Heft263 – 02/2025
Einleitung zum Heftschwerpunkt (263) – Globale Kapitalismen
#orientierungsrahmen #spw
Dr. Arno Brandt ist Ökonom (Schwerpunkte: Regional- und Innovationsökonomie sowie Strukturpolitik) und lebt in Lüneburg. Von 1990-2012 war er als Bankdirektor in der NORD/LB tätig. In Hannover ist er Vorsitzender des „Forums für Politik und Kultur e.V.“ und Mitglied des Koordinierungskreises der Keynes Gesellschaft Regionalgruppe Nord. Außerdem ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des SPD-Wirtschaftsforums.
Thilo Scholle ist Mitglied der spw-Redaktion, Jurist und lebt in Lünen.
VON Arno Brandt und Thilo Scholle
Spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum 47. Präsidenten der Vereinigten Staat wurde die Globalisierung wie wir sie bislang kannten von einer neuen geopolitischen Formation abgelöst. Der Abschied vom Unilateralismus der USA hatte sich schon seit längerer Zeit angekündigt, aber dass die tektonischen Plattenverschiebungen am Ende mit solcher Wucht den Epochenbruch einleiten könnten, war von vielen Beobachtern entweder nicht gesehen oder aber verdrängt worden. Dieser Epochenbruch ist Ausdruck der Krise der Hyperglobalisierung, die mit der Finanzkrise von 2007/08 sichtbar wurde, aber die Ursachen der aktuellen Entwicklungen, die nun mit der Präsidentschaft von Donald Trump offen zutage treten, reichen noch weiter in die Vergangenheit zurück.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich tiefgreifende geopolitische Veränderungen ergeben. Nachdem es nach 1990 zunächst noch danach aussah, dass nur eine einzige Großmacht übrigbleiben würde, beobachten wir seit geraumer Zeit den Übergang von einer unilateralen zu einer polyzentrischen Weltordnung. Die Vereinigten Staaten, vormals als hegemoniale Supermacht tonangebend, haben ihre globale Vorherrschaft eingebüßt und sind inzwischen mit ihrem trumpistischen Regime drauf und dran, ihre seit dem Ende des 2. Weltkrieges etablierten Allianzen aufs Spiel zu setzen und der eigenen Volkswirtschaft und der demokratischen Ordnung schweren Schaden zuzufügen. Dabei geraten sie zunehmend in einen systemischen Wettbewerb mit der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China, die sich mit eigenen geopolitischen Ambitionen zu Wort meldet. Russland verkörpert seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein politisch wie ökonomisch absteigendes Regime, dessen geopolitische Perspektive möglicherweise noch in einer Allianz im Rahmen der BRICS-Staaten liegt, ohne dort in Zukunft tonangebend zu sein. Inwieweit Europa in dieser geopolitischen Gemengelage eine Rolle spielen kann, ist noch offen, aber die EU ist aufgrund ihres ökonomischen Potenzials durchaus in der Lage, einen eigenständigen Part zu übernehmen. Zudem spielen die Tech-Konzerne im Kontext der geopolitischen Verschiebungen eine besondere Rolle. Diese versuchen sich nationalstaatlicher Regulierungen zumindest in den westlichen Staaten weitgehend zu entziehen. Ihre Kontrolle sozialer Medien und damit eines mittlerweile höchst relevanten Teils öffentlicher Kommunikation, ihr gigantischer Datenschatz sowie ihre Kontrolle auch über große Teile der Hardware eines sich digitalisierenden Kapitalismus etwa mit Blick auf Clouds und Rechenzentren machen sie zu eigenständigen Akteuren im globalen Kapitalismus.
