Heft262 – ANalyse

Die Linke verteidigt das System – nach vorne

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Andreas Fisahn ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht, Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Er ist Herausgeber der spw.

Andreas Fisahn

„Früher war man links mit radikaler Systemkritik, heute ist man links, wenn man das System verteidigt.“ Das stammt aus keiner politischen Flugschrift, sondern wurde dem Rechtsmediziner Dr. Vogt alias Jürgen Hartmann im Stuttgarter Tatort „Verblendung“ in den Mund gelegt. Ist das so? Reicht die Verteidigung und muss man als Linke Kritik zurückstellen?

Die deutsche Öffentlichkeit wurde aufgeschreckt, als Friedrich Merz im Wahlkampf ohne Not den Presslufthammer herausholte, der Brandmauer zu Leibe rückte und mit den Stimmen der AfD über seine rechtswidrige Asylpolitik abstimmen ließ. Auch die Wahl von Donald Trump wurde mit schreckensweiten Augen zur Kenntnis genommen und die Gazetten überboten sich im Glaskugel lesen, um zu ergründen, was der Egomane im Weißen Haus von seinen Ankündigungen wahrmache. Eher mit Achselzucken wird inzwischen zur Kenntnis genommen, dass Rechtsextreme in vielen EU-Ländern von Italien bis Finnland, von den Niederlanden bis Ungarn in den Regierungen sitzen oder gar die Regierungschefs stellen. Kurz: Der aufhaltsame Aufstieg der extremen Rechten ist nicht nur ein deutsches oder europäisches, sondern ein weltweites Phänomen. Und alle diese Parteien sind ordnungsgemäß gewählt worden, auch wenn das politische System der USA kaum noch als demokratisch bezeichnet werden kann.

Und noch etwas hat sich inzwischen herumgesprochen: Die extremen Rechten holen ihre Stimmen überdurchschnittlich bei „den Arbeitern“, sogar bei gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen und bei den Jugendlichen. In Thüringen setzten 2024 bei der Landtagswahl 35 % der Menschen zwischen 18 und 29 Jahren ihr Kreuz bei der AfD, womit die Partei in dieser Altersgruppe mit Abstand stärkste Kraft war, die LINKE folgte mit 15 Prozentpunkten. Bei der Europawahl 2024 wurde die AfD mit 33 % bei den Arbeitern und Arbeiterinnen mit Abstand stärkste Partei. Der Deutschlandfunk titelte: „Warum die Arbeiterklasse zunehmend rechts wählt. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter wählen mittlerweile AfD – anstatt SPD oder Linke.“¹ Und es gibt einen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Bei der Europawahl wählten 19 % der Männer, aber nur 12 % der Frauen die AfD.

Alte Muster passen nicht

Die Befunde machen die Erklärung schwer, weil man nicht auf linke Erklärungsmuster zum Erstarken der Nazis in Weimar zurückgreifen kann. Bisher halten sich große Unternehmen eher auf Distanz zur extremen Rechten – jedenfalls in Europa. In den USA haben sich mit Trumps Sieg viele der Superreichen an ihn rangewanzt. Und es sind nicht vor allem (abgestiegene) Kleinbürger, die rechtsextrem wählen.

Man muss nach weltweiten Gemeinsamkeiten bei der Ursache suchen. Branko Milanović, der lange als Ökonom bei der Weltbank gearbeitet hat, erklärte den Aufstieg Trumps so: „Es wurde jedoch argumentiert – und ich denke, das ist offensichtlich –, dass die Grundlage für seinen Aufstieg in Wirklichkeit von der neoliberalen Politik geschaffen wurde, die nach und nach die Unterstützung der Bevölkerung verloren hat. Es ist kein Zufall, dass 77 Millionen Menschen für Trump gestimmt haben und es ist ebenso wenig zufällig, dass es derzeit ähnliche Bewegungen gibt, die große westliche Länder wie Deutschland und Frankreich politisch destabilisieren.“² Und in der Tat handelt sich beim Legitimationsverlust demokratischer Systeme um ein weltweites Phänomen, das gleichsam zu dem Zeitpunkt, als der Neoliberalismus seinen Zenit überschritten hatte, in der Krise 2008/09, besonders deutlich wurde.

