie gelingen Begrenzung des Klimawandels und jetzt schon dringend nötige Klimaanpassung gerecht?
  • Wie lassen sich die privaten Digitalmonopole in gesellschaftliche Kontrolle zum Nutzen aller überführen?
  • In welchem Institutionengefüge ist eine gerechte multilaterale Ordnung zu entwickeln?

Neben den richtigen Fragen braucht es überzeugende Antworten. Diese finden sich nur in Diskursräumen mit Laborcharakter, die es jetzt schnellstmöglich zu bauen gilt.

Diskursräume mit Laborcharakter bedeutet: In immer neuen Versuchen, in immer neuen Zusammensetzungen, in der Annahme, dass schon der gemeinsame Suchprozess ein vertrauensbildendes und für repressivere Zeiten vorbeugendes Ziel ist, gemeinsam an politischen Strategien zu arbeiten, deren Grundlage eine schonungslose Analyse der Wirklichkeit ist.

Gemeinsam heißt natürlich, dass alle Kräfte des progressiven Spektrums sich selbst dieser Aufgabe stellen. Sozialdemokrat*innen suchen sozialdemokratische Antworten, Grüne suchen grüne Antworten usw. Aber, und das ist entscheidend: Es gibt zugleich Diskursräume des gemeinsamen Suchens auf sich gegenseitig akzeptierender Basis. Dabei kann die Zusammensetzung je nach Thema oder Fragestellung variieren, die multilaterale Zukunftsfrage wird z.B. nicht im Fokus aller emanzipatorischen Kräfte stehen, die soziale und Ungleichheitsfrage wiederum wird selbst Christsoziale und/oder Vertreter*innen der CDA betreffen. Variable Geometrien dieser Räume sind also nicht nur gefragt, sondern erwünscht.

Zugleich bedarf es der Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Ökosysteme des progressiven Spektrums: Stiftungen, wissenschaftlicher Einrichtungen, ThinkTanks, Netzwerke etc. Angesichts der erdrückenden Feuerkraft der globalen Rechten, die längst die Wissenschaftssysteme unterspülen, angesichts der schon aus dem Investmentbank-Hype bekannte intellektuelle Absaugeffekt, die die globale Aufrüstung auf junge Menschen ausüben dürfte, darf das emanzipatorische Lager keinen Versuch ungenutzt lassen, seine ganze intellektuelle Feuerkraft zu mobilisieren. Es gibt in diesen Zeiten nichts zu verschenken. Und diese Ökosysteme sind zugleich sich multiplizierende Foren, die Öffentlichkeit und zugleich Bindekraft erzeugen.

Um dieses Ökosystem herum braucht es lebendige und variable Verbindungen zur politisch nicht gebundenen Wissenschaft, um sich beständig hinterfragen zu lassen, kontinuierlich Frischluftzufuhr zu gewährleisten, immer auf der Höhe der Zeit zu bleiben – was wiederum bedeutet, sich jedweder Instrumentalisierung der institutionalisierten Wissenschaft zu enthalten.

Und schließlich: Es bedarf – möglicherweise mehrerer regionaler – organisatorischer Gravitationszentren, die dem Ganzen eine Richtung geben, den Kompass halten und helfen, den Kurs des Progressiven zu halten.

Es gibt inzwischen erstarrte Formationen, die diesem Gedanken gefolgt sind. Eines davon ist das Institut der Solidarischen Moderne. Einst als Verein und mit viel Schwung gegründet, mit Personal aus der ersten politischen Reihe bestückt, kann es aktuell nicht die Gravitationskraft erzielen, die es sich vorgenommen hatte. Woran lag das? Und warum konnte es sich nicht von innen erneuern?

Und es gibt informelle Formationen wie den „Roten Ratschlag“ aus der 2005er Oppositionszeit der SPD in Nordrhein-Westfalen, wo es gelungen war, dem Erneuerungsprozess der NRW-SPD genau diese Spins zu geben. Es wurden neue Formen der politischen Bildung ausprobiert, Strategien getestet und damit ein Beitrag dazu geleistet, dass die Oppositionsrolle schon 2010 wieder verlassen werden konnte.

