Heft 259 – 02/2024

AFD, BSW, SPD: Wer vertritt die Wut der Arbeiterinnen und Arbeiter?

#analyse #spw

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Dr. Linus Westheuser ist Soziologe an der Humboldt- Universität zu Berlin. Mit Steffen Mau und Thomas Lux veröffentlichte er jüngst das Buch „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (Suhrkamp, 2023)

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Linda Beck ist Soziologin an der Georg-August-Universität Göttingen. Im Rahmen ihrer Promotion forscht sie aktuell zu Arbeit, Migration und Solidarität in der deutschen Baubranche.

von Dr. Linus Westheuser und Linda Beck

Die deutschen Ergebnisse der Europawahlen stehen für eine soziale Krise des Parteiensystems. Weder die drei Regierungs- noch die alten Volksparteien CDU und SPD konnten gemeinsam eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen. Deutlich stärker waren alle von ihnen aber unter besser situierten und politisch integrierten Gruppen, während in den gesellschaftlich schlechter gestellten Gruppen die AfD durchbrach – trotz insgesamt eher schlechtem Ergebnis. Besonders drastisch zeigt sich dies laut einer Umfrage im Auftrag der ARD bei Arbeiterinnen und Arbeitern. Unter ihnen lag der Stimmenanteil der AfD mit 33 Prozent etwa gleichauf mit dem der beiden alten Volksparteien zusammen.¹ War das politische Verhalten der Arbeiterklasse bisher vor allem von einer Abkehr von der Politik geprägt, so tritt seit einigen Jahren auch eine aktive Ablehnung der etablierten Parteien hinzu. Diese stärkt derzeit vor allem die AfD, doch auch der Achtungserfolg für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kann zumindest auch als Symptom einer politischen Hegemoniekrise der etablierten Parteien in den einfachen Arbeitnehmermilieus verstanden werden.

Was geschieht hier unter der Oberfläche der Statistiken und Wahlbefragungen? Was verschiebt sich im politischen Alltagsbewusstsein von Arbeiterinnen und Arbeitern? Um zu einer Klärung dieser Frage beizutragen, kehren wir im Folgenden zu den Ergebnissen einer Studie zurück, die wir vor zwei Jahren im Berliner Journal für Soziologie veröffentlicht haben. Die Studie widmete sich der Kritik an gesellschaftlichem Status Quo und politischem Establishment, die Arbeiterinnen und Arbeiter in Industrie, Handwerk, Bau und Logistik äußern. Wir werteten lange Gespräche mit 30 Arbeiterinnen und Arbeitern aus, die wir zu Hause nach Feierabend oder in der Mittagspause, auf der Baustelle oder im Café trafen. In den Gesprächen ging es um Ungerechtigkeitsgefühle, Wut und Kritik, Selbstverständnisse und Beschwerden, Belastungen und Identitätsstiftung durch Arbeit. Immer ging es auch um die Politik, die die meisten zunächst mit einem Abwinken quittieren, um dann doch schnell ins Reden zu kommen. In unseren Gesprächen kam eine Arbeiterklasse zu Wort, die vielseitiger, klüger und widersprüchlicher ist, als die Karikaturen im Nachmittagsfernsehen und in Brennpunkten zu Wahlen es nahelegen. Sie zu verstehen kann auch in der gegenwärtigen Situation Orientierung geben.

¹ Unter denen, die angaben, einen hohen Lebensstandard zu genießen, wählten 47% eine der Volksparteien und 34% die Ampelparteien. Unter jenen mit niedrigem subjektivem Lebensstandard waren es nur 30%, bzw. 20%. Ein ähnliches Gefälle findet sich zwischen Bildungsgruppen sowie zwischen Ost und West.