Verwerfungen und Verunsicherung

Aber das ist noch keine Erklärung, sondern zunächst eine Korrelation. Wenn man die Erklärungsversuche systematisieren will, gibt es wohl drei Aspekte, die hervorgehoben werden, sich aber nicht ausschließen. Erstens wird auf die sozialen Verwerfungen hingewiesen, die mit dem Neoliberalismus verbunden waren. Die Fakten sind bekannt: Die Schere zwischen Arm und Reich ist weiter auseinander gegangen und neoliberale Regierungen haben den Sozialstaat geschleift. In der Bundesrepublik war es die Regierung Schröder/ Fischer, welche die Arbeitslosenhilfe drastisch auf Hartz IV senkte. Die relative Sicherheit, die auch arbeitslos gewordene Menschen mit dem alten System hatten, ging verloren. Die Abstiegsangst war zurück, aber nicht die Abstiegsangst des Kleinbürgertums, das vom Monopolkapital deklassiert wurde, wie Adorno noch 1967 in einem Vortrag meinte.³ Es ist die Abstiegsangst der „Arbeiterklasse“, welche diese veranlasst, Zuflucht bei den „guten alten Zeiten“ zu suchen. Das ist die eine Seite der Verunsicherung. Aber soziale Verwerfungen, so die gängige Ansicht, müssten zu einem Aufstieg der Linken führen, nicht der Rechten. Es könnte sein, dass diese Ansicht schon immer falsch war und die Linke gerade in stabilen Zeiten gewinnt. Es kommt noch etwas hinzu:

Die zweite Seite der Verunsicherung ist eine kulturelle Verunsicherung oder Entfremdung. Der neoliberale Umbau der Gesellschaft war mit einer politischen und kulturellen Liberalisierung verbunden. Was in der fordistischen Massengesellschaft verpönt war, den Außenseiter markierte oder gar strafbar war, wie männliche Homosexualität, wurde im Neoliberalismus Alltagskultur. Diese Liberalisierung wird insbesondere von Menschen, die weiter der fordistischen Disziplinierung unterliegen, nur begrenzt verstanden oder nachvollzogen. Weiter ist mit dem Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft eine andere Sicht auf Arbeit verbunden, die von den Beschäftigten als mangelnder Respekt oder fehlende Anerkennung ihrer (Lebens-) Leistung wahrgenommen wird und das kulturelle Fremdeln verstärkt. Hinzu kommt: Die Liberalisierung wird von akademisierten Schichten inzwischen als Distinktionsmerkmal genutzt. Zur Abhebung dient eine konstruktivistische Weltsicht, die Herrschaft als Phänomen der Sprache begreift und Linkssein über antisexistisch, antirassistisch und antikolonialistisch definiert, nicht aber über die soziale, nicht einmal mehr über die ökologische Frage und die Destruktivkräfte der kapitalistischen Produktionsweise. Dem können große Teile der Menschen nicht mehr folgen. Im Ergebnis ist zunächst eine Entfremdung von abhängig Beschäftigten und der gesellschaftlichen Linken zu beobachten, die schließlich in Aversion umschlägt und den Nährboden für den Kulturkampf liefert, der heute in Hasstiraden auf das Gendern seinen Ausdruck findet.

Es gibt also eine kulturelle Verunsicherung, die nach außen nicht als solche erscheint, sondern zur Wut führt – und diese Wut tobt sich auch im kulturellen Sektor aus. Die Bürger der DDR haben den kulturellen Wandel erheblich rasanter nachvollziehen müssen und – anders als im Westen – wurde der Wandel nicht auch als Befreiung wahrgenommen. Adorno sprach von „Kulturreaktion und der angedrehten Provinzialisierung“, zu der heute insbesondere die Abgrenzung gegenüber dem Fremden, gegenüber fremden Kulturen, die in Deutschland nichts zu suchen hätten, gehört. Das ist inzwischen ein Kernelement der rechtsextremen „Theoriebildung“. Zur kulturellen Verunsicherung gehört schließlich die Atomisierung, oder Vereinzelung, die schließlich als Einsamkeit oder Verlassenheit wahrgenommen wird. Einsamkeit fördert schließlich Ressentiments. Die Suche nach der Identität hat merkwürdigerweise eine Doppelerscheinung: Auf der Rechten erstarkt der Nationalismus der Identitären, auf der Linken flüchtet man in eher theorielose Identitätspolitik.

