Catcalling – Warum wir endlich über Macht, Würde und das Strafrecht reden müssen
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29.11.2025

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Nasim Ebert-Nabavi ist Rechtsanwältin und politisch aktiv, wo es um Gleichberechtigung, Würde und Rechtsstaatlichkeit geht. Sie bewegt die Frage, wie das Recht gesellschaftliche Realität prägt und wie es sie verändern kann.
VON Nasim Ebert-Nabavi
Wie frei ist eine Frau, wenn sie auf offener Straße jederzeit mit einem anzüglichen Spruch, einem Pfiff oder einer obszönen Geste rechnen muss?
Diese Frage betrifft nicht nur das individuelle Sicherheitsgefühl, sondern das Fundament unseres Rechtsstaates: den Schutz der Würde und der sexuellen Selbstbestimmung.
Catcalling ist kein Flirt, sondern Machtausübung. Wer mit Rufen, Pfiffen oder Kommentaren über den eigenen Körper konfrontiert wird, erlebt die Fortsetzung patriarchaler Strukturen im Alltag. Es geht nicht um ein misslungenes Kompliment, sondern um eine öffentliche Demonstration von Dominanz und damit um eine Einschränkung von Freiheit.
Patriarchale Muster im Alltag
Wer Catcalling erlebt, erfährt mehr als nur eine störende Bemerkung. Es ist Ausdruck einer asymmetrischen Machtausübung: Männer nehmen sich das Recht, den Körper einer Frau öffentlich zu kommentieren, bestimmen Zeitpunkt, Ton und Inhalt der Ansprache und machen sie damit gegen ihren Willen zum Objekt. Was oberflächlich als „Kompliment“ erscheinen mag, ist in Wahrheit eine Herabwürdigung, weil es Frauen auf äußere Merkmale reduziert und ihnen die Möglichkeit nimmt, selbst über Nähe, Distanz und Kommunikation zu entscheiden.
Dieses Muster reicht weit über die Straße hinaus. In digitalen Räumen, die von vielen noch immer wie rechtsfreie Zonen genutzt werden, findet es seine Fortsetzung. Ob Pfiffe, Sprüche oder Nachrichten, es sind Variationen desselben Dominanzdenkens. Die Botschaft bleibt dieselbe: Die Definitionsmacht liegt nicht bei den Betroffenen, sondern bei denen, die sich das Recht zur Ansprache nehmen.
Genau hier liegt die politische Dimension. Gleichberechtigung entscheidet sich nicht allein im Parlament oder im Bildungssystem, sondern im Alltag: auf Straßen, in Parks und in sozialen Netzwerken. Wenn der Rechtsstaat es zulässt, dass ein Teil der Bevölkerung regelmäßig zu Objekten gemacht wird, ohne dass die Würde effektiv geschützt ist, dann verfehlt er seinen eigenen Anspruch.
Rechtliche Schutzlücken
Oft wird Catcalling abgetan – als Lappalie oder Kavaliersdelikt. Doch die Realität zeigt ein anderes Bild: Viele Frauen ändern ihre Wege, ihr Tempo, ihre Kleidung. Sie greifen zum Schlüsselbund in der Tasche, schauen sich um, hören lauter Musik, um nichts mehr mitzubekommen. All das sind Schutzstrategien, stille Anpassungen an ein Klima, das die Freiheit einschränkt.
Juristisch zeigt sich das Problem in einer Lücke, die seit Jahren bekannt ist. Zwar könnte § 185 StGB, die Beleidigung, greifen, doch die Rechtsprechung bleibt restriktiv: Eine sexualisierte Bemerkung allein gilt selten als ehrverletzend. Selbst die Reduktion einer Frau auf ihre Sexualität reicht nach gängiger Auffassung nicht für eine Strafbarkeit. Damit wird die tatsächliche Verletzung der Würde oft unsichtbar gemacht.
Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz erklärt die Würde des Menschen für unantastbar, Art. 3 garantiert die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Wenn beides im Alltag systematisch unterlaufen wird, liegt nicht nur ein gesellschaftliches, sondern auch ein rechtsstaatliches Versagen vor. Denn ein Grundrecht, das auf der Straße nicht durchgesetzt wird, verliert seine Glaubwürdigkeit.
Seit der Reform des Sexualstrafrechts 2016 steht die sexuelle Selbstbestimmung im Zentrum. Lange wurde sie fast ausschließlich körperlich verstanden: keine unerwünschte Berührung, kein Zwang. Doch Selbstbestimmung bedeutet mehr – das Recht, nicht gegen den eigenen Willen in eine sexuelle Interaktion hineingezogen zu werden. Das Strafrecht kennt diese Logik längst: Exhibitionismus oder das Zusenden pornografischer Inhalte sind strafbar, obwohl keine körperliche Berührung stattfindet. Warum also sollte Catcalling anders behandelt werden? Auch Worte können verletzen, auch Worte können Grenzen überschreiten.