„Die, die unten sind, sind das Fundament der Gesellschaft“

Eine der Befragten ist Lisa, wie alle Namen ein Pseudonym. Sie tritt im Blaumann in den McDonald’s an der Ausfahrtstraße am Rande der Stadt. Draußen donnern Lastwagen auf die Autobahn, Lisa holt sich einen Kaffee und hockt sich müde in die Sitzecke. Sie kommt von der Frühschicht und war seit 3 Uhr morgens in der Autoteilefabrik, in der sie als Leiharbeiterin beschäftigt ist. Sie will eigentlich nur heim, nimmt sich aber dennoch Zeit für ein Interview. »Wie würdest Du Dich selbst beschreiben? Was für eine Art von Mensch bist du?« Wie viele der Gespräche beginnt auch dieses mit einer bewusst offen gestellten Frage. »Ich hab kein Problem damit, einen Hammer oder eine Axt anzuheben«, antwortet Lisa, »ich muss mich auch nicht total aufbrezeln, wenn ich in die Fabrik gehe. Es ist kein Laufsteg, ich geh da zum Arbeiten hin. Ich bin also vielleicht eine ungewöhnliche Frau.« Sie grinst als sie das sagt, wird jedoch schnell wieder ernst als es um den Zustand des Landes geht. Wie bei vielen unserer Gesprächspartnerinnen und -partner zieht sich durch Lisas Erzählungen ein intuitives Unbehagen mit dem Status quo. »Die höheren Leute, die lassen es am unteren Ende raus«, sagt sie sichtlich wütend. »Die verdienen Unmengen an Geld, gehen mit einer Rente nach Hause, davon träumt jeder normale Mensch. Und die Rentner kriegen gar nichts. Das versteh’ ich nicht. Das geht einfach nicht rein in meinen Kopf.«

Wie Lisa sehen viele der Menschen, mit denen wir sprechen, die Gesellschaft geteilt in ein Oben und ein Unten. Eine kleine, abgeschlossene Oberschicht aus Managern, Bankern und Politikern, so die Wahrnehmung, vermehrt ihren Reichtum immer weiter, während die Einkommen der Normalverbraucherinnen und -verbraucher stagnieren und die Renten des unteren Drittels nicht zum Leben und nicht zum Sterben reichen. »Arbeiterklasse, das sind alle, die sich den Arsch aufreißen für ein mickriges Leben«, formuliert es Bauarbeiter Robin. »Und dann gibt es die Oberklasse, die einfach irgendwo, ich sage mal in Frankfurt, oben in so einem Tower drinsitzen, und vielleicht mal einen Stempel irgendwo draufdrücken und das Geld läuft von ganz alleine, die braucht nichts mehr machen.« Die Arbeiterkritik registriert mit wachem Blick, was auch Ökonominnen und Ökonomen schon lange beschreiben: eine Verfestigung des Ungleichgewichts zwischen dem Reichtum weniger und den Mühen der meisten.

Zugleich bleiben die Oberschicht und ihr Reichtum meist weit jenseits des alltäglichen Erfahrungshorizonts, im unbestimmten Oben ferner Wolkenkratzer. Das ist anders, wenn es um konkrete Erfahrungen im Betrieb geht. Hier kritisieren unsere Gesprächspartnerinnen und -partner scharf, wenn Firmenchefs sich mithilfe von Unternehmensstrategien bereichern, die das Wohl der Beschäftigten hintanstellen: Überwachung, Antreiberei, Leiharbeit und niedrige Löhne. Ein Interessenkonflikt zwischen Arbeitenden und Firmenchefs wird sichtbar, »Ausbeutung« ist das Schlagwort. Ein Befragter bringt es auf den Punkt: »Gewinn, Gewinn, Gewinn. Löhne immer niedriger, Gewinne immer höher. Der Gewinn geht vor dem Mitarbeiter.« Als Ausbeutung wird hier nicht die grundsätzliche Tatsache kritisiert, dass Eigentümer sich Mehrwert aneignen, den die Lohnabhängigen erarbeiten. Wohl aber werden grundlegende Interessengegensätze registriert, die insbesondere in solchen Momenten sichtbar werden, in denen Chefinnen und Eigentümer eklatant die Arbeitsstandards unterlaufen oder Forderungen an die Beschäftigten stellen, ohne Gegenleistungen zu erbringen.

