Heft 260 – 03/2024

Ein Plädoyer für landeseigene Wohnungsbaugesellschaften: Selbst baut sich das Land am besten

#meinung #debatte #spw

Foto: © privat

Sarah Philipp ist Landtagsabgeordnete und seit August 2023 in einer Doppelspitze mit Achim Post Vorsitzende der nordrheinwestfälischen SPD. In der SPDLandtagsfraktion verantwortet die Wirtschaft sgeografi n die Bereiche Wohnen und Stadtentwicklung.

VON Sarah Philipp

Im Jahr 1970 entstand aus dem Zusammenschluss von vier regionalen Wohnungsunternehmen die Landesentwicklungsgesellschaft NRW (LEG). Bis zur Privatisierung im Jahr 2008 hatte das Land Nordrhein-Westfalen mit ihr ein mächtiges politisches Instrument für eine aktive Wohnungsbau- und Entwicklungspolitik. Dass so ein Instrument wieder gebraucht wird, zeigt die Zahl von rund 550.000 fehlenden bezahlbaren Wohnungen im gesamten Bundesland. Erhebungen lassen zudem darauf schließen, dass sich der Mangel an Sozialwohnungen drastisch verstärken wird. Laut einer DGB-Studie besteht bis 2032 ein Investitionsbedarf von 17 Milliarden Euro im Bereich des geförderten Wohnungsbaus. Nordrhein- Westfalen muss wieder eine aktive Wohnungsund Baupolitik betreiben, da die Marktmechanismen des freien Wohnungsmarktes in Teilen zum Erliegen gekommen sind. Wie das gehen kann, zeigt das Land Niedersachsen: Im Januar 2024 hat die von der rot-grünen Landesregierung neugegründete Wohnungsgesellschaft »WohnRaum Niedersachsen« ihre Arbeit aufgenommen.

Dem Vernehmen nach begab es sich in der späten Phase der neoliberalen Hochzeit: Jürgen Rüttgers, Helmut Linssen und Oliver Wittke kamen im Spätsommer des Jahres 2005 zu einem Abendtermin in der Düsseldorfer Staatskanzlei zusammen. Erst wenige Monate zuvor wurden der Ministerpräsident, sein Finanz- und sein Bauminister in ihren Ämtern vereidigt. Nach 38 Jahren SPD-geführter Landesregierung übernahm ein schwarz-gelbes Bündnis die Regierungsarbeit im bevölkerungsreichsten Bundesland.

Jetzt, nach dem Regierungswechsel, sollte alles ganz schnell gehen. Während draußen Gerhard Schröder und Angela Merkel im vorgezogenen Bundestagswahlkampf um die Gunst der Wählerinnen und Wähler kämpft en, wurde in dieser vertraulichen Dreierrunde hinter verschlossenen Türen die Privatisierung der LEG unter Dach und Fach gebracht.

Viel Überzeugungsarbeit mussten die CDU-Minister Rüttgers, Linssen und Wittke in ihrer Regierungskoalition nicht leisten. Schon im Wahlkampf liebäugelte die FDP mit einem Verkauf. Auch die nordrhein-westfälische CDU stellte die Landesbeteiligung off en zur Disposition. NRW verfüge über einen funktionierenden Wohnungsmarkt, die Einnahmen aus dem Anteilsverkauf würden zur Entschuldung des Landeshaushaltes benötigt, durch eine Privatisierung würden neue Investitionen in das bestehende Wohnungsportfolio freigesetzt und ganz generell sei es nicht mehr an der Zeit, dass sich ein Bundesland derart aktiv in den Wohnungsmarkt einmische – das waren neben den operativen Verlusten der LEG die Hauptargumente der Regierungsparteien.

Dysfunktionale Marktmechanismen auf dem nordrhein-westfälischen Wohnungsmarkt

Wohnungsmärkte in der freien Marktwirtschaft werden durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage geprägt. Dort, wo die Nachfrage nach Wohnraum größer ist als das Angebot, sind die Mieten vor allem in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Und gerade gewinnorientierte Wohnungsunternehmen haben an dieser Entwicklung ein hohes Interesse. Mit Blick auf NRW betrifft das vor allem die Ballungsräume. In Köln, Münster und Düsseldorf haben die Angebotsmieten im letzten Jahrzehnt zwischen 40 – 45 Prozent zugenommen. Die daraus resultierenden sozialen Effekte sind verheerend. Menschen mit kleinem und mittlerem Einkommen werden aus zentralen Wohnlagen verdrängt. Auch berufstätige Familien gehören zu den Leidtragenden, da sie oftmals die Ungewissheit plagt, ob sie sich die steigenden Mieten in den nächsten Jahren noch leisten können.

