Heft 262 – 01/2025
Rezension: Die Matrix der Arbeit
#kultur #kritik #spw
Thilo Scholle ist Jurist. Er lebt in Lünen und Berlin.
Thilo Scholle
Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA) (Hg.)
Matrix der Arbeit. Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit
7 Bände im Schuber
Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2023
je ca. 368 Seiten, 245 €
Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (Hg.)
Matrix der Arbeit. Mitten im dunklen Tal – am Ende Wohlstand und Freiheit?!
Kurzfassung der Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit
Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2024
447 Seiten, 24 €
Die Analyse der Entwicklung menschlicher Arbeit in ihren Bezügen zur Entwicklung von Technik und Wissenschaft sowie den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Herrschaftsverhältnissen steht im Mittelpunkt des Forschungsprogramms des vom ehemaligen VW-Personalvorstand Horst Neumann gegründeten Instituts für die Geschichte und Zukunft der Arbeit. Die nun in sieben Bänden sowie einer begleitenden Kurzfassung veröffentlichte „Matrix der Arbeit“ stellt dabei die beindruckende Synthese der in den letzten Jahren gewonnenen Erkenntnisse dar. Wie in den oben vorangestellten Zitaten deutlich wird, gehen die Forscher* innen des Instituts von der grundsätzlichen Möglichkeit einer humanen Arbeitswelt auf einem ökologisch stabilen Planeten aus – deren Gestaltung allerdings fundamentaler Änderungen insbesondere der aktuellen Wirtschaftsordnung bedarf.
Die in den sieben Bänden versammelte Materialfülle ist beinahe überwältigend. So werden über die Epochen seit den Anfängen der Menschheit hinweg stets die Entwicklungen in den Bereichen Wissenschaft, Kommunikation, Energie, Technik, Arbeitsorganisation, Arbeit, Arbeitsteilung, Arbeitszeit, Alltagsleben, Wirtschaft, Herrschaft, Bevölkerung sowie Klima in den Blick genommen und in ihren gegenseitigen Bezügen analysiert. Dabei unterstreichen die Autor*innen, dass die beschriebenen Epochen nicht jeweils in sich sowie in ihrer zeitlichen Abfolge abgeschlossen sind, sondern regional unterschiedlich ausgeprägt sein können. Band 1 enthält neben einer Einleitung die Darstellung der Frühgeschichte der Arbeit. Band 2 widmet sich der Agrikulturepoche – etwa den letzten 10 000 Jahren. Mit rund 500 Seiten am umfangreichsten ist Band 3 zu „Kapitalistische Marktwirtschaft und Produktionsweise“. Gleich einleitend halten die Autor*innen dabei in einer Fußnote fest, sie verstünden sich zwar nicht als „orthodoxe Marxisten“, hielten aber die Marx’sche Analyse der Grundstrukturen der Kapitalistischen Produktionsweise bislang für unübertroffen. Die Ergebnisse der Kapitalistischen Marktwirtschaft sind vielschichtig. Emanzipatorische Potenziale sehen die Autor*innen etwa in der Entwicklung einer Vielzahl an Konsumund Lebensformen, der Quantität und Qualität der Bedürfnisbefriedigung bei Nahrung, Kleidung, Wohnung, Transport, Kommunikation, Bildung und Kultur; bei der höheren Produktivität der Arbeit auf Basis von Maschinen und digitaler Technik; bei der Entlastung von schwerer, belastender und gesundheitsschädlicher Arbeit durch Automatisierung; beim Potential für Arbeitszeitverkürzung und damit für mehr Zeit für Familie und persönliche Entwicklung; sowie bei der Effizienz in der Energie-, Rohstoff- und Bodennutzung. Dem gegenüber werden als destruktive Kräfte maßlose Renditeansprüche, entfremdete Arbeit, Artensterben, Überdüngung der Natur, die Ausplünderung von Bodenschätzen, das Anheizen des Treibhauseffekts sowie auf gesellschaftlicher Ebene ein Übermaß an Ungleichheit, der Kampf um Ressourcen auch zwischen Staaten sowie Rüstung und Kriege benannt. So lautet das Fazit: „Wir produzieren und leben über unsere Verhältnisse. Gleichzeitig produzieren und leben wir aber auch unter unseren Möglichkeiten.