Manchmal sind es aber auch gar keine konkreten Personen, die für Ungerechtigkeit und Mühe verantwortlich gemacht werden. Dann kritisieren die Befragten ein »System«, das uns alle im Hamsterrad des Wettbewerbs und Wachstumszwangs strampeln lässt. Der junge Landschaftsbauer Freddi etwa seufzt, während er sagt: »Man ist halt irgendwo ‘ne Marionette. Man muss funktionieren. Es wird immer kontrollierter und deswegen gibt es immer mehr Druck auf die Leute. Weil die Konkurrenz auf der ganzen Welt da ist. Ich glaub’, dass es irgendwo einfach aus dem Ruder gelaufen ist.«

Die Beschleunigung des Lebens, die Erhöhung des Arbeitstaktes, die Unsicherheit des Arbeitsplatzes oder auch die ökologische Krise werden als Folge eines falschen Imperativs des »Noch mehr, noch mehr« kritisiert. Dass das Geschäft laufen muss, auch auf Kosten der Arbeitenden und der Natur, ist der Hauptgegenstand dieser systemischen Kritik. »Das machen alle mit, außer der Mensch«, sagt Schweißer Alex. Ein Angestellter im Kleinhandwerk bemerkt: »Es wird einen Kollaps geben, ganz klar. Wenn immer noch weiter und immer nur auf Wachstum geguckt wird, das liegt doch in der Natur der Sache, dass irgendwann Ende ist.« In den Erzählungen der Arbeiterinnen und Arbeiter bleibt das Kritisierte namen- und subjektlos. Es sind unkontrollierbare systemische Zwänge, die letztlich in die Krise führen.

Wenn arbeitende Menschen über den Interessenkonflikt zwischen sich und ihren Chefs sprechen und die gesellschaftliche Spaltung in Arm und Reich oder die Steigerungslogik kapitalistischer Konkurrenz kritisieren, zeigt sich, was eigentlich niemanden überraschen dürfte: Arbeitende sind scharfsinnige Beobachter gesellschaftlicher Verhältnisse. Zugleich fehlt aber weitgehend eine positive Vision, die an das Unrechtsbewusstsein anschließt. Fast alle Befragten winken ab, wenn es darum geht, politische Akteure zu benennen, die Abhilfe schaffen könnten. Der Soziologe Klaus Dörre beschreibt diese Gleichzeitigkeit von Ungleichheitserleben und politischer Passivität treffend als Symptom einer »demobilisierten Klassengesellschaft«. Arbeitende Menschen – insbesondere jene am unteren Ende der Befehlsketten – finden wirksame Kanäle der demokratischen Kontrolle weitgehend verschlossen, sodass oft nicht viel mehr bleibt als Achselzucken oder stille Wut.

Das liegt zum einen an der historischen Schwäche der Gewerkschaften. Zum anderen finden die Interessen und Stimmen der Arbeiterinnen und Arbeiter aber auch in der Politik immer weniger Eingang. Wie Studien von Lea Elsässer und Armin Schäfer zeigen, trägt die Bundespolitik vor allem den Präferenzen der besserverdienenden Bevölkerungsschichten Rechnung. Berufspolitikerinnen und -politiker aller Parteien rekrutieren sich heute fast ausnahmslos aus der akademischen Mittelklasse. Arbeiterinnen und Arbeiter haben weit überdurchschnittliche Enthaltungsraten bei Wahlen. Der Anteil unter ihnen, der eine stabile Parteineigung angab, ist in den letzten drei Jahrzehnten rapide gesunken.

Das eigene Kuchenstück verteidigen

Diese Demobilisierung macht etwas mit dem Arbeiterbewusstsein. Denn unter dem Vorzeichen gesellschaftlich erzwungener Passivität, schrumpfender Erwartungen und politischer Machtlosigkeit verformt sich auch die Wahrnehmung. Kollektives Handeln scheint unrealistischer, an seine Stelle treten das individuelle Durchbeißen und die Sicherung des kleinen privaten Glücks. Die Kritik an gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten kann unter diesen Bedingungen leicht in die Bahnen der Konkurrenz zwischen Lohnabhängigen gelenkt werden.

Die mangelnde Anerkennung für die eigene Existenz und die eigene Arbeit wird dann skandalisiert, indem man andere verdächtigt, es unberechtigterweise einfacher zu haben als man selbst. Die häufigste Zielscheibe dieser Kritik sind Migrantinnen und Migranten, die vermeintlich »alles kriegen«, ohne sich anzustrengen. Hört man Lisa zu, versteht man, wie eng die migrationskritische Rhetorik mit den eigenen übergangenen Ansprüchen verzahnt ist: »Unsere Rentner zum Beispiel, das find ich ungerecht, was die an Geld kriegen. Das ist nichts. Da kriegt ‘n – Entschuldigung, wenn ich dit jetzt sage – da kriegt ‘n Asylant mehr. Und der macht gar nichts. Die könnten mehr für unsere Rentner machen, oder für unsere Obdachlosen, Häuser bauen oder irgendwas. Ne, da geben se lieber den Leuten ‘n Smartphone, die grade mal ‘n Vierteljahr hier sind.«