Bei allen noch offenen Fragen ist klar: Es wird Gravitationszentren geben müssen, ohne formale Macht, aber besetzt mit Personen, die Wirksamkeit in den Teilbereichen des progressiven Lagers besitzen und die es schaffen, aus Diskursen Prozesse und politische Wirklichkeit werden zu lassen.

Die inhaltliche Mission ist klar und bei Werner Kindsmüller beschrieben: Gegenmacht und Gegenhegemonie brauchen, über Diskurse erzeugt, eine klare Analyse der Gegenwart und eine Vorstellung davon, wie eine andere Ordnung aussehen kann. Zugleich sind die Gravitationszentren Orte, an denen an Strategien zu ihrer Umsetzung gefeilt wird. Die Agilität dieses Prozesses zeigt sich daran, dass Erfahrungen aus der politischen Praxis national wie international zurückfließen in die Strategieentwicklung.

Über den politischen Kampf ins Gemeinsame kommen

Theorie und Praxis, Strategie und Taktik gehören zusammen. Gelingende politische Kämpfe und Auseinandersetzungen sind der Gradmesser dafür, dass beides zusammengepasst hat. Misslungene Kämpfe belegen zumindest, dass man sich außerhalb des alltäglichen Erfahrungsraumes bewegt hat, in der Luft hängt. Kämpfe sind der Wirklichkeitstest für Strategien.

Aus marxistischer Perspektive braucht es für erfolgreiche Kämpfe historisch-materialistische Grundlagen. Die im Nichts verschwundenen, hyper-politischen Großdemonstrationen „Gegen Rechts“, so wichtig sie waren, belegen die notwendige Vorbedingung für erfolgreiche politische Kämpfe. An den Wahlgewinnen der AfD haben die Demonstrationen nichts geändert. Andersherum zeigen die Wahlgewinne, dass die politisch-ökonomischen Widersprüche zwischen alter und neuer Phase des Kapitalismus jedenfalls keinen Ort haben, an dem sie von politisch links aufgelöst werden. Stattdessen gelingt die Strategie der Rechten, sozial-ökonomische Fragen ethnisch zu „beantworten“ und die Bevölkerung in die Gruppe der „hart Arbeitenden“ und die Gruppe der „Transferempfänger“ zu spalten.

Die gegenwärtige Strategie der SPD, vom Kapitalismus nicht zu reden und sich mit Fokus auf Transferempfänger und migrationspolitischen Einschnitten durchzumogeln, bestätigt ungewollt und indirekt die rechte Umdeutungslogik der realen sozio-ökonomischen Umbrüche, statt ihnen eigene Antworten entgegenzusetzen. Das wiederum heißt allerdings: Neben der materiellen Basis für den politischen Kampf braucht es eine Fokussierung auf die zentralen Alltagserfahrungen und Verdichtung der politischen Forderungen.

Das sind die relevanten Auseinandersetzungsfelder:

  • die Transformation der Wirtschaft innerhalb der planetaren Grenzen und die parallele sozial gerechte Klimaanpassung
  • die Beseitigung der sozialen Ungleichheit in Einkommen, Vermögen, Bildung
  • die Wohnungsfrage in der Stadt und die Lebensqualität im ländlichen Raum
  • für alle funktionierende physische und soziale Infrastrukturen
  • die Sicherung des Friedens
  • Geschlechtergerechtigkeit
  • demokratische Selbstwirksamkeit und regelbasierte Institutionen

Auf diesen Feldern tobt die Auseinandersetzung um die Zukunft. Hier sind große Leerstellen im Hinblick auf das Zielbild guten Lebens für alle wider das Zielbild der beutekapitalistischen Rackets. Und hier liegen auch innerhalb des progressiven Lagers Sollbruchstellen, die in den Diskursräumen zu erörtern sind.

