Heft 259 – 02/2024
Europa im Wahlkampf
#analyse #spw
von Konstantin Vössing
Die SPD hat bei der Europawahl 2024 knapp zwei Prozentpunkte an Zustimmung verloren. Die Partei erhielt 2019 15,8 Prozent der Wählerstimmen und 2024 13,9 Prozent. Viele haben das dramatisch genannt. Wir wissen allerdings aus der politikwissenschaftlichen Forschung, dass für die SPD allein aufgrund ihrer strukturellen Lage im Parteiensystem zum Zeitpunkt der Europawahl Verluste zu erwarten waren. Die umfassend empirisch belegte Nebenwahlthese besagt, dass bei Europawahlen die nationale Politik entscheidet, kleine Nischenparteien gewinnen und Regierungsparteien verlieren (Braun 2021; Hix und Marsh 2011; Reif und Schmitt 1980). Alle drei Zusammenhänge sprechen gegen die SPD und ihre Erfolgsaussichten: die Partei ist Teil einer wenig beliebten und als zerstritten wahrgenommenen Koalition, sie ist keine Nischenpartei und sie ist Regierungspartei.
Hinzu kommt, dass die Sozialdemokratie überall in Europa seit dem Ende der Neunziger Jahre einen massiven Rückgang von Wählerstimmen erlitten hat (Benedetto, Hix, und Mastrorocco 2020). Bemerkenswert und aufschlussreich ist es deshalb vor allem, wenn sich sozialdemokratische Parteien dem Trend widersetzen können, wie zum Beispiel die SPD bei der Bundestagswahl 2021, die Labour Party in Großbritannien bei den Parlamentswahlen am 4. Juli 2024, die französische Parti Socialiste bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 30. Juni und 7. Juli 2024 sowie die portugiesische Partido Socialista bei den Wahlen im Januar 2022.
Erfolgreiches Ausscheren gegen den Trend deutet darauf hin, dass an den Stellschrauben, die Parteien bewegen können, jemand in die richtige Richtung gedreht hat. Wie hat die SPD bei der Europawahl 2024 an der entscheidenden Stellschraube der Wahlkampfstrategie gedreht? Wie viel konnte das ausrichten gegen den allgemeinen Rückgang sozialdemokratischer Wählerstimmen und die spezifischen Nachteile bei einer Europawahl, die sich für eine große Regierungspartei in einer umstrittenen nationalen Regierung ergeben?
Das Thema Europa
Die SPD hat die Europawahl 2024 mit europapolitischen Themen geführt. Die Partei hat nicht versucht, den Wahlkampf zu einer innenpolitischen Auseinandersetzung zu machen. Das ist gut für die Demokratie, weil die SPD so dazu beiträgt, im Europawahlkampf Themen zu verhandeln, die für die Europäische Union relevant sind. Vor dem Hintergrund der Nebenwahlthese ergibt es auch strategisch Sinn, weil die Partei auf diese Weise den für sie negativen Auswirkungen innenpolitischer Erwägungen für die Wahlentscheidung entgegenwirken kann.
Die politikwissenschaftliche Forschung zeigt, dass diese Strategie erfolgreich sein kann. Die Bürgerinnen und Bürger treffen ihre Wahlentscheidungen umso mehr auf der Grundlage europäischer Erwägungen je stärker Parteien über europapolitische Themen sprechen (Hobolt und Wittrock 2011; Vössing und Weber 2016, 2019). Über Europa zu reden trägt also dazu bei, dass die Wählerinnen und Wähler ihre Entscheidung stärker auf der Grundlage ihrer europapolitischen Positionen treffen.
Gleichzeitig ist es allerdings für die SPD auch mit Risiken verbunden, wenn die Partei viel und mit klaren Positionen über den gewünschten Umfang europäischer Integration redet. Je mehr die SPD das im Wahlkampf betont und ihre Positionen schärft, umso mehr konzentrieren sich auch euroskeptischere Menschen darauf, dass ihre ansonsten bevorzugte Partei Positionen vertritt, die sie eigentlich nicht teilen. In der Frage, ob es mehr oder weniger europäische Integration geben soll, ist die potenzielle Wählerschaft der SPD gespalten. Bei den Wählerinnen und Wählern der Union, der FDP und der Linken ist es ähnlich. Nur die Grünen, die AfD und so viel wir wissen auch das BSW haben bei diesem Thema eher einheitlich positionierte Wählerinnen und Wähler. Die uneinheitlichen Positionen ihrer potenziellen Wählerinnen und Wähler haben die SPD in den bisherigen Europawahlkämpfen allerdings nicht davon abgehalten, sich als Europapartei zu stilisieren.