Verletzte Ansprüche auf Unterstützung, wie die der Rentnerinnen und Rentner, werden denen von vermeintlichen Trittbrettfahrern gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung baut auf der Annahme eines begrenzten Kuchens auf, der zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen verteilt werden muss. Durch die eigene harte Arbeit hat man sich eigentlich ein Stück vom Kuchen verdient. Ob man dieses auch erhält, wird jedoch zunehmend unsicherer. Rassistische Zuschreibungen von Arbeitsscheue oder kriminellen Neigungen spielen eine große Rolle in diesen Diskursen. Aber auch die loser aus Fernsehen und Bild-Zeitung werden mobilisiert, um verletzte Ansprüche geltend zu machen: »Wenn ich das immer im Fernseher seh«, erzählt etwa ein schwäbischer Industriemonteur, »›Stempeln gehen und abwarten‹ … Manche Leute haben zwei Jobs und kommen grade über die Runde. Und ein Arbeitsloser, der hat gar kei’ Bock, weil er sagt: ›Ah, für des Geld geh ich net arbeite.‹ Das ist der Hammer! Der tät von mir ‘n Schuh in’n Arsch kriege.«

Der stumme Autoritarismus des Arbeitszwangs und die Hierarchie und Disziplin der Erwerbssphäre, die die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst erleben, werden an Außenseiter weitergegeben. Nicht zuletzt, weil die Idee, dass Leistungsunwillige ein gutes Leben führen, einer Entwertung der eigenen Mühen gleichkommt. Die Last eines körperlich anstrengenden Alltags und der Protest gegen die Geringschätzung durch eine Gesellschaft, die sich von der Arbeiterklasse abgewandt hat, mündet so in eine Konkurrenz nach unten. Diese morbiden Symptome einer demobilisierten Klasse sind ein gefundenes Fressen für jene, die aus der Entsolidarisierung Profit schlagen, von Springer bis zur AfD.

Doch auch solidarische Politik könnte sich viel stärker auf die berechtigten Anerkennungsforderungen der Arbeitenden stützen, ohne die vergifteten Unterscheidungen von heimischen und Fremdarbeitern oder Leistenden und Schmarotzern zu bedienen. Ein Ansatzpunkt wäre das Beharren vieler Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem gesellschaftlichen Nutzwert ihrer Arbeit, die sie zunehmend entwertet sehen: »Die, die unten sind, sind das Fundament in der Gesellschaft,« drückt es der Bauarbeiter Felix aus, »und das sind die mit den normalen Berufen. Die den Karren am Laufen halten. Also, sei es nun der Bäcker, sei es der Friseur, die Müllabfuhr, die Straßenreinigung, der Busfahrer, der LKWFahrer. Ohne die geht’s nicht.«

Die Arbeiterkritik zielt hier auf das Missverhältnis zwischen Nutzen und Belastungen der eigenen Arbeit einerseits und Status und Bezahlung andererseits. Arbeitende Menschen haben zwar enttäuschte, aber an sich hohe Erwartungen an das Zurechtrücken ungerechter Verhältnisse durch den Staat. Daher steht die Kritik an der davonziehenden Oberschicht, der Ausbeutung, Beschleunigung und Missachtung manueller Arbeit für wichtige Chancen, linke Politik unter Arbeiterinnen und Arbeitern zu erneuern.

Die Hände dreckig machen

Generell passen die »wirklichen« Arbeiterinnen und Arbeiter weder in die Schablone rechter Grobiane noch in die eines schlummernden Klassensubjekts, das nur darauf wartet, auf die Straße gerufen zu werden. Sie sind in der Breite weder in gefestigte rechte Ideologien abgedriftet, noch zu verblendet, um genau zu wissen, wo die Gesellschaft ihnen systematisch schlechte Karten zuschustert. Die größte Hürde für eine politische Mobilisierung der Arbeitenden, die das Machtungleichgewicht zu ihren Gunsten umstoßen könnte, ist nicht falsches Bewusstsein, sondern eine tiefe Entfremdung und ein grundlegendes Misstrauen gegenüber Politik als solcher. »Mich interessiert dis auch eigentlich gar nicht mehr«, sagt Lisa über die Politik, »egal was wir machen, wir werden eh nur in’ Arsch getreten. Also halt ich mich da auch raus. Muss ick nicht haben.«