Die in vielen nordrhein-westfälischen Städten historisch gewachsene soziale Durchmischung der Stadtteile ist vielerorts gefährdet. Wissenschaft und Sozialverbände raten dazu, dass Menschen maximal 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für die Miete aufwenden. In viele Regionen des Bundeslandes liegt die Mietbelastungen inzwischen bei weit über 30 Prozent. 2022 lag sie mit dem landesweiten Mittelwert von 28,9 Prozent im Bundesvergleich überdurchschnittlich hoch.

Wie diese Zahl einzuordnen ist, wird mit Blick auf das andere Extrem deutlich – dort, wo das Angebot größer ist als die Nachfrage. Mit Blick auf NRW trifft das vor allem auf zwei Regionen zu: Zum einen sind es ländliche Regionen mit oftmals mangelhafter infrastruktureller Anbindung an die Ballungsräume. Auch wenn sich dieser Trend – vor allem seit der Corona- Pandemie – zu relativieren scheint, prognostizieren Statistiken auch in den kommenden Jahren für Teile des Sauer- und Siegerlandes sowie Ostwestfalen-Lippe Bevölkerungsrückgänge von bis zu 10 Prozent.

Was passiert, wenn der Wohnungsmarkt nicht in einem vergleichbaren Tempo schrumpft wie die Bevölkerung, lässt sich zum anderen heute schon in manchen Städten des nördlichen Ruhrgebiets beobachten. Nach dem Ende der Kohleförderung mussten einige Kommunen dort hinnehmen, dass binnen eines Jahrzehnts bis zu einem Viertel ihrer Bevölkerung die Region verlassen hat, um woanders einen neuen Arbeitsplatz anzunehmen. Das in Folge dieses Strukturwandels entstandene Überangebot an Wohnraum sorgt nicht nur für geringe Mieten, sondern für eine tatsächliche Auswahl auf dem Wohnungsmarkt.

Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die Kehrseite dieser Entwicklung sind geringe Investitionen in die Modernisierung des Wohnungsbestands. Zudem investieren gewinnorientierte Wohnungsunternehmen kaum in Neubauprojekte, da die Mieten beim Erstbezug oftmals mehr als 10 Euro pro Quadratmeter unter der Miete in den Ballungsregionen liegen. Die Folgen der ausbleibenden Modernisierungen und Neubauten prägen ganze Stadtteile. Erst recht, wenn Objekte gar nicht mehr vermietet werden und zu leerstehenden Schrottimmobilien verkommen.

Die daraus resultierenden sozialen Effekte sind ebenfalls verheerend. Überproportionale Armut und Zuwanderung sowie Verwahrlosung der Immobilien prägen diese Gegenden. Diejenigen, die können und über das notwendige Geld verfügen, ziehen aus den Stadtteilen fort. Das befeuert die Spirale dieses Trading- Down-Effektes.

Wohnen und Bauen: Warum es einen aktiven Staat braucht

Das Versagen dieser Marktmechanismen befeuert die soziale Ungleichheit an beiden Enden des Wohnungsmarktes: Dort, wo die Nachfrage nach Wohnraum größer ist als das Angebot, clustern sich Menschen mit hohem Einkommen und überdurchschnittlich hohen formalen Bildungsabschlüssen. Dort, wo das Angebot höher ist als die Nachfrage, kommen die Menschen zusammen, die über ein geringeres Einkommen und im Schnitt eine niedrigere formale Bildung verfügen.

Das Prinzip von Angebot und Nachfrage funktioniert auf dem Wohnungsmarkt gleich an zwei Enden nicht mehr. Auch wenn das Urteil eines Marktversagens nicht pauschal auf den gesamten nordrhein-westfälischen Wohnungsmarkt zutrifft, lässt sich dieses in manchen Regionen nicht mehr leugnen. Es bedarf jetzt eines staatlichen Eingriffs, schon allein um die Marktmechanismen wieder flächendeckend in Kraft zu setzen: In den Regionen, in denen Mieten exorbitant hoch sind, muss der Staat mit allen Mitteln das Angebotsdefizit entschärfen, indem er selbst baut und damit mittelfristig Wohnraum wieder für alle bezahlbar macht. Dort, wo es ein Nachfragedefizit gibt, muss der Staat qualitativ minderwertigen Wohnraum durch Aufwertung, Sanierung und zum Teil auch durch Rückbau vom Markt nehmen. Gelingt das, werden privatwirtschaftliche Investitionen wieder in Gang gesetzt und Quartiere, die über Jahrzehnte durch ein Investitionsdefizit geprägt waren, sozial durchmischter.

