Heft260 – 03/2024
EINLEITUNG ZUM Heftschwerpunkt (260)
#orientierungsrahmen #spw
Dr. Arno Brandt ist Ökonom (Schwerpunkte: Regional- und Innovationsökonomie sowie Strukturpolitik) und lebt in Lüneburg. Von 1990-2012 war er als Bankdirektor in der NORD/LB tätig. In Hannover ist er Vorsitzender des „Forums für Politik und Kultur e.V.“ und Mitglied des Koordinierungskreises der Keynes Gesellschaft Regionalgruppe Nord. Außerdem ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des SPD-Wirtschaftsforums und Mitglied der spw-Redaktion.
Ole Erdmann ist Dipl. Volkswirt und Mitglied der spw-Redaktion.
VON Ole Erdmann und Arno Brandt
Die Bahn fällt aus, die Kita bleibt geschlossen oder die Straßenbrücke ist gesperrt. Wir alle kennen die alltäglichen Beispiele für die marode Infrastruktur nach 15 Jahren Schuldenbremse und über 30 Jahren öffentlicher Unterinvestition. Auf eine veraltete Infrastruktur treffen im Zuge der sozialen, digitalen und ökologischen Transformation nun noch wachsende und teils neue, teils lang bestehende Ansprüche der Menschen an funktionierende Verkehrswege, Energienetze oder öffentliche Einrichtungen aller Art. Weder die Verkehrs- noch die Energiewende sind ohne einen Umbau bestehender und den Ausbau neuer Infrastrukturen zu bewältigen. Bildung ist ebenso wie Gesundheit oder die innere und äußere Sicherheit auf leistungsfähige Infrastrukturen angewiesen. All diese Infrastrukturen haben gemeinsam, dass ihre Produktion und Reproduktion kein Ergebnis selbstständiger Marktprozesse sind, sondern der Finanzierung, Planung, Ausführung und Unterhaltung durch öffentliche Akteure bedürfen. Damit stehen sie auch symbolisch für die Handlungsfähigkeit und den Gestaltungswillen einer demokratischen Gesellschaft. Die Legitimation staatlichen Handelns beweist sich auch an der Frage, ob und wie öffentliche Infrastrukturen tatsächlich zur Verfügung stehen oder nicht.
Im Orientierungsrahmen der spw heißt es im Diskursblock „Globalisierung, Transformation und Resilienz“ dazu:
Funktionsfähige Infrastrukturen sind die Bedingung, um die transformativen Herausforderungen im globalen Maßstab wie auch mit Blick auf die alltäglichen Lebensverhältnisse bewältigen zu können. Sie bilden den Ausgangspunkt jeder zeitgemäßen, insbesondere aber einer progressiven und sozialistischen Politik, die in allen gesellschaftlich relevanten Bedarfsfeldern gemeinwohlorientierte Zielsetzungen und eine entsprechende Ausrichtung von Investitionen, Netzwerken und Märkten realisieren will.
Die offensichtlich gravierenden Probleme des Zustandes der Infrastrukturen in Deutschland lassen mittlerweile selbst orthodoxe Ordoliberale und Unternehmerverbände erkennen, dass die dauerhafte Unterfinanzierung des Staates, die sie seit Jahrzehnten gepredigt haben, nun mit voller Wucht auf Wirtschaft und Gesellschaft zurückschlägt und in den aufkommenden geopolitischen Konflikten einen massiven Nachteil darstellt.
Positiv gewendet bedeutet dies für die demokratische Linke die Möglichkeit, die für die Zukunft unabdingbar erforderlichen Maßnahmen für Investitionen und deren demokratischer Steuerung auf breiter Front voranzubringen. Eine wichtige Etappe ist in diesem Zusammenhang das Projekt, die Schuldenbremse zumindest in ihrer jetzigen Form zum Einsturz zu bringen. Es bietet sich darüber hinaus die große Chance, von den eher abstrakten Umverteilungsdebatten, mit denen die Linke trotz hoher Zustimmungsraten in den vergangenen Jahren nur sehr selten ihre Politikansätze durchsetzen konnte, wegzukommen und zu einem Zukunfts-Programm zu gelangen, welches bis tief in bürgerliche Kreise und private Unternehmerschaft anschlussfähig ist.