Politik erscheint unterschiedslos als Sphäre »der Oberen«, zu denen sämtliche Politikerinnen und Politiker gezählt werden. Wie Robin es ausdrückt:

»Entschieden wird von reichen Leuten. Ich glaube, eine Merkel macht sich nicht die Hände dreckig, ein Gysi damals auch nicht. Und wie die alle heißen. Die grabbeln in der Erde rum, wenn die vielleicht wirklich mal Bock haben auf eine Biomöhre in ihrem Schrebergarten. Aber ansonsten machen die sich nie im Leben die Hände dreckig. Weil es denen gut geht.«

Wie die politische Elite sich nicht auf die Ebene der einfachen Leute herablässt, bleibt auch die Politik selbst außerhalb des Aktionsradius der Arbeitenden. Sie steht für einen fernen, in sich geschlossenen und von Expertinnen und Experten bevölkerten Raum, der »Normalsterblichen« verschlossen bleibt. Ausschluss wird mit Selbstausschluss quittiert. »Für mich ist Politik so: Macht euer Ding doch alleine«, drückt ein Befragter es aus.

Wer holt die Arbeiterkritik ab? Und mit welchem Ziel?

Die weite Verbreitung von Kritik, Wut und schnippischer Herabsetzung der politischen Eliten zeigt eine Krise der Hegemonie des politischen Systems und der etablierten politischen Parteien an. »Nur weil ich in dem System lebe, heißt das nicht, dass ich das gut finde«, erklärt ein Befragter. Die schnelle Sukzession der Krisen hat diese Legitimationsprobleme nur verschärft. Die politischen Folgen beginnen sich nun abzuzeichnen. Die gängigste Form des politischen Verhaltens in dieser Klasse, dass sich die Menschen von der Politik abwenden. Doch wie eingangs erwähnt kommt es zudem zu einer gravierenden Verschiebung politischer Orientierungen, im Zuge derer die AfD in vielen Arbeitermilieus zur hegemonialen politischen Kraft wird. Zwischen 2014 bis 2024 stieg der Anteil der Arbeiterinnen und Arbeiter, die die AfD bei Europawahlen wählten, von 10 auf 33 Prozent. Im selben Zeitraum fiel der Anteil der SPD-Wähler in dieser Klasse von 26 auf 12 Prozent. Was an sozialdemokratischem Wählerpotenzial in der Arbeiterklasse verbleibt, konzentriert sich auf die ältesten Semester, die Ergebnisse von Linke und Grüne rangieren unter ferner liefen. Damit kommt es auch in Deutschland zu einer desaströsen klassenpolitischen Neuaufstellung, die andernorts bereits vollzogen ist. In Österreich und der Schweiz wählen bereits um die Hälfte der Arbeiterinnen und Arbeitern rechtsradikale Parteien. Im Alltag bedeutet so ein Wert, dass diese Parteien zu den ‘natürlichen’, naheliegendsten Parteien für Angehörige der Arbeiterklasse geworden sind.

Rechte Akteure greifen dabei den ganz und gar nicht irrationalen Impuls auf, angesichts von Krise und Knappheit zuerst das eigene Kuchenstück zu verteidigen. Rechte Ansprachen gewinnen ihre Resonanz aus den tief verinnerlichten Realitäten der Konkurrenz und Disziplinierung, der Abwertung von Migrantinnen und Migranten und einer illusorischen Rahmung von Reichtum in den Kategorien der Nation. Sie versprechen eine symbolische Aufwertung durch Nach-Unten-Treten.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch unklar, wie stark es Sahra Wagenknecht und ihrer Partei gelingen kann, in der Arbeiterklasse Fuß zu fassen, wie es ihr erklärtes Ziel ist. Wagenknecht strebt an, was der Historiker Lutz Raphael als das „tribunizische Mandat” bezeichnet, eine Stellvertreterrolle, in der den Belangen der einfachen Arbeitnehmermilieus personalistisch, durch die Figur der Volkstribunen Wagenknecht Ausdruck verliehen wird. Auffällig ist, dass sie dabei – viel stärker als alle herkömmlichen linken Kräfte – zentrale Aspekte der Arbeiterkritik aufgreift, wie wir sie in unserer Studie aufzeigen. Ihre Ansprache legt die Betonung auf Produzentenstolz und Leistungsbewusstsein und skandalisiert den politischen Ausschluss durch Eliten. Mit dem Gegensatz von „Gier oder Gerechtigkeit” wählt Wagenknecht genau den Zuschnitt der Verteilungskritik, den auch viele unserer Gesprächspartnerinnen und -partner anlegen.