Die Grenzen des Strafrechts
Auch wir Juristinnen und Juristen stoßen bei dieser Frage an Grenzen. Kommunikation ist vielgestaltig, Nuancen sind schwer zu fassen, und schon bei Beleidigungsprozessen zeigt sich, wie unterschiedlich Gerichte urteilen. Es gilt das alte Sprichwort: zwei Juristen, drei Meinungen. Genau deshalb braucht es klare gesetzliche Leitplanken, damit nicht jede Entscheidung vom Bauchgefühl der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts abhängt.
Das Strafrecht darf nicht zur Allzweckwaffe gegen jedes schlechte Benehmen werden. Nicht jedes missratene Kompliment, nicht jedes Pfeifen kann kriminalisiert werden. Entscheidend ist der Kontext: Das bloße, flüchtige Hinterherpfeifen mag unhöflich und unangenehm sein, erreicht aber in der Regel nicht die Schwelle strafwürdigen Verhaltens. Anders ist es, wenn solche Gesten mit sexualisierten Rufen, anzüglichen Kommentaren, eindeutigen Blicken oder einem bedrängenden Nachsetzen verbunden sind – also dann, wenn aus einer Geste der Anmache eine öffentliche Herabwürdigung wird. Genau dort muss das Strafrecht ansetzen und eine klare Grenzziehung vornehmen.
Die Gefahr einer Überdehnung ist real, aber ebenso real ist die Gefahr einer dauerhaften Schutzlosigkeit. Strafrecht ist ultima ratio, doch ultima ratio bedeutet nicht, Schutzlücken hinzunehmen. Es bedeutet, Tatbestände eng und präzise zu formulieren, damit sie nur dort greifen, wo die Würde massiv verletzt wird. Wer Catcalling ernsthaft begegnen will, muss diesen schmalen Grat anerkennen: zwischen notwendiger Sensibilität und rechtsstaatlicher Zurückhaltung.
Andere Länder zeigen, dass es geht. Frankreich, Portugal und Belgien ahnden Catcalling mit Geldstrafen, in Spanien kann es sogar Haft geben. In den Niederlanden läuft derzeit eine Evaluation. Erste Beobachtung: Ein sofortiger Rückgang ist nicht zu erwarten. Aber die Taten werden sichtbarer, weil mehr Frauen sie melden. Genau darin liegt der Wert: Strafrecht wirkt nicht nur durch Sanktion, sondern auch durch Normsetzung. Es signalisiert, was eine Gesellschaft duldet und was nicht.
Natürlich bleibt die Umsetzung schwierig. Catcalling ist flüchtig, oft ohne Zeugen, schwer nachweisbar. Ein neuer Tatbestand müsste präzise formuliert sein, objektive Merkmale enthalten und nicht allein vom subjektiven Empfinden abhängen. Tonfall, Inhalt und Kontext müssten Maßstab sein. Nur so bleibt der Rechtsstaat verlässlich. Doch selbst mit solchen Einschränkungen hätte ein neuer Straftatbestand eine klare Wirkung: Er würde signalisieren, dass das Schweigen vorbei ist.
Die Debatte über Catcalling zeigt, dass patriarchale Strukturen nicht nur im Alltag wirken, sondern auch in den Institutionen. Sie prägen die Rechtsprechung, sie prägen die Wahrnehmung dessen, was „ernst“ und was „übertrieben“ ist. Lange hieß es: „Stell dich nicht so an.“ Doch dieses Abwiegeln ist selbst Teil des Problems. Wer Catcalling als Nebensächlichkeit betrachtet, übersieht, dass es um Grundrechte geht.
Am Ende geht es um Macht und um Würde. Catcalling ist kein Randphänomen, kein Nebenrauschen im Großstadtleben. Es ist Alltag.
Die eigentliche Frage lautet deshalb nicht: Wollen wir Männern das Pfeifen verbieten? Sondern: Wie ernst meinen wir es mit der Gleichheit der Geschlechter?
Wer Catcalling noch als Kavaliersdelikt abtut, verkennt den Kern: Es geht um Macht und Würde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, dieser Satz darf kein frommes Versprechen bleiben. Er muss auch auf der Straße gelten, zwischen Asphalt und Straßencafé, zwischen Pfiff und Zuruf. Erst dann erfüllt der Rechtsstaat seinen eigenen Anspruch.