Europa als Ort für gute Politik
Gerade weil die potenzielle Wählerschaft der SPD keine einheitliche Haltung zu der Frage hat, ob wir eine Ausweitung der europäischen Integration brauchen, kommt es noch mehr als bei anderen Themen darauf an, wie genau die SPD über Europa spricht. Die Europawahl 2019 hat gezeigt, wie die Partei es nicht tun sollte. In dem Jahr gab es tatsächlich ein Wahlergebnis, das sich als dramatisch bezeichnen lässt. Die SPD erhielt 15,8 Prozent der Stimmen, zwar auch als Regierungspartei, aber im Vergleich mit 2014, wieder als Regierungspartei, erlebte sie einen Verlust von 11,5 Prozentpunkten (nach 27,3 Prozent im Jahr 2014).
Im Europawahlkampf 2019 hat sich die SPD als pro-europäische Partei positioniert (oder eher verklärt), mit Slogans wie „Europa ist die Antwort“ und „Die SPD ist DIE Europapartei“. Es ist davon auszugehen, dass dies zumindest zur Demobilisierung, wenn nicht sogar zu Gegenstimmen von Wählerinnen und Wählern geführt hat, die nicht ganz so euphorisch sind, wenn sie an die Europäische Union denken. Ein idealistischer „mehr Europa“ Wahlkampf ist deswegen für die SPD strategisch fragwürdig. Er ist auch aus dem Blickwinkel der Demokratie problematisch, denn ein verklärter und unkritischer Ruf nach mehr Europa erschwert eine konstruktive Diskussion über das, was auf der europäischen Ebene getan werden soll.
Statt Europa als „Antwort“ zu verklären, wäre es besser, Europa als einen Ort für gute Politik zu beschreiben – besser für Europa, besser für Politik in Europa, besser für die Qualität der europapolitischen Debatte und auch besser für die Wahlaussichten der SPD. Europa als einen Ort für gute Politik zu beschreiben, bedeutet, Maßnahmen in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen, die auf der europäischen Ebene angesiedelt werden können, um dort Probleme zu lösen und sozialdemokratische Ziele zu verwirklichen.
In dieser Argumentation ist Europa nicht „die Antwort“, sondern ein Ort, an dem gemeinsam Lösungen gefunden und Ziele verfolgt werden. Europa ist eine politische Ebene, auf der die SPD dazu beitragen kann, die Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler zu vertreten und sozialdemokratische Werte voranzubringen, durch konkrete Maßnahmen, die auf der europäischen Ebene entschieden werden können und mit Personal, das dazu seine institutionelle Position nutzt und seine Kompetenz.
Auf diese Weise konzentriert sich die SPD auf eine Politik für sozialdemokratische Werte und entgeht einer (im Rahmen des Wahlkampfes) nicht zielführenden Auseinandersetzung über die Legitimität der europäischen Regulierungsebene.1 Statt über Europa an sich zu reden, redet die Partei dann darüber, wozu sie Europa nutzen will. Sie vermeidet eine abstrakte Diskussion über die Vorzüge und Nachteile europäischer Integration, die zu Demobilisierung oder Gegenreaktionen in einer potenziellen Wählerschaft mit uneinheitlichen Positionen führen kann.
Mit der Konzentration auf sozialdemokratische Politik in Europa kann die SPD ihre gesamte potenzielle Wählerschaft erreichen und nicht nur den europhilen (oder euroskeptischeren) Teil. Die Partei betont durch diese Herangehensweise Maßnahmen, mit denen sowohl sozialdemokratische Politik verwirklicht als auch Europa gestärkt und besser gemacht werden kann.
Der Wahlkampf und die Zukunft
Genauso wie das Wahlergebnis der SPD als dramatisch bezeichnet wurde, wurde auch der Wahlkampf von vielen Seiten heftig kritisiert. Ich würde den Wahlkampf von seinem Ansatz her als sehr gelungen betrachten. Vielleicht hat er sogar im Ergebnis einen aus der Sicht der Nebenwahlthese durchaus zu erwartenden größeren Verlust verhindert.