Vom Erkenntnisgewinn zum Handeln

Die Erkenntnis, dass der Wohnungsmarkt unter Funktionsstörungen leidet, ist nicht neu. Jedoch hat der Bauboom in der Niedrigzinsphase sie lange kaschiert. Doch mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges, den dadurch gestiegenen Zinsen und gestörten Lieferketten sowie dem anhaltenden Fachkräftemangel ist der Schnee geschmolzen, der die Probleme lange verdeckt hat. Die offensichtlichen Dysfunktionen lassen sich auch durch die Landesregierung kaum noch in Abrede stellen.

2023 wurden in NRW etwas mehr als 48.000 Wohnungen fertiggestellt. Benötigt wird mindestens die doppelte Anzahl. Allein 51.000 neue Wohnungen im geförderten Segment müssen pro Jahr geschaffen werden. Vielleicht mag es auf den ersten Blick paradox klingen, doch der geförderte Wohnungsbau boomt derzeit. Die Fördersumme für 2024 wurde unmittelbar vor der parlamentarischen Sommerpause durch die Landesbauministerin um eine Milliarden Euro auf 2,7 Milliarden Euro aufgestockt.

Ob der aufgestockte Topf ausreicht, um allen Anträgen gerecht zu werden, ist bereits im Spätsommer fraglich. In NRW wird dringend mehr geförderter Wohnraum benötigt. Insofern ist die Aufstockung des Topfes durch die CDU-Bauministerin richtig. Aber auch diese Entwicklung hat eine Kehrseite. Denn bisher deutet nichts darauf hin, dass in NRW insgesamt wieder signifikant mehr gebaut wird. Aus zuletzt veröffentlichten Zahlen lässt sich ableiten, dass der Bau von freifinanzierten Immobilien selbst in den meisten Ballungsregionen für die gewinnorientierte Wohnungswirtschaft zu teuer geworden ist. Ein weiteres Indiz dafür, dass Marktmechanismen nicht mehr funktionieren. Eine aktive Bau- und Wohnungspolitik ist notwendiger denn je. Doch es genügt nicht mehr, nur einzelne Stellschrauben an Fördertöpfen zu drehen. Es braucht jetzt einen großen Wurf. Das Land muss wieder zum Marktakteur werden.

Funktionen und Aufgaben einer landeseigenen Gesellschaft

Die Vorteile einer landeseigenen Gesellschaft für Bauen und Entwicklung liegen auf der Hand: Sie stellt dauerhaft bezahlbaren Wohnraum für unterschiedliche Zielgruppen zur Verfügung und kann gemeinwohlorientiert dort investieren, wo es der freie Markt nicht tut. Dabei richten sich die Angebote an alle Menschen. Der Bedarf berufstätiger Familien wird ebenso berücksichtigt wie der geförderte Wohnungsbau. Durch den Aufkauf, die Aufwertung und die Sanierung von minderwertigem Wohnraum wird unter stadtplanerischen Aspekten unmittelbare Sozialpolitik betrieben, die ganz nebenbei auch zum Erreichen der Klimaziele im Gebäudesektor beiträgt. Gleichzeitig ist das Land der steuernde Akteur und der Wohnungsbau wird planbarer. Es ist nicht von Anreizen für bzw. Absichtserklärungen von gewinnorientierten Wohnungsunternehmen abhängig. Zudem kann das Land über die landeseigenen Wohnungen mäßigenden Einfluss auf die Mietpreisbildung am Wohnungsmarkt nehmen, zumal es keine zeitlich begrenzte Mietpreisbindung gibt. Durch den Bau und die Vermietung von qualitativem Wohnraum, aber auch durch den Rückbau von minderwertigen Schrottimmobilien kann das Land einen Beitrag zur sozial integrativen Quartiersentwicklung leisten.