“ Band 4 widmet sich der Zukunft der Arbeit, und nimmt dabei insbesondere die Themen Produktivitätsrevolution, Qualität der Arbeit sowie „sozialökologische Transformation und neue Produktivität“ in den Blick. Entscheidend für die Zukunft der Arbeit ist die Verbindung aus materiellem Wohlstand, Zeitwohlstand und der Qualität der Arbeit. Die Bände 5 und 6 widmen sich den „Großen Trends“: Klima, Bevölkerung, Arbeitsorganisation, Arbeitsteilung, Arbeit – Technik – Wissen, Arbeitszeit, Arbeitslosigkeit, Armut und Reichtum, Patriarchat, und Herrschaft. Der abschließende Band 7 enthält erläuternde Überblicke zu den genutzten Daten. Faszinierend sind in den Bänden zudem die oft zwei komplette Druckseiten umfassenden graphischen Übersichten, mit der „Matrix der Arbeit“ von ihren Anfängen bis heute als Mittelpunkt der Darstellung.¹
Eine kompakte Zusammenfassung der Forschungsergebnisse findet sich auf etwas mehr als 400 Seiten im Band „Mitten im dunklen Tag – am Ende Wohlstand und Freiheit?!“ Der Einstieg in die Darstellung ist dabei sehr unmittelbar – im kurzen Vorwort halten die Autor* innen fest, neben Konflikten und Kriegen um Land, Wasser und Bodenschätze, Rückfällen in autokratische Herrschaft, Klimawandel mit Dürren und Überflutungen, verschmutzten Ozeanen und verschmutzter Luft, mit Hungersnöten und Pandemien halte das Jahrhundert ebenso zivilisatorische Elemente und technische Lösungen für ein Ende der Knappheit und ein Reich der Freiheit bereit. „Die Waage von Utopie und Dystopie neigt sich nicht nach Naturgesetzen in eine Richtung. Ob die Ambivalenz des Homo sapiens mit Egoismus und Gemeinschaftssinn schließlich in ein planetares, verantwortungsbewusstes Gemeinschaftswissen und -fühlen transformiert wird, wird Ergebnis unseres Handelns sein, des politischen Engagements für eine solidarische nachhaltige Marktwirtschaft im Rahmen unserer globalen Polis.“
Als kapitalistische Epoche bezeichnen die Autor*innen die letzten 200 Jahre, beginnend um 1800 in England, während sie in vielen Ländern des globalen Südens zur Zeit noch in einem sehr frühen Stadium sei. Der große Produktivitätssprung habe nach 1800 mit der Industrialisierung begonnen und dann ab 1950 mit der Digitalisierung – die das Potential zu einem Ende der Knappheit eröffnet habe – einen weiteren Schub erfahren. Mit Blick auf die kommenden 100 Jahre halten die Autor*innen fest, man müsse „die 5000-jährigen hierarchischkriegerisch- patriarchalen Traditionen abschütteln und die Allokations- und Steuerungsdefizite der kapitalistischen Marktwirtschaft beheben und in eine solidarische nachhaltige Marktwirtschaft ‚transformieren‘.“ Die Demokratie sei selbst in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern des „Freien Westens“ erst in den Anfängen freiheitlich-demokratisch. „Eine Plutokratie des Big Money nimmt vielfach gravierenden Einfluss auf die Willensbildung und Regierungsgeschäfte. Sie wird unterstützt durch den Alltagsglauben des Segens freier Marktkräfte, der eine gesellschaftliche Einbettung und staatliche Regulierung der Allokationsmechanismen bekämpfen hilft.“ Mit Blick auf den Gang der Geschichte ließen sich fünf wichtige Struktur- und Entwicklungslogiken herausarbeiten: Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität in zwei ‚Sprüngen‘ (zunächst um den Faktor 3 und dann später um den Faktor 30); den Übergang von der Subsistenzwirtschaft zur Markt- und Geldwirtschaft; den Wechsel von den kleinen Wildbeutergemeinschaften über die hierarchisch-patriarchalisch-imperialen Agrikulturgesellschaften zur Kapitalistischen Marktwirtschaft; den Wechsel der Lebensweisen vom Mangel-Überfluss über den knappen Reichtum zum Ende der Knappheit; von der Anpassung an die natürlichen Habitate über Raubbau und Zerstörung der Mitwelt bis zur Umstellung auf ökologische Nachhaltigkeit als Überlebensfrage.