Zudem macht sie deutlich, dass ihr politisches Augenmerk besonders den verdienten, produktiven, leistungsbereiten – und einheimischen – Lohnabhängigen gilt, die sie immer wieder von vermeintlich weniger leistungsbereiten Außenseitergruppen am unteren Rand der Statushierarchie abgrenzt. Das Leistungsbewusstsein der produktiven Arbeiter und nicht das Interessensbewusstsein der Lohnabhängigen steht im Zentrum ihres politischen Projekts. In einem interessanten Interview mit der britischen New Left Review beschrieb Wagenknecht jüngst ihre eigene strategische Analyse des Klassenbewusstseins unter deutschen Arbeiterinnen und Arbeitern: „Die Bundesrepublik war immer eher eine Mittelstandsgesellschaft, in der sich die Arbeiter eher als Teil der Mittelschicht verstanden.”, erklärt sie,

„Was in Deutschland zählt, ist der Mittelstand, der starke Block kleinerer Unternehmen, der sich gegen die großen Konzerne positionieren kann. Diese Opposition ist genauso wichtig wie die Polarität zwischen Kapital und Arbeit. […] Wenn man die Menschen nur auf Klassenbasis anspricht, wird man keine Resonanz bekommen. Aber wenn man sie als Teil des wohlstandsschaffenden Sektors der Gesellschaft anspricht, einschließlich der inhabergeführten Unternehmen, im Gegensatz zu den riesigen Konzernen, deren Gewinne den Aktionären und Topmanagern zufließen und den Arbeitnehmern fast nichts, dann kommt das an. Die Menschen können verstehen, was Sie sagen, sie können sich damit identifizieren und auf dieser Grundlage mobilisieren, um sich zu verteidigen.“

Wiederum ist dieser Gedankengang insofern interessant, als er von einer sehr genauen Kenntnis des realexistierenden Alltagsbewusstseins zeugt, wie sie linker Politik oft fehlt. Zugleich wird dieses Alltagsbewusstsein zumindest in Teilen in eine politisch durchaus problematische Richtung gelenkt. So verstellt das Andocken an die Ideologie der verantwortungsvollen inhabergeführten „Familienunternehmen” den Blick auf die auch hier weitverbreiteten Ausbeutungsverhältnisse. Statt hier auch die Kritik an innerbetrieblichen Ungleichheiten aufzugreifen, wie wir so oben beschrieben, wird das gute heimische vom bösen globalen Kapital geschieden. Der Produzentenstolz wird in einen paternalistisch gerahmten nationalen Pakt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern kanalisiert, der an anderer Stelle auch gegen nicht-„wohlstandsschaffende” Gruppen abgegrenzt wird. Leistung und Produzentenstolz zum Kern der Klassenanalyse zu machen verhindert so die Herausbildung von Interessenbewusstsein und kollektiver Handlungsfähigkeit. Auch wenn diese Strategie kurzfristig auf Resonanz stoßen könnte, zementiert sie letztlich die Bedingungen, die die linke Mobilisierung von Arbeitenden so schwierig machen.

Generell ist unklar, ob das BSW sein erklärtes Ziel erreichen kann, in der Wählergruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter zu reüssieren. Anhand der groben Kategorien der jüngsten Nachwahlbefragungen lässt sich bislang keine starke Klassenspezifik der BSW-Wählerschaft feststellen, es bräuchte hier aber bessere Daten. Zugleich zeigen aber jüngste Auswertungen des WSI-Erwerbspersonenpanels durch Daniel Seikel und Helge Emmler, dass es unter den SPD-Wählenden vor allem die Arbeiterinnen und Arbeiter sind, die sich vorstellen können, zum BSW zu wechseln: „Die wechselbereiten SPD-Wähler*innen fühlen sich vor allem wirtschaftlich benachteiligt, kommen aus der Arbeiterschicht, berichten von großen wirtschaftlichen Sorgen”, heißt es dort. „Es sind also vor allem ökonomisch schwächere Personen, die die wirtschaftliche Unsicherheit belastet und besorgt in die Zukunft schauen lässt und die […] Institutionen misstrauisch beäugen, die sich dem BSW zuwenden könnten.“