Mit Blick auf NRW sind bei der Konzeption einer eigenen Gesellschaft dabei vor allem folgende Punkte zu beachten:

Damit sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, muss die neugegründete Gesellschaft Teil des unveräußerlichen Landesbesitzes werden, etwa als Anstalt öffentlichen Rechts. Zudem muss sie mit einer auskömmlichen Kapitaleinlage ausgestattet sein, die in Teilen durch Grundstücks- und Gebäudewerte des Landes eingezahlt werden könnte. Die landeseigene NRW-Bank kann auf dieser Grundlage das weitere Investitionsvolumen durch Kapitalaufnahmen generieren. Zugleich muss der Charakter der neuen Gesellschaft voll und ganz auf das Gemeinwohl zielen. Das heißt zum einen, dass eine Kapitalentnahme ausgeschlossen werden muss. Und zum anderen, dass keine Gewinne ausgeschüttet werden dürfen. Mieteinnahmen müssen vollständig für Investitionen, Bestandserhalt, Instandhaltung und stabile Mieten eingesetzt werden.

Gemeinwohl zielen. Das heißt zum einen, dass eine Kapitalentnahme ausgeschlossen werden muss. Und zum anderen, dass keine Gewinne ausgeschüttet werden dürfen. Mieteinnahmen müssen vollständig für Investitionen, Bestandserhalt, Instandhaltung und stabile Mieten eingesetzt werden.

Ein begleitendes Maßnahmenkorsett ist nötig

Nur der große Wurf, die Schaffung einer neuen Landesgesellschaft für Wohnen und Entwicklung, wird die Situation auf dem Wohnungsmarkt stabilisieren, Marktmechanismen wieder in Kraft setzen und soziale Konflikte entschärfen. Zugleich sind begleitende Maßnahmen notwendig, damit dieser große Wurf gelingt. Komplizierte Bauvorschriften müssen abgeschafft und die bürokratischen Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. Zudem muss die Zusammenarbeit mit den Städten und Gemeinden intensiviert werden. Bestehende kommunale Wohnungsbaugesellschaften sowie -genossenschaften müssen gestärkt werden. Gerade auch, damit sich die Landesgesellschaft auf die Kommunen fokussieren kann, die über keine eigene Wohnungsbaugesellschaft verfügen. Darüber hinaus muss in NRW die Befristung der Mietpreisbindung aufgehoben oder nach dem Hamburger Vorbild auf 100 Jahre verlängert werden.

Fazit

Der Verkauf der LEG war ein historischer Fehler. Doch es geht bei der Schaffung einer neuen Landesgesellschaft nicht nur darum, den damaligen politischen Irrtum zu korrigieren. Ein viel stärkeres Argument sind die Veränderungen, die der Wohnungsmarkt seit der und durch die LEG-Privatisierung erfahren hat. Die Mechanismen des freien Marktes sind vielerorts gestört. Es braucht eine staatliche Intervention, um einen drohenden Kollaps abzuwenden. Das kann gelingen, indem das Land durch verschiedene Maßnahmen – vor allem aber mithilfe einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft – die Zügel auf dem Wohnungsmarkt wieder stärker selbst in die Hand nimmt. Denn das Land baut nicht aus Profitorientierung, sondern im Sinne des Gemeinwohls und kann dadurch sein Handeln besser an die Bedürfnisse der Bevölkerung anpassen.

Von zentraler Bedeutung ist bei allen Planungen ein ganzheitlicher Ansatz, der alle Akteurinnen und Akteure des Wohnungsmarkes bedenkt. Eine umfassende Lösung darf keine Option ausschließen. Es geht nicht darum, nur zu bauen, zu vermieten, zu entwickeln oder nur geförderten Wohnungsbau anzustreben. Es geht um einen lösungsoffenen Ansatz, der den Wohnungsmarkt in Nordrhein-Westfalen langfristig stabilisiert, dysfunktionale Marktmechanismen korrigiert und das Recht auf Wohnraum endlich umsetzt.

Derzeit zeichnet sich nicht ab, dass die schwarz-grüne Landesregierung zu einem derart großen Wurf bereit ist. Zugleich wird immer offensichtlicher, dass die vielen Pflaster der Landesbauministerin das System mittel- bis langfristig nicht heilen. Der Druck wird weiterwachsen und der Ruf nach einer aktiven Bau-, Wohnungs- und Entwicklungspolitik lauter werden.

2025-06-26T15:48:17+02:00
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