#mit recht politisch #spw
1.12.2025

Foto: © privat
Ridvan Ciftci, geb. 1988, ist Rechtsanwalt in Bielefeld, spezialisiert im Öffentlichen Recht, und Mitglied im Rat der Stadt Bielefeld für die SPD. Er war Prozessbevollmächtigter des Vereins Marxistische Abendschule – Forum für Politik und Kultur e.V. und führt weiterhin das Verfahren vor dem Finanzamt Hamburg-Nord, um die Anerkennung der Gemeinnützigkeit des Vereins zu erlangen.
VON Ridvan Ciftci
Ein über dreijähriges und streckenweise zähes verwaltungsgerichtliches Verfahren, das sich gegen die Erwähnung des Hamburger Vereins „Marxistische Abendschule – Forum für Politik und Kultur e.V.“ in den Verfassungsschutzberichten der Freien und Hansestadt Hamburg für die Jahre 2018 bis 2021 richtete, ist im Juli dieses Jahres mit der Veröffentlichung des Urteils erfolgreich beendet worden. Das Verwaltungsgericht Hamburg hat mit Urteil vom 8. April 2025 (Az. 17 K 2550/23) entschieden, dass die Nennung des Vereins im Verfassungsschutzbericht 2021 der Hansestadt rechtswidrig war (vgl. die Berichterstattung der taz, abgerufen am 30.11.2025).
Die „Marxistische Abendschule“, in ihrer Kurzform als „MASCH“ bekannt, widmet sich seit ihrer Gründung in den 1980er-Jahren der Vermittlung und Diskussion marxistischer Theorien. Sie war jedoch seit den 1990er-Jahren im Verfassungsschutzbericht unter der Rubrik „Linksextremismus“ geführt worden. Das Gericht verpflichtete den Verfassungsschutz nunmehr, die Passage über die MASCH zu entfernen oder zu schwärzen, bevor der Bericht weiterverbreitet werden darf.
Hintergrund dieses langjährigen Verfahrens war die Aberkennung der Gemeinnützigkeit der MASCH aufgrund ihrer Nennung in den Verfassungsschutzberichten des Landes Hamburg. Was früher kein Problem gewesen war, änderte sich mit der Reform des Gemeinnützigkeitsrechts im Jahr 2008. Die Abgabenordnung (AO), die das Gemeinnützigkeitsrecht in Deutschland regelt, wurde damals unter Bundesfinanzminister Peer Steinbrück um einen folgenschweren Absatz ergänzt. Der maßgebliche § 51 AO erhielt einen dritten Absatz, der seither vorsieht, dass die Gemeinnützigkeit nicht anerkannt werden kann, wenn ein Verein in Verfassungsschutzberichten des Bundes oder der Länder als extremistisch eingestuft bzw. erwähnt wird. Diese Regelung hat bis heute zu erheblichen Problemen geführt, und obwohl Reformen diskutiert werden, ist keine Lösung in Sicht.
Um die Gemeinnützigkeit wiederzuerlangen, musste die MASCH somit zunächst aus den Verfassungsschutzberichten gestrichen werden. Das eigentliche Verfahren zur Wiedererlangung der Gemeinnützigkeit ist daher noch nicht abgeschlossen. Insgesamt stellt das Urteil zwar einen Erfolg für den Verein dar, doch die problematischen Urteilsgründe lassen für die kritische Auseinandersetzung mit marxistischer Theorie in Zukunft nichts Gutes erwarten. Obwohl die MASCH in der Sache erfolgreich war, fällt an der Urteilsbegründung eine problematische und rechtlich oberflächliche Bewertung der Marx’schen Theorie auf. Das Gericht stellt nämlich pauschal fest, dass die Theorien von Karl Marx „in wesentlichen Punkten“ nicht mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar seien, ohne die notwendige Differenzierung vorzunehmen, die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung längst Standard ist. So heißt es im Urteil:
„Diese auf die Theorien von Karl Marx zentrierte Betätigung des Klägers steht prinzipiell im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die von Marx begründete Gesellschaftstheorie, mit der sich der Kläger befasst, dürfte in wesentlichen Punkten mit den in § 5 Abs. 5 HmbVerfSchG angeführten Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sein. Die von Marx proklamierte „proletarische Revolution“ und „Diktatur des Proletariats“ wird von ihm als notwendige Voraussetzung angesehen, den Kapitalismus vom Sozialismus abzulösen und letztlich eine klassenlose Gesellschaft im Kommunismus zu erreichen. So liegt nach Marx zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Diese Umwandlung entspricht, so Marx, einer politischen Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Diese Diktatur des Proletariats als die „voll entfaltete wahre Demokratie“ steht im Gegensatz zur „verhüllten Demokratie der Bourgeoisie“ (www.staatslexikon-online, 8. Aufl. 2022, Stichwort: Diktatur des Proletariats).“
Entweder nicht verstanden oder bewusst auf Schlagworte reduziert
Entweder nicht verstanden oder bewusst auf Schlagworte reduziert
Diese Passage hätte es im Urteil in dieser Form nicht geben müssen und wirkt dort wie ein Fremdkörper. Dies wird umso deutlicher, wenn man die Quelle des Staatslexikons näher untersucht. Dort zeigt sich, dass das Gericht die quellenreichen und hochdifferenzierten Ausführungen von Prof. Dr. Mike Schmeitzner entweder nicht verstanden oder bewusst auf Schlagworte reduziert hat – ein methodisch äußerst fragwürdiges Vorgehen.