Drittes Element der Verunsicherung ist der neoliberale Umbau der pluralistischen Demokratie. Noch einmal ein Rückgriff auf Adorno: „Die faschistischen Bewegungen könnte man in diesem Sinne als Wundmale, als die Narben einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird.“ Die Regierung Brandt hatte sich auf die Fahnen geschrieben, die Demokratie zu erweitern – auch wirtschaftsdemokratisch, was zum Teil gelungen ist. Im Neoliberalismus wurde die pluralistische Form der Demokratie entleert und durch neue Formen der elitären Partizipation ersetzt. An die Stelle gleichberechtigter Vertretung von Gewerkschaften und Unternehmen traten auch formelle Absprachen zwischen Staat und Unternehmen in unterschiedlichsten Formen oder Private übernahmen gleich staatliche Aufgaben. Die wirtschaftsdemokratischen Elemente, d.h. die Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieb, verloren an Boden. Das wird zwar nicht artikuliert, aber wahrgenommen und führt zu den bekannten Reaktionen: „Die da oben machen doch eh…“ Und schließlich verfangen Parolen mit dem Inhalt „Let’s take back control“, die den von rechts gesteuerten Austritt Großbritanniens aus der EU begleitete. Die Idee der Selbstbestimmung wird nationalistisch verdreht. Die Orientierungslosigkeit im postneoliberalen Chaos verschafft den extrem rechten Scheinlösungen Auftrieb, die mit einem Rückzug ins Private einhergeht.

Um die Anfälligkeit der Jugend für die Parolen der AfD zu verstehen, muss wohl die Veränderung der Mediennutzung, der Abstieg der alten Medien zugunsten der neuen „sozialen Medien“ berücksichtigt werden. Kennzeichnend für die Rechte war schon immer eine Perfektionierung der Propaganda bei armseligen Inhalten und fehlender Theoriebildung.

Die Angst vor der Freiheit

Apropos Theoriebildung: Das Problem der Verunsicherung und der Verlustängste in Zeiten des Umbruchs hat Erich Fromm schon 1941 theoretisch verarbeitet. Fromm legt in „Furcht vor der Freiheit“ dar, dass die Auflösung der mittelalterlichen Ordnung durch neue Produktionsweisen zu Verunsicherungen bei „Eliten“ und „einfacher“ Bevölkerung führten. Man kannte seine Stellung in der neuen Ordnung nicht mehr. Die fixierten Strukturen und festgefügten Rollen im Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft gingen verloren. „Die neue Freiheit musste in ihm ein tiefes Gefühl der Unsicherheit und Ohnmacht, des Zweifels, der Verlassenheit und Angst wecken. Wenn der Mensch sich in der Welt behaupten sollte, musste er wenigstens teilweise von diesen Gefühlen erleichtert werden.“¹⁰ So sei die Sehnsucht nach einer neuen Autorität entstanden. Luther und Calvin griffen, so Fromm, zwar die Autorität der katholischen Kirche an, unterwarfen sich aber mehr als die katholische Lehre einem autoritären Gott, der keine Gnade und keine Vergebung kennt. Fromm nennt die Unterwerfung unter eine absolute Autorität und den Hass gegen andere, die „Unteren“ und sich selbst einen sado-masochistischen Charakter. Und natürlich schlägt er vom Protestantismus der frühen Neuzeit den Bogen zur autoritären Persönlichkeit des Kleinbürgers im Nationalsozialismus, der sadistisch gegenüber anderen, sich masochistisch der Autorität von Führer, Volk und Vaterland unterwirft. Der auch inszenierte Hass konnte nur auf fruchtbaren Boden stoßen, weil die „Furcht vor der Freiheit“ die Menschen bestimmte, weil neue Zeiten zu Verunsicherung und Angst führten. Nassehi spricht von Überforderung, die in ein generelles Unbehagen umschlägt.¹¹