Im Abschnitt „Strukturen und Definitionen“ halten die Autor*innen im Kapital „Die Ambivalenz der menschlichen Natur“ fest, Arbeit sei ein wesentliches Element des Menschen, zusammen mit spezifischen Formen von Kooperationen, Denken, Fühlen und Kommunizieren. Dabei lasse sich eine technische oder Gebrauchswertseite der menschlichen Arbeit – die Auseinandersetzung mit den Naturstoffen mittels Werkzeugen – und eine gesellschaftliche Seite der Arbeit als gemeinschaftlicher, arbeitsteiliger und kooperativer Prozess festmachen. Beide Seiten hätten sich gegenseitig in Differenzierung und Effizienz befördert und sich mit der kapitalistischen Produktionsweise in einen systematischen, dynamischen Zusammenhang von Wettbewerb, Renditedruck und Kostensenkungen mit technisch-wissenschaftlicher Innovation, Effizienz- und Produktivitätsverbesserungen entwickelt, allerdings um den Preis der Verkehrung der Beziehung von Subjekt und Objekt, also der Unterordnung von Mensch und Natur unter die absolut gesetzten Logiken verdinglichter Formen von gesellschaftlicher Arbeit: Geld, Kapital und Rendite. An den großen Epochen der Produktions- und Lebensweisen machen die Autor*innen drei wesentliche Transformationen fest: um ca. 10 000 Jahre vor unserer Zeit die Neolithische Revolution mit Ackerbau und Tierhaltung; um ca. 5000 Jahre vor unserer Zeit die ‚5000er-Transformation‘ mit Bewässerung, Pflug und Zugtier, Metallen, Überschussproduktion, Hierarchie, Bürokratie, Armee, Krieg und Patriarchat; sowie um 250 vor unserer Zeit die kapitalistische Marktwirtschaft und Produktionsweise mit Industrieller Revolution und späterer Digitaler Revolution. Daraus ließen sich vier Epochen der Geschichte der Arbeit entwickeln – die „Frühgeschichte der Arbeit“ von 2.5 Millionen – 10 000 vor heute; „Frühe und Hierarchisch-imperiale Agrargesellschaften“ von 10 000 bis 100 vor Heute; „Kapitalistische Marktwirtschaft und Produktionsweise“ von 1800 nach Christus bis heute, und – zeitlich überlappend – die „Gegenwart und Zukunft der Arbeit“ ab etwa 2000 nach Christus.