„Globale Kapitalismen“ ist ein Begriff, der von uns verwendet wird, um die Vielfalt und Komplexität kapitalistischer Wirtschaftssysteme weltweit zu beschreiben. Anstatt Kapitalismus als ein einheitliches, überall gleich funktionierendes System zu verstehen, hebt der Begriff hervor, dass es verschiedene Formen des Kapitalismus gibt, die sich je nach regionalem, historischem, politischem und kulturellem Kontext unterscheiden. Sie werden auch durch das jeweilige Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit geprägt. Der Kapitalismus ist kein fester Kristall , sondern ein ständig in Umwandlung begriffener Organismus (Marx 1972, S. 16.). Der Kapitalismus hat nicht nur auf der zeitlichen Achse gravierende Veränderungen durchlebt, sondern zeigt auch in räumlicher Hinsicht völlig unterschiedliche Gesichter. Ausprägungen eines kooperativen Kapitalismus wie in Teilen Europas sind etwas grundsätzlich Verschiedenes vom Kapitalismus trumpistischer oder chinesischer Prägung.
Die gegenwärtige Krise der Globalisierung gestaltet sich heterogen. In ihr überschneiden sich geopolitische Spannungen, Klimakrisen, Pandemien wie auch massive Spannungen im Weltwirtschaftssystem, so dass das Ganze schlimmer ist als die Folgen der Einzelkrisen für sich alleine genommen¹. Die Formen der Krisenverarbeitung unterscheiden sich gegenwärtig jeweils nach Funktionsweise der in den einzelnen Weltregionen dominierenden kapitalistischen Regime. Im Wettbewerb dieser Regime schälen sich auch die Gewinner und Verlierer heraus, sodass ehemals hegemoniale Prosperitätssysteme von anderen abgelöst werden. Dieser Wettbewerb wird z.T. mit völlig ungleichen Mitteln ausgetragen. Der gegenwärtig von Donald Trump vom Zaun gebrochene Handelskrieg ist ein Beispiel dieser asymmetrischen Konfliktaustragung. Selbst die Führung von Kriegen zwischen den großen Blöcken ist wieder denkbar geworden.
Mit dem Schwerpunkt „Globale Kapitalismen“ wollen wir der Unterschiedlichkeit der regionalen Kapitalismusregime gerecht werden und den Versuch unternehmen, die polit-ökonomische Tragfähigkeit der verschiedenen Wirtschaftsmodelle zu beleuchten. In diesem Zusammenhang spielt nicht zuletzt die Frage eine Rolle, ob es der EU trotz aller innerer Zerrissenheit gelingen kann, in dem sich weiter dynamisierenden Wettbewerb der sich abzeichnenden Machtblöcke eine Rolle auf Augenhöhe zu spielen.
Michael Krätke gibt einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Globalisierung(en) seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Waren nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die USA und die UDSSR die beiden hegemonialen Supermächte, setzte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die USA als unilaterale Weltmacht im globalen Maßstab durch. Diese für eine lange Zeit unumstrittene Hegemonie befindet sich derzeit im Niedergang. Die aktuelle Weltlage ist instabil, multipolar und von Systemkonkurrenz geprägt. Der Kapitalismus hat sich global durchgesetzt, allerdings in verschiedenen regionalen Ausprägungen. In dieser unsicheren Übergangszeit stellt sich die Frage, wer die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts beherrschen wird oder ob es überhaupt eine dominierende Macht geben wird.
Nach Kurt Hübner steht Europa vor tiefgreifenden strukturellen Herausforderungen, die sich in einem „Sextett“ von Problemlagen zusammenfassen lassen: Sicherheitsbedrohungen durch geopolitische Umbrüche, Energiekrisen infolge des Ukraine-Kriegs, Produktivitätsschwäche im Vergleich zu den USA, Innovationsdefizite, wachsende soziale Ungleichheiten und ein zunehmender Rechtsruck im politischen Diskurs. Gleichzeitig untergräbt die Fragmentierung des politischen Raums der EU – bedingt durch nationalstaatliche Interessen und institutionelle Schwächen – die Möglichkeit eines kohärenten europäischen Wachstumsmodells. Angesichts globaler Machtverschiebungen und der Selbstschwächung der USA könnte Europa seine Stärken strategisch nutzen. Kurt Hübner skizziert vor diesem Hintergrund welche zentralen Bausteine ein nachhaltiges europäisches Wachstumsmodell umfassen müsste.