Der Europawahlkampf 2024 hat den zentralen strategischen Fehler aus dem Jahr 2019 vermieden. Die SPD hat 2024 keinen idealisierenden Wahlkampf für mehr Europa geführt, der die eigene potenzielle Wählerschaft spalten und demobilisieren kann. Stattdessen hat die Partei im Ansatz eine in sich geschlossene Geschichte erzählt, in der Europa wie oben beschrieben vor allem ein Ort für gute Politik ist. Die SPD will an diesen Ort kompetente Personen schicken, die dort mit ihrem Amt und ihrer Kompetenz arbeiten, um sozialdemokratische Werte voranzubringen und die Interessen sozialdemokratischer Wählerinnen und Wähler zu vertreten. Auf diese Weise hat der Europawahlkampf eine Geschichte erzählt, die in vielen Punkten produktiv auf den Wandel der Sozialdemokratie von der Klassenpartei (Vössing 2017) zur Sozialkompromisspartei der Nachkriegszeit und aktuell zur Wertepartei (Jobelius und Vössing 2019, 2020, 2021; Vössing 2022) reagiert.
Der Wahlkampf wäre noch besser gewesen, wenn er diese Geschichte konsequent zu Ende erzählt hätte. Ein zentraler Bestandteil, der in der sozialdemokratischen Herangehensweise an den Europawahlkampf 2024 fehlte, waren die politischen Maßnahmen. Natürlich hatte die SPD ein Programm, in dem auch Maßnahmen zu finden sind, aber in der Wahlkampfkommunikation kamen sie kaum vor. Die Kommunikation im Wahlkampf hat nicht zum Ausdruck gebracht, was genau die SPD machen will, mit ihrem kompetenten Personal, um auf der europäischen Ebene sozialdemokratische Ziele zu verfolgen. Die Geschichte, wie die SPD den Ort Europa nutzen will, wurde angedeutet, aber nicht zu Ende erzählt.
Ein Beispiel ist das Plakat und der Wahlwerbefilm mit Katarina Barley und Olaf Scholz beim Schachspielen. Der deutsche Bundeskanzler und die deutsche Sozialdemokratin fürs Europäische Parlament bewegen die Schachfiguren der Weltpolitik mit Augenmaß und Kompetenz, um so Frieden und Sicherheit (wichtige sozialdemokratische Werte) voranzubringen.
Das Bild hat vieles was eine gute sozialdemokratische Geschichte über Europa ausmacht – Personen, Kompetenz, Macht und durch diese beiden Mechanismen verfolgte Werte – aber es fehlt eine Beschreibung, was die beiden Akteure genau tun würden, um diese Werte mit Macht und Kompetenz in die Tat umzusetzen. Es fehlen die Maßnahmen. Olaf Scholz und Katarina Barley denken schon an den übernächsten Zug, und sie meinen es ernst mit Frieden und Sicherheit. Das ist gut, aber wie, also mit welchen politischen Maßnahmen, Frieden und Sicherheit durch Handeln auf der europäischen Ebene erreicht werden sollen, wird nicht erwähnt.
Es gab auch an einigen Stellen handwerkliche Probleme bei der Umsetzung der Kommunikation. Das Wortspiel bei der Darstellung des Schachspiels, dass die SPD Bedrohungen „in Schach halten“ wird, wirkt bemüht. Und auch andere Kommunikationsprodukte waren nicht immer ganz gelungen. Das Plakat „Wir sichern Frieden und Arbeitsplätze. Andere sich nicht einmal CDU.eu“ war für die meisten Wählerinnen und Wähler wohl völlig unverständlich. Und es wirkt eher kleinlich, wenn die SPD auf der Tatsache, dass sie der CDU eine Webseite weggeschnappt hat, ein Plakat aufbaut.
Entscheidender als handwerkliche Probleme war aber die nicht zu Ende erzählte Geschichte, das heißt die fehlenden Maßnahmen in der sozialdemokratischen Erzählung über Kompetenz, Personal und Werte in der Europäischen Union. Zusätzlich besteht im Hintergrund weiter als ein konstantes Problem die Verlagerung europapolitischer Kompetenzen und Interessen aus dem Kern des innenpolitischen Politikbetriebs in die Außenbereiche. Europa muss stattdessen ein permanenter und integraler Bestandteil des Kerns sozialdemokratischer Politikformulierung und -umsetzung in Partei und Regierung sein. Die konstruktive Aufarbeitung des Europawahlkampfes 2024 ist aus meiner Sicht entscheidend, um die dort gemachten richtigen Schritte weiterzugehen – nicht nur für den nächsten Europawahlkampf, sondern auch für die generelle Herangehensweise an das Europathema in der SPD und die Rolle europapolitischer Fragen bei Wahlen zum Bundestag und in den Ländern.