Diese Erklärungen scheinen geeignet, auch die autoritären Tendenzen der Gegenwart zu begreifen. Der Neoliberalismus und sein Scheitern haben ein Chaos¹² hinterlassen, das von vielen nicht mehr verstanden wird, und so suchen sie Halt im Autoritären und der Abgrenzung von den „Unteren“. Im Chaos der Dauerkrise seit 2008 – auf die Finanz- folgten Euro-, Migrations- und Coronakrise, Krieg und Inflation, die überwölbt sind von Klimakrise und säkularer Stagnation – geht die Orientierung verloren. Nun haben die Studien von Heitmeyer und dem Bielefelder IKG zu den „Deutschen Zuständen“¹³ immer wieder vor Augen geführt, dass Ressentiments und nationalchauvinistische Einstellungen in der Gesellschaft nie vollständig verschwunden, sondern in einem Bodensatz immer vorhanden waren. Gleichzeitig machen die Untersuchungen deutlich, dass die Weltbilder und politischen Ansichten oft in sich widersprüchlich sind;¹⁴ z.B. Ungleichheit und gleichzeitig eine hohe Erbschaftssteuer ablehnen. Intoleranz und offene Diskriminierung waren eine Zeit lang unfein, wurden im öffentlichen Leben tabuisiert und aus den privaten Beziehungen verdrängt. Sie wurden von den konservativen Parteien eingebunden. Im postneoliberalen Chaos hat sich diese Einbindung aufgelöst, die extreme Rechte hat sich erfolgreich parteipolitisch organisieren können oder hat die alten konservativen Parteien schlicht übernommen wie in den USA.

Optionen der gesellschaftlichen Linken?

Die Linke hat nach dem Sieg über das Nazi- Regime in weiten Teilen die Auffassung geteilt, dass zur Abwehr des Faschismus oder des rechten Autoritarismus eine breite Einheitsfront gebildet werden sollte. Dabei müsse nicht nur die Linke ihre (partei-)politischen Differenzen überwinden, sondern auch mit den bürgerlichen, konservativen Parteien zusammenarbeiten. Die eurokommunistische Partei Italiens setzte – nach dem Putsch gegen die sozialistische Regierung in Chile 1973 – auf den „historischen Kompromiss“, die Zusammenarbeit mit den Christdemokraten, um den gewaltsamen Umsturz zu vermeiden. Kann und sollte die gesellschaftliche Linke heute an diese Strategien anknüpfen?

Nun haben sich die bürgerlichen, konservativen Parteien auch gewandelt. Ein Teil wurde, wie erwähnt, von der extremen Rechten übernommen. Sie radikalisieren den neoliberalen Marktradikalismus und scheinen sich anzuschicken, den regulierenden Staat zu zerschlagen. Diese Parteien sind mehr oder weniger in das nationalchauvinistische Lager abgewandert und sind schlechte Bündnispartner im Kampf um die Rettung der Demokratie.

Wenn der neoliberale Umbau der Gesellschaft ursächlich für den Rechtsruck ist, scheint es außerdem schwierig, mit den Verantwortlichen für diesen Umbau gegen rechts zusammenzustehen – jedenfalls wird so argumentiert. Allerdings haben die bürgerlich Konservativen auf den Legitimationsverlust des Neoliberalismus mit einer Umorientierung geantwortet und versucht, mit dem Green Deal Hegemonie für einen ökologischen Umbau des Kapitalismus zu erlangen. Bürgerlich-konservative Parteien mit dieser Ausrichtung standen eindeutig im Lager der Demokraten und waren Bündnispartner im Kampf gegen den neuen Autoritarismus. Dazu gehörte offenkundig die Merkel-CDU. Als Kemmerich (FDP) 2020 mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten in Thüringen gewählt wurde, hat Merkel die Thüringer CDU zurückgepfiffen. Kemmerich musste zurücktreten.

Inzwischen hat sich das Bild gewandelt: Die ökologische Hegemonie ist – in Deutschland – mit den Heizungs- und Bauernprotesten des Jahres 2023 in die Krise geraten, was auch für die EU insgesamt gilt. Die Merz-CDU und die EVP haben sich vom Green Deal verabschiedet. Friedrich Merz hat Ende Januar 2025 billigend in Kauf genommen, dass die AfD den Vorlagen zur Migrationspolitik der CDU im Bundestag zustimmt. Das war ein Tabubruch und für die Bundesrepublik wirklich eine Zeitenwende, die wenige zu einer so frühen Zeit erwartet haben. Wenn SPD-Mitglieder wollen, dass sie noch guten Gewissens in den Spiegel blicken können, ist eine Koalition mit der Merz-CDU ausgeschlossen.