Das Gericht stützt seine pauschale Verurteilung der Marx’schen Theorie auf eine äußerst selektive und vereinfachende Lektüre der Quellenlage. Zwar übernahm es ein zentrales Zitat von Marx, blendet dabei jedoch entscheidende Differenzierungen aus, die Schmeitzner in seinem Beitrag explizit hervorhebt. Dieser betont, dass die Aussagen von Marx und Engels zur Diktatur des Proletariats „disparat, widersprüchlich und damit ausdeutbar“ blieben und keine ausgearbeitete „Lehre“ im späteren leninistischen Sinne darstellten. Während das Gericht unterstellte, Marx habe ein konkretes, undemokratisches Staatsmodell entworfen, macht Schmeitzner in Anlehnung an Eric Hobsbawm klar, dass es Marx vielmehr um den „Inhalt der Herrschaft“ ging und keine „bestimmte institutionelle Form der Regierungsgewalt“ beschrieben wurde.
Zudem ignorierte das Gericht wesentliche historische und theoretische Nuancen. So ließ es unerwähnt, dass der späte Friedrich Engels durchaus die „demokratische Republik“ als eine mögliche Form der Diktatur des Proletariats ansah – ein für das Demokratieverständnis zentraler Punkt.
Vor allem aber vollzog das Gericht eine unzulässige Vermengung der Marx’schen Theorie mit ihrer späteren historischen Umformung durch Lenin und Stalin. Indem es die Theorie quasi rückwirkend mit dem realexistierenden Sozialismus identifizierte, ohne die massive Kritik hieran von marxistischen Theoretikern wie Karl Kautsky oder Rosa Luxemburg zu berücksichtigen, argumentiert es anachronistisch und versperrt den Weg für eine sachliche Auseinandersetzung mit der Theorie an sich.
In der Konsequenz liefert das Gericht somit eine rechtlich oberflächliche Bewertung, die der Komplexität des Gegenstands nicht gerecht wird und einen bedenklichen Mangel an wissenschaftlicher Neutralität offenbart.
Andere Gerichte sind weiter
Andere Gerichte sind weiter
Ist das Kind damit in den Brunnen gefallen? Keinesfalls. Eine kritische Analyse der Rechtsprechung zur Marx’schen Theorie zeigt, dass andere Gerichte, einschließlich des Bundesverwaltungsgerichts, in ihren Entscheidungen auf derart kurze Interpretationen der Marx’schen Theorie verzichten. Während sich die Hamburger Richter offenbar mit einer methodisch fragwürdigen Verkürzung einer wirkmächtigen Theorie begnügten, haben sich andere Gerichte die Mühe gemacht, die theoretische Vielfalt und Interpretationsoffenheit des Marxismus anzuerkennen. So stellt das VG Berlin in seinem Urteil vom 18.07.2024 (Az. 1 K 437/21, Rn. 78-79) klar:
„Allein aus einer solchen marxistischen Orientierung folgen zwar nicht zwingend Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Denn Marx beschrieb den Weg hin zu einem sozialistischen Staat eher allgemein und kursorisch. […] Auch die Verwendung von Begriffen wie ,Sozialismus‘, ,Revolution‘ und ,Kapitalismus‘ im politischen Sprachgebrauch allein müssen keine Anhaltspunkte für eine Verfassungsfeindlichkeit sein.“
Noch deutlicher wird das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 21. Juli 2010, Az. 6 C 22.09, Rn. 39):
„Es widerspräche vernünftiger Betrachtung, Anhaltspunkte für Verfassungsfeindlichkeit schon deshalb zu bejahen, weil eine Partei das Ziel ihrer Arbeit am gesellschaftlichen Umbau mit ,Sozialismus‘, ,demokratischer Sozialismus‘, ,sozialistische Gesellschaft‘ oder ähnlichen Formulierungen umschreibt.“
Das Gericht betont die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes und weist darauf hin, dass Begriffe wie „Revolution“ nicht notwendig einen gewaltsamen Umsturz bedeuten müssen. In einer ähnlichen Linie argumentiert das OVG Münster (Urteil vom 13. Februar 2009 – 16 A 845/08, Rn. 60), das ebenfalls die Vielfalt der Bedeutungen marxistischer Termini hervorhebt.