Dabei gilt es, dieses Programm schrittweise und anhand konkreter Ansätze zu entwickeln und die jeweiligen Elemente für sich im tagespolitischen Handgemenge zu platzieren. Nur so lassen sich auf den einzelnen Politikebenen in den jeweiligen Mehrheitskonstellationen auch Mehrheiten zur Umsetzung gewinnen. In unserem Heftschwerpunkt werden in den Beiträgen jeweils Ansätze vorgestellt, die, mit konkreten Politikmaßnahmen unterlegt, verdeutlichen sollen, wie in den verschiedenen Infrastrukturbereichen wie Verkehr, Wohnen, Energie oder Industrie der Um- und Ausbau öffentlicher und privater Infrastrukturen gelingen kann und muss.
Diese und weitere Ansätze zu einer linken, progressiven Erzählung einer demokratisch legitimierten und breit getragenen gesellschaftlichen Anstrengung zur Gestaltung unserer wirtschaftlichen Basis und des dazu passenden institutionellen Überbaus zusammenzuführen, muss die gesellschaftliche Linke allerdings noch leisten: mit konkreten Beispielen, die an den Alltagserfahrungen anknüpfen und motivieren. Entscheidend wird es dabei sein, den negativen Schuldendiskurs zu überwinden.
Die gesellschaftlichen Investitionsbedarfe sind so enorm, dass sie nicht durch die aktuellen Rahmenbedingungen kommunaler und landes- wie bundespolitischer Haushalte gedeckt werden können. Eine investitionsorientierte Reform (noch besser ihre Abschaffung…) der Schuldenbremse – nicht zuletzt auf Bundesebene – ist zentraler Baustein für die Wiedergewinnung öffentlicher Handlungsfähigkeit. Dass auch der Draghi-Report der EU-Kommission auf europäischer Ebene für eine entsprechende Kurskorrektur eintritt, unterstreicht die Notwendigkeit und stimmt verhalten hoffnungsvoll.
Anknüpfend an unseren Orientierungsrahmen liefern wir in unserem Heftschwerpunkt einige Impulse, die wir als exemplarische Initiativen sehen, denen weitere folgen müssen.
In seinem Beitrag zur politischen Ökonomie der Zeitenwende zeigt Arno Brandt zunächst die Dringlichkeit der Modernisierung öffentlicher Infrastrukturen angesichts geopolitischer Konflikte, Transformationsprozesse und Wirtschaftskrisen auf. Die Komplexität der deutschen Volkswirtschaft erfordert erhebliche öffentliche Investitionen in die Verjüngung des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks, der in seinem gegenwärtigen Zustand nicht zukunftsfähig ist. Eine aktive Rolle des Staates, die die Blockade der Schuldenbremse überwindet, ist daher in der Ära der Zeitenwende mehr denn je gefordert, um den Pfadwechsel zugunsten einer sozial-ökologischen Transformation zu ermöglichen und die Demokratie gegen die Zumutungen des Rechtspopulismus zu verteidigen.
Die öffentlichen Investitionen sind in Deutschland seit 30 Jahren niedriger als im EU-Durchschnitt oder den USA. Darauf weisen Torsten Windels und Juliane Bielinski in ihrem Artikel hin. Dieser Investitionsstau wird jetzt ergänzt durch die erforderlichen staatlichen Transformationshilfen (Klima, Digitalisierung, Demografie). Die staatliche Zurückhaltung wird zunehmend zum Entwicklungsrisiko. Die Schuldenbremse erweist sich als systemgefährdend. Die Finanzpolitik von Bund und Ländern hat aber durchaus Spielräume, die genutzt werden können. Zur Krisenbewältigung muss der Staat seine Investitionsfähigkeit verbessern und Engpässe in Planung und Genehmigung beseitigen.
Cosima Ingenschay und Florian Wrobel beleuchten die aktuelle Situation bei der Deutschen Bahn, und plädieren für eine präzise staatliche Steuerung bei der weiteren Entwicklung der Schieneninfrastruktur und der Ausgestaltung der Finanzierung. Zudem gelte es, die DB AG als integrierten Konzern aus Eisenbahninfrastruktur und Verkehrsunternehmen auszugestalten.