Die neuen Projekte der gesellschaftlichen Entwicklung zeichnen sich ab, nämlich entweder eine verschärft neoliberale Kettensägepolitik oder ein Rüstungs-Keynesianismus, die beide mit innerpolitischer Repression verbunden und nach rechts offen sind – wobei sich Aufrüstung und Staatsabrüstung keineswegs ausschließen. Der Krieg in der Ukraine hat zu einer neuen Aufrüstung in der NATO geführt und es hat einen Überbietungswettbewerb um die Summen begonnen, die in die Rüstung fließen sollen. Der gesellschaftlichen Linken fällt in dieser Situation wohl die Rolle zu, Bündnisse quer durch die Parteien mit denen zu schmieden, die den öko-sozialen Umbau weiter betreiben wollen. Die Konstellation ist neu, weil viele Unternehmen durchaus im Lager des grünen Umbaus stehen und die langfristige Planung darauf eingestellt haben. Aber natürlich gibt es auch Profiteure der Hochrüstung, d.h. Kapitalfraktionen mit anderen Interessen oder Opportunisten wie die Big Five in den USA.

Wenn die Analyse richtig ist und Orientierungslosigkeit im postneoliberalen Chaos, Verlustängste und Verunsicherung den Aufstieg der Rechten, die autoritäre Wende begünstigen, dann braucht es auch gesellschaftliche und individuelle Perspektiven, die Orientierung bieten können. Anders gesagt: eine hegemoniefähige konkrete Utopie. Axel Honneth hat das so formuliert: „Einerseits ist das Unbehagen über den sozioökonomischen Zustand, über die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Arbeitsbedingungen enorm angewachsen. … Andererseits scheint dieser massenhaften Empörung jeder normative Richtungssinn, jedes geschichtliche Gespür für ein Ziel der vorgebrachten Kritik zu fehlen, so dass sie eigentümlich stumm und nach innen gekehrt bleibt; es ist, als mangele es dem grassierenden Unbehagen an dem Vermögen, über das Bestehende hinauszudenken und einen gesellschaftlichen Zustand jenseits des Kapitalismus zu imaginieren.“¹⁵ Kurz: Es braucht auch von links eine neue Orientierung, die Debatten um neue Formen der sozialen Absicherung einschließt. Der Sozialstaat muss von links neu konzipiert und gedacht werden und die Dimension gesellschaftlicher Solidarität jenseits moralischer Appelle beinhalten. Es geht um neue Formen der demokratischen Beteiligung jenseits prozeduraler Feigenblätter wie den Bürgerräten. Wenn die pluralistische Beteiligung über Großorganisationen nicht mehr gelingt, wenn gleichzeitig ein Rückzug ins Private stattfindet, braucht es neue Formen der Vertretung. Und es braucht neue Vorstellungen des guten Lebens, jenseits des erweiterten Konsumismus, welches die Vereinsamung aufhebt. Da ist noch eine Menge Gehirnschmalz aufzuwenden. Blochs Motto „Denken heißt Überschreiten“ gilt also jetzt erst recht. Wenn es heute links ist, das System zu verteidigen, dann kann diese Verteidigung wohl nur eine Vorwärtsverteidigung sein.

¹ https://www.deutschlandfunk.de/neue-studie-wie-die-afd-die-arbeiterklasse-fuer-sich-besetzt-dlf-07eb8a93-100.html.
² Milanović, Ein neuer Wind of Change, Neues Deutschland 18/191.2025, S. 20 f.
³ Adorno, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus (Berlin 2019), S. 10.
⁴ Ausführlich Fisahn, Repressive Toleranz und marktgesteuerte Demokratie (Köln 2022), S. 89 ff.
Adorno, a.a.O., S. 30.
Adorno, a.a.O., S. 18.
Nochmal ausführlich Fisahn, Repressive Toleranz und marktgesteuerte Demokratie (Köln 2022), S. 89 ff.
Also 10 Jahre vor den Studien zur autoritären Persönlichkeit von Horkheimer und Adorno.
¹⁰ Fromm, Erich, Die Furcht vor der Freiheit (München 2020), S. 51
¹¹ Nassehi, Unbehagen – Theorie der überforderten Gesellschaft, München2021.
¹² Demirović/ Fisahn/ Mahnkopf u.a., Das Chaos verstehen – Welche Zukunft in Zeiten von Zivilisationskrise und Corona? Hamburg 2021 passim
¹³ Heitmeyer, W., Deutsche Zustände 10 (Frankfurt 2011); vgl. auch zur theoretischen Einordnung: ders., Autoritäre Versuchungen (Frankfurt 2018); Zick / Küpper, Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21 Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska Schröter (Bonn 2021).
¹⁴ Mau/ Lux/ Westheuser, Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2024.
¹⁵ Honneth, Die Idee des Sozialismus (Berlin 2015), S. 15.

2025-06-26T17:57:45+02:00
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