Mit seiner pauschalen Aussage zur Unvereinbarkeit der Marx’schen Theorie mit der Verfassungsordnung steht das Hamburger Verwaltungsgericht juristisch betrachtet ziemlich allein auf weiter Flur. Während andere Gerichte die Interpretationsoffenheit und theoretische Bandbreite der Marx’schen Theorie anerkennen – von Gramsci über Adorno bis hin zu reformorientierten Strömungen wie der von Eduard Bernstein –, beschränkt sich das Hamburger Urteil auf eine verkürzte und undifferenzierte Sichtweise. Dass das Gericht dafür ausgerechnet auf einen lexikalischen Kurzartikel zurückgriff und diesen nicht einmal in seiner vollen Tiefe begriff, unterstreicht die Oberflächlichkeit dieser Passage. Zwar mag der Kläger den Prozess gewonnen haben – eine sachgerechte und zeitgemäße Einordnung seiner theoretischen Arbeit sowie der Marx’schen Theorie hat er von diesem Gericht jedoch nicht erhalten – es ist zu betonen: Er wollte dies auch nicht. Denn die alleinige Auseinandersetzung mit Marx und seiner Theorie ist allein noch keine Bestrebung gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Was lernen wir aus dem Fall?
Was lernen wir aus dem Fall?
Abschließend lassen sich aus der Analyse des Urteils des Hamburger Verwaltungsgerichts und unter Bezugnahme auf die kritische Rechtstheorie, wie sie vom Marxisten Wolfgang Abendroth vertreten wurde, drei zentrale Schlussfolgerungen ziehen:
Recht als Herrschaftsinstrument: Das Verfahren und die zugrundeliegende Gesetzeslage machen deutlich, dass Recht kein neutrales, über den gesellschaftlichen Verhältnissen schwebendes Regelwerk ist. Vielmehr ist es, materialistischen Rechtstheorien folgend, ein unter konkreten materiellen Bedingungen stehendes Herrschaftsinstrument. Dies zeigt sich paradigmatisch an § 51 Abs. 3 AO, der die Nennung in einem Verfassungsschutzbericht unmittelbar mit der Aberkennung der Gemeinnützigkeit – und somit mit erheblichen finanziellen Nachteilen – verknüpft. In dieser Norm verdichten sich die Kräfteverhältnisse eines sicherheitsbehördenzentrierten Staates, der auf diese Weise Einfluss auf die politische Kultur und die Finanzierung von Vereinen nimmt. Das Recht wird hier zur Waffe im politischen Diskurs.
Die Rolle des richterlichen Vorverständnisses: Die oberflächliche und undifferenzierte Art und Weise, in der das Gericht die Marx’sche Theorie als prinzipiell verfassungswidrig einstuft, belegt die zentrale Bedeutung des richterlichen Vorverständnisses. In Anlehnung an Josef Essers Werk „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ wird deutlich, dass die Methodenwahl und Argumentation des Gerichts nicht objektiv-neutral, sondern von seinem politisch-weltanschaulichen Vorverständnis abhängt. Während andere Gerichte die Interpretationsoffenheit und theoretische Vielfalt des Marxismus anerkennen, wählt das Hamburger Gericht eine methodisch fragwürdige, selektive und anachronistische Lesart, die von einem spezifischen, vorurteilsbehafteten Verständnis der Theorie geprägt ist. Die richterliche Entscheidungspraxis erweist sich so als nicht frei von politischer Prägung.
Auftrag für kritische Juristen: Der Fall zeigt eindrücklich den Auftrag für eine kritische Rechtswissenschaft und -praxis auf. Es gilt stets zu erkennen, dass die in Urteilen und Normen ausgedrückten Regelungsgehalte keineswegs abstrakt-neutral sind, sondern einer ideologischen Vorprägung unterliegen. Die pauschale Verurteilung der Marx’schen Theorie im Urteil dient nicht allein der konkreten Fallentscheidung, sondern transportiert eine bestimmte, undifferenzierte Staats- und Gesellschaftsauffassung. Diese ideologische Aufladung des Rechts gilt es im Sinne eines emanzipatorischen Rechtprogramms beständig zu dekonstruieren, um ihre Herrschaftseffekte sichtbar zu machen. Das langfristige Ziel muss die Reform solcher Normen und eine Rechtsprechung sein, die den Raum für politische Debatten und theoretische Auseinandersetzungen schützt und erweitert, anstatt ihn durch pauschale Verdikte einzuengen.