Gegenüber der politisch irreführenden aber zugleich recht wirksam an Alltagsintuitionen anknüpfenden Ansprache des BSW zeigt sich bei den klassischen Parteien links der Mitte ein deutlich durchwachseneres Bild. Die Linke spricht im Interesse programmatischer Kohärenz oft am Alltagsbewusstsein der Arbeitenden vorbei. Die Grünen sprechen oft ganz unbewusst die Sprache eines Milieus, zu dem sich die Arbeiterinnen entschiedenermaßen nicht zugehörig fühlen. Wichtiger als beide wäre die SPD, die viele Arbeiterinnen und Arbeiter als die Partei nennen, die „eigentlich” ihre Interessen vertreten müsste. Studien zeigen, dass es während des „Respekt”-Wahlkampfs teilweise tatsächlich gelang diese Wählerinnen und Wähler wieder zu mobilisieren, wobei Forderungen wie die nach der Mindestlohnerhöhnung zentral waren. Doch mit ihrem staatstragend- verzagtem Zentrismus und ihre Scheu vor allem, was in vornehmeren Kreisen als „Populismus” gilt, verbaut sich die Partei jede Chance, der Unzufriedenheit der Arbeiterinnen und Arbeiter über die Ungerechtigkeiten des ökonomischen und politischen Systems eine Stimme zu verleihen. In einer separaten Studie zum Arbeiterbewusstsein, an der einer der Autoren beteiligt war, entspann sich folgender Wortwechsel unter drei Befragten:

A: SPD, das ist ja eigentlich die Sozialpartei. Also für die Arbeiter war die mal gedacht.

B: Das ist aber schon lange her.

C: Das ist jetzt so eine „Light”-Partei. Sagt zu allem was Schönes, kannst du nicht dagegen sein, aber was Großes brauchst du nicht erwarten.

Negativ, durch Enttäuschung vermittelt wird hier eine Repräsentationserwartung der Arbeitenden ausgedrückt, an die Linke in und außerhalb der SPD anknüpfen sollten. Ihr gerecht zu werden, bedeutet im öffentlichen Sprechen über die Gesellschaft an einen realen und mächtigen Kern des Arbeiterbewusstseins anzudocken: das Bewusstsein über die Ungerechtigkeit ihrer nachteiligen Stellung in gesellschaftlichen Verhältnissen der Verteilung, Anerkennung und Repräsentation. Linke Politik muss von der exkludierenden Verteidigung des eigenen Kuchenstücks zu einer Politik kommen, die eine Vergrößerung des Kuchens für die arbeitende Bevölkerung als Ganze verspricht. Das erfordert eine Strategie, die hervorhebt, wie das Streiten für gemeinsame Ziele Stärke erzeugt, und dabei auch die Gegner benennt, die gemeinsamen Zielen im Weg stehen. Zuallererst muss sie den Beweis erbringen, dass Politik überhaupt fähig ist, die Probleme der Arbeitenden zu bearbeiten und den verborgenen Verletzungen und verkannten Ansprüchen dieser Klasse eine Sprache geben. Schöpfen kann eine solche politische Sprache aus dem reichen Repertoire der Alltagskritik. Diese Kritik ist allgegenwärtig, ihre politischen Konsequenzen aber ambivalent. Läuft alles weiter wie bisher, werden Rechtsradikale die Sprache der Arbeiterkritik bald vollends gekapert haben. Mit etwas politischem Mut ließe sich dies noch verhindern.

Teile dieses Artikels erschienen zuerst im Jacobin Magazin. Die zugrundeliegende Studie ist kostenlos beim Berliner Journal für Soziologie zugänglich und trägt den Titel: „Verletzte Ansprüche. Zur Grammatik des politischen Bewusstseins von ArbeiterInnen”. https://link.springer.com/ article/10.1007/s11609-022-00470-0

2025-06-20T13:37:10+02:00
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