Die Diskussion um eine neue Mobilität ist gegenwärtig noch sehr stark auf die urbanen Zentren fokussiert, während der ländliche Raum bei innovativen Mobilitätskonzepten immer noch ein Schattendasein führt. Ulf- Birger Franz, Verkehrsdezernent der Region Hannover, zeigt in seinem Beitrag mobilitätspolitische Alternativen zum motorisierten Individualverkehr im ländlichen Raum auf und konzentriert sich dabei insbesondere auf smarten Demand Systeme, die flexible Formen der Mobilität innerhalb des ÖPNV und SPNV im ländlichen Raum repräsentieren, aber auch erhebliche Kosten mit sich bringen.
Die Mobilität der Zukunft beschäftigt auch Witich Rossmann und Hans Lawitzke. Sie setzen sich kritisch mit der Verkehrswende und der Autokrise in Deutschland auseinander und werfen einen differenzierten Blick auf die anstehenden Herausforderungen, der sowohl die industriepolitische Bedeutung der Automobilindustrie, die Mobilitätsbedürfnisse unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen wie auch die internationalen Rahmenbedingungen bei der Erreichung des unbestrittenen Ziels einer klimaneutralen Mobilität berücksichtigt.
Da sich die Schuldenbremse immer mehr als eine Investitionsbremse erweist, mehren sich Initiativen in den Bundesländern, nach Alternativen zur traditionellen Kreditfinanzierung zu suchen. Die Bundesländer Bremen und Saarland sind in diesem Zusammenhang den Weg gegangen, durch die Etablierung eines Transformationsfonds den Finanzierungsspielraum für transformative Investitionen deutlich auszuweiten. Carsten Sieling und Kevin Rösch von der Bremer Arbeitnehmerkammer sowie Patricia Bauer von der Arbeitskammer des Saarlandes stellen jeweils die beiden Transformationsfonds in ihrem polit-ökonomischen Kontext vor und zeigen zugleich auf, welche Schwierigkeiten sich bei der konkreten Umsetzung der Fonds ergeben.
Wohnungen gehören zu den sozial dringend erforderlichen Infrastrukturen, die derzeit viel zu sehr den Marktgesetzen ausgesetzt sind. Sarah Philipp nimmt die Lage in Nordrhein- Westfalen in den Blick, analysiert die dortigen Bedarfe und die Ungleichzeitigkeiten von Wohnungsmangel in den Ballungsräumen und dem Leerstand in demografisch rückläufigen eher ländlich geprägten Regionen des größten deutschen Bundeslandes. Ihr Vorschlag für eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft nimmt sich das Beispiel aus Niedersachsen zum Vorbild, wo die Landesregierung eine viel aktivere Rolle bei der Bekämpfung des Mangels an bezahlbarem Wohnraum einnimmt als die derzeitige konservativ geführte NRW-Landesregierung.
Es ist mittlerweile populär geworden, hinter fast jedem gesellschaftlichen und ökonomischen Problem als Ursache eine überbordende Bürokratie zu vermuten. Der Ruf nach Bürokratieabbau ist daher aktuell ein Dauerbrenner. In einem Pro und Contra setzen sich Olaf Struck und Axel Priebs mit der Forderung nach Bürokratieabbau aus unterschiedlicher Sicht auseinander. Olaf Struck sieht als zentrales Problem der Bürokratie ein übermäßiges Kontrollsystem, dass professionelles Handeln behindert und zu hohen Kosten und ineffizienten Prozessen führt. Statt starrer Regeln fordert er mehr Vertrauen in lokale Entscheidungen, Ermessensspielräume und innovative Lösungen. Ziel ist eine Verwaltung, die dezentral, flexibel und innovationsfördernd ist. Dagegen betont Axel Priebs die Bedeutung klarer Regeln und Vorschriften für eine funktionierende Verwaltung und den Rechtsstaat. Er verweist auf vielfältige Defizite, insbesondere Missbräuche, aus der Verwaltungspraxis. Eine gut ausgebildete Verwaltung sei daher wichtiger als ein pauschaler Bürokratieabbau.