Für die Beschreibung der Geschichte der Arbeit zentral sind Arbeits-Produktivität, notwendige Arbeitszeit sowie Automatisierung. Der eigentliche Produktionsschub des ‚zweiten Maschinenzeitalters‘ mit Computer und Künstlicher Intelligenz stehe erst noch bevor. Im Ergebnis schlagen die Autor*innen in Weiterentwicklung bestehender sozialer Sicherungssysteme Lebensarbeitszeitmodelle mit einem neuen Optimum an Flexibilität und Sicherheit über den gesamten Lebenslauf hinweg vor. Insgesamt ist Ziel eine sozial-ökologische Transformation mit den wesentlichen Einflussfaktoren CO2-Emmissionen, Bevölkerungsentwicklung, Produktivität, Arbeitszeit, Erwerbsquote, Energieverbrauch pro Gut und CO2-Verbrauch pro Energieeinheit. Finanzierbar sei dies im globalen Maßstab bereits jetzt, entweder durch Umsteuerung von den Verteidigungshaushalten oder durch Umsteuerung der aktuellen Förderung fossiler Energiegewinnung auf dieses Ziel. Statt über utopische arbeitsfreie Gesellschaften oder dystopische Vorstellungen von technologischer Arbeitslosigkeit und einer Herrschaft der Roboter zu träumen, sei die Frage, wie „wir den Pfad des Ersatzes von mühseliger, monotoner und gefährlicher, kurz entfremdeter Arbeit beschleunigen können und gleichzeitig die immer noch reichlich vorhandene Arbeit attraktiv gestalten“ können. „Technisch ist heute nach 250 Jahren Kapitalistischer Marktwirtschaft alles da, um das Ende der Knappheit für alle Menschen weltweit einzuläuten. Dem stehen die Logiken der gesellschaftlichen Spaltung, des Erbes der hierarchisch- imperialen Zeit und der kapitalistischen Steuerung durch das verselbstständigte Renditeprinzip entgegen. Diese Strukturen, Logiken und Traditionen haben im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts mit Finanzialisierung und Deregulierung wieder Aufwind bekommen.“ Als produktiv sollte eigentlich solche Arbeit gelten, die nachhaltigen Güterwohlstand, Zeitwohlstand und Arbeitswohlstand schafft. Ziel sei eine „sozial-ökologisch regulierte Marktwirtschaft“, in der nicht der Investor als Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaftsordnung fungiere, sondern der produktive Arbeitnehmer und Unternehmer und die verantwortungsbewussten Konsumenten. Und das alles mit einer Vielfalt von Produzenten und Eigentümer*innen, von unternehmerisch Selbstständigen über Genossenschaften, öffentlichen Betrieben bis hin zu Aktiengesellschaften.
Die Matrix der Arbeit ist ein großer Wurf. Dies betrifft zum einen die Gesamtdarstellung des Zusammenhangs von menschlicher Arbeit und allgemeiner Entwicklungsgeschichte. Zum anderen gelingt auf überzeugende Art und Weise und durchaus im Anschluss an bereits im Werk von Karl Marx angelegte Perspektiven, die grundsätzlich positiven Gestaltungsmöglichkeiten im Anschluss an die kapitalistische Entwicklungsepoche der letzten 250 Jahre aufzuzeigen. Am Ende der aktuellen Entwicklung muss weder ein ökologischer oder ökonomischer Zusammenbruch stehen, noch ist ein „Weiter so“ auf dem bestehenden ökonomischen Ordnungsmodell alternativlos. Die Entwicklung menschlicher und technischer Produktivkräfte kann die Tür zu einer humanen und ökologischen Gestaltung dieser Welt öffnen. Während die technologische Entwicklung etwa mit Blick auf die Nutzungsmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz in der Arbeitswelt die Potentiale in diese Richtung ein gutes Stück weit erweitern könnte, scheinen sich die globalen Entwicklungen ökonomischer und politischer Herrschaft der letzten Jahre eher weiter von diesem Ziel zu entfernen. Umso verdienstvoller ist daher das vorliegende Projekt, das mit seiner Darstellung der langen Linien historischer Entwicklungen die Perspektiven und Ansatzpunkte für einen anderen Entwicklungspfad aufzeigt und damit Verantwortlichkeit für diese Option erzeugt.
¹ Zur Matrix siehe auch https://igza.org/projekt/matrix-der-arbeit/