Zugleich hat der aktuelle Wahlerfolg der Linkspartei gezeigt, wie es mit Fokussierung etwa auf das Thema Wohnungsnot und Mietpreissteigerungen in städtischen Räumen gelingen kann, Strategie und Taktik zusammenzubringen. Vor dem Lernhintergrund der politischen Kampagne zur Enteignung Berliner Immobilienkonzerne im direkten Gespräch und mit innovativen alltagstauglichen Instrumenten wie dem digitalen Mietwucherrechner hat die Partei es geschafft, Glaubwürdigkeit in einer der zentralen Fragen zu gewinnen. Auch wenn sie noch weit von der Durchsetzung eines breit akzeptierten Gegenmodells ist, so müssen künftig weitere Haken gesetzt werden.

Ein Gegenbeispiel ist die Klimabewegung. Fridays for Future scheint nicht nur seinen Höhepunkt überschritten zu haben, den massiven Angriffen gegen die Klimapolitik der sozial-ökologischen Transformation konnten sie nicht mehr viel entgegensetzen. Es scheint der Gegenbewegung sogar gelungen zu sein, Ziele und Begriffe wie die sozial-ökologische Transformation geradezu stigmatisiert und damit genommen zu haben. Hier konnten die Kräfte umgekehrt werden: Der Schwung liegt aktuell wieder bei der fossilen Lobby. Dies ist unter anderem auch gelungen, weil die Klimabewegung zentrale Fragen der sozial-ökonomischen Ausrichtung, aber auch Verursachung außer Acht gelassen hat. Das notwendige Bündnis von Gewerkschafts- und Klimabewegung hat nicht nur nicht stattgefunden, es harrt noch immer seiner Bildung. Dies herunterzubrechen, in Forderungen und Zukunftsbilder zu übersetzen, und damit dann in die Kämpfe zu ziehen, wird eine der Aufgaben in den Diskurslaboren sein.

Für das Organisieren der Gegenmacht wird es auf zweierlei besonders ankommen: Zum einen braucht es in den systemrelevanten Politikbereichen auf der Grundlage von Zielbildern verdichtbare Forderungspunkte, die längerfristig mobilisieren können. Zum zweiten müssen die Forderungen aufzeigen können, nicht nur wogegen, sondern auch wofür sie mobilisieren.

Der inhaltlich-programmatische Gravitationsprozess ist mit dem politisch-taktischen eng verbunden – damit steigt die Komplexität. Dies zeigt, was für enorme Arbeit auf die institutionellen Ökosysteme zukommt, hierbei im Sinne einer Gegenmacht sortieren zu helfen.

Neue Medien braucht das Land

All die strategisch und taktisch inhaltliche Arbeit nützt nichts, wenn sie niemand hört, sieht oder liest. Es ist ein großes Verdienst der Linkspartei, aufgezeigt zu haben, wie ein unserer Zeit angemessener Social-Media-Wahlkampf gelingt. Doch das kann nur der Anfang sein. Denn dieser Erfolg findet innerhalb der mainstream-Branche statt, auf in Privatbesitz befindlichen digitalen Plattformen, die sich in den USA eng mit der politischen Macht des Präsidenten verbündet haben.

Die nunmehr Einzug haltenden KI-Anwendungen werden die politisch-inhaltlichen Verengungen signifikant verschärfen. Die Wissensproduktion droht zum kostenlosen Futter der Plattformen zu werden und verliert buchstäblich an Wert. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit kann, auch darauf verweist Werner Kindsmüller bereits, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die flächendeckende KI-Anwendung unterspült in neuer Qualität das bisherige mediale System (und verschärft im Übrigen mit ihrem gigantischen Energiehunger die Klimakrise), das bereits demokratiezersetzenden Charakter hatte.

Die medialen Kräfteverhältnisse sind mit David gegen Goliath längst nur noch unterkomplex beschrieben. Milliardenschwere Feuerkraft in den Händen von Autokraten und ihren willigen Tech-Helfern zeigen dort, wo sie schon länger regieren, dass es kein Durchkommen für Progressives gibt.