Arno Brandt analysiert die Entwicklung und die Auswirkungen des Trumpismus in den USA. Der Trumpismus ist eine politische Bewegung mit ideologischen Wurzeln im Nationalismus, evangelikalem Fundamentalismus, ethnischer Identitätspolitik und wirtschaftlichem Libertarismus. Diese Konstellation speist sich aus tiefgreifenden sozioökonomischen Ungleichheiten, die vor allem durch die Hyperglobalisierung entstanden sind. Vor dem Hintergrund geopolitischer Machtverschiebungen – insbesondere der Herausforderung durch China – verfolgt Trump eine nationalistische Wirtschaftspolitik (MAGA), die sowohl nach innen als auch nach außen protektionistisch agiert. Arno Brandt geht davon aus, dass der Trumpismus als destruktives Projekt ökonomisch und politisch scheitern und damit die Erosion der globalen Führungsrolle der USA weiter beschleunigen wird.
Lia Musitz ordnet in ihrem Beitrag zum chinesischen Staatskapitalismus die Wirtschaftspolitik jenseits der neo-klassischen „Markt-Staat“-Gegensätzlichkeit ein. Das aktive, direkte Eingreifen des Staates in den Markt und das Agieren der Staatsunternehmen als Marktakteure steht hierfür als Chiffre. Diese Sichtweise greift jedoch zu kurz. Leitend für ihre Darstellung ist hingegen die Frage, welche Zielsetzung der Staat mit seinem Handeln verfolgt. Nach Lia Musitz sind staatliche Unternehmen in China nicht lediglich Befehlsempfänger, sondern selbst wichtige Akteure, die in einem verschachtelten System von Kommunikation und Planung ihre ökonomischen Gestaltungsspielräume in beide Richtungen nutzen
Joachim Schuster analysiert in seinem Beitrag die BRICS-Gruppe als Ausdruck einer neuen multipolaren Weltordnung. Entgegen westlicher Befürchtungen sind die BRICS kein homogener antiwestlicher Block, sondern ein loses Bündnis sehr unterschiedlicher Staaten mit gemeinsamen Interessen – insbesondere dem Wunsch nach größerer globaler Gleichberechtigung. Trotz interner Differenzen vereint die BRICS- Mitglieder die Kritik an der westlichen Dominanz und die Unzufriedenheit mit bestehenden globalen Institutionen wie Weltbank und IWF. So strebt BRICS Reformen in der Entwicklungsfinanzierung und im internationalen Währungssystem an – auch wenn Versuche zur Etablierung einer gemeinsamen Währung bisher scheiterten.
Christoph Scherrer blickt in seinem Artikel auf die gegenwärtige und zukünftig absehbare Umgestaltung der globalen Lieferketten. Während vielfach die Veränderungen der Weltwirtschaft als bloße Folgen weltpolitischer Ereignisse beschrieben werden, nutzt Christoph Scherrer zur Analyse der Veränderungen den – vermutlich hinlänglich bekannten – Machtressourcenansatz aus der Gewerkschaftsforschung. Dabei zeigt er auf, dass es bislang – im neoliberalen Weltwirtschaftssystem – in erster Linie weltweit agierende Großkonzerne waren, die ‚ihre‘ Lieferketten formten – immer entlang der ihnen zur Verfügung stehenden Machtressourcen. Heute, unter gewandelten Vorzeichen, sind es zunehmend die mächtigen Staaten, die insbesondere durch die ihnen zur Verfügung stehende institutionelle Macht diese Lieferketten nach eigenen Vorstellungen umformen.
¹ Tooze, A. (2022): Zeitenwende oder Polykrise? Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand, Willy Brandt Lecture 2022, Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin, S. 23). Link: https://willy-brandt.de/neuigkeiten/neuerscheinung-adam-tooze-zeitenwende-oder-polykrise-dasmodelldeutschland-auf-dem-pruefstand/