Umso drängender wird es sein, neben der inhaltlichen Gravitationsarbeit eine mediale Gegengravitationsidee zu entwickeln. Progressive Medienprofis sind gefragt, Strategien für heute zu entwickeln, die auch ohne die der Gegenseite zur Verfügung stehenden Geldsummen in der Lage sind, valide Gegenöffentlichkeiten aufzubauen – und sich dabei international so zu vernetzen, sodass repressive Zeiten nicht automatisch diese Kanäle ausschalten können.

Vielleicht hilft es, dass die in Teilen jedenfalls zu Geld gekommenen Boomer noch in einem politisch pluralen Umfeld groß geworden sind und bereit sein könnten, in der crowd mitzuhelfen, eine mediale Gegenmacht aufzubauen – die wiederum innerhalb des progressiven Spektrums in der Lage ist, als Geschäftsmodell zu funktionieren.

Parallel wird es darum gehen, im vorherrschenden Mediensystem die eigene Performance zu verbessern – und dabei vor allem zu lernen, dem Aufmerksamkeitsgeschäftsmodell nicht auf den Leim zu gehen und sich öffentlich gegeneinander zu profilieren. Die Arbeit an diesem elementaren Teilprojekt sollte unmittelbar mit dem Aufbau der Diskursräume beginnen.

National, international, global – vernetzen und von- bzw. miteinander lernen

Die globale Rechte zeigt, dass die internationale, ja globale Vernetzung bei allen inneren Widersprüchen eines ihrer Erfolgsrezepte ist. Dies ist gerade im Europäischen Parlament zu besichtigen und muss andersherum für die linke und progressiv-emanzipatorische Gegenmacht ebenso gelten. Nun wird das allein mit dem Schlachtruf der in aller Welt zu vereinigenden Proletarier (!) auch heute nicht funktionieren. Der Erste Weltkrieg war bereits Beweis genug, wie schnell Nationalismus über Internationalismus siegen kann.

Aber: Die emanzipatorischen Kräfte können deutlich mehr voneinander lernen als sie bisher tun. In Ländern, in denen die autoritär-libertäre Rechte die Macht übernommen hat, lassen sich die Wege zu ihrem Erfolg nachzeichnen – es lassen sich aber auch Erfahrungen sammeln, wie man dort wieder herauskommen kann oder wie es auf keinen Fall gelingt.

Und man kann aus den Erfahrungen der Länder lernen, die noch nicht autoritär transformiert sind: Was braucht es, um Gegenmacht zu organisieren? Was hilft dabei? Was misslingt?

Es braucht mithin eine Progressive Internationale mit starkem europäischen Arm, denn dieser Kontinent wird eine wichtige Rolle bei der Frage spielen, ob den autoritären Super Bros gesamteuropäisch der Durchmarsch gelingt oder auf einzelne Länder beschränkt bleibt. Auf die relevanten inhaltlichen Fragen des progressiven Lagers können keine Antworten außerhalb des Internationalen gefunden werden: Krieg und Frieden entscheiden sich daran; die planetaren Fragen entscheiden sich daran; die ökonomischen Fragen entscheiden sich daran; vermutlich sogar die medialen Fragen.

Epilog

Die Geschichte hat gezeigt: Das Notwendige stellt sich nie von alleine ein. Und meist bedarf es anfangs weniger Menschen, die Ideen in die Tat umsetzen wollen. Die Zeit drängt. Die Gegenmächte werden jeden Tag stärker. Aber alles, was jetzt in Angriff genommen wird, kann helfen, Resilienzen aufzubauen oder Widerstand zu organisieren, wenn die Zeit nicht ausgereicht hat. Es geht in diesen Zeiten um alles. Das belegen die autoritär transformierten Länder jeden Tag. Fangen wir an.

2025-10-23T14:17:25+02:00
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