Heft 264 – 03/2025
Biografisches zu Spaltungslinien in der Sozialdemokratie vor und nach dem Ersten Weltkrieg
#kultur #kritik #spw
kultur & Kritik
Thilo Scholle ist Mitglied der spw-Redaktion, Jurist und lebt in Lünen.
VON THilo Scholle
Biografisches zu Spaltungslinien in der Sozialdemokratie vor und nach dem Ersten Weltkrieg
Holger Czitrich-Stahl
Der Oppositionelle. Georg Ledebour
1850 – 1947: Linksliberaler, Sozialdemokrat, Linkssozialist
Metropol Verlag, Berlin 2024
484 Seiten, 29 €
Hartfrid Krause
Ernst Däumig (1866 – 1922).
Vom Fremdenlegionär zum KPD-Vorsitzenden
Sein Leben – Seine Reden – Seine Artikel
GRIN Publishing, München 2023
673 Seiten, 55,95 €
Uli Schöler
Die Spaltung der deutschen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg
Der Beitrag des „Revisionisten“ Eduard David
In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Heft 7/8 2024, S. 595ff. (Teil 1); Heft 9 2024, S. 691ff. (Teil 2), Heft 10 2024, S. 791ff. (Teil 3), Berlin 2024
Einzelheft 14 €
Die Diskussionen um den Ersten Weltkrieg werden in sämtlichen Darstellungen zur Geschichte der Sozialdemokratie als einschneidender Moment beschrieben. Zugleich ist auch klar, dass weder simple Trennungslinien zwischen Befürworter*innen der Burgfriedenspolitik und ihren Gegner*innen noch Diskussionen um den Grad der Ausrichtung der eigenen Politik am sowjetischen Vorbild ausreichen, um diese Linien adäquat zu beschreiben. Die folgenden drei Biografien zeigen dies in unterschiedlichen Nuancierungen.
Hartfrid Krause gehört seit den 1970er Jahren zu den profiliertesten Forschern zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). Mit dem vorliegenden Band über Ernst Däumig (1866–1922) wendet er sich einer der biografisch schillernderen Persönlichkeiten aus diesem Parteikontext zu. Nach seinem Militärdienst in Deutschland diente Däumig für mehrere Jahre in der französischen Fremdenlegion, bevor er ab 1901 als Journalist in der sozialdemokratischen Presse aktiv wurde. Als Gegner der Burgfriedenspolitik während des Krieges aus der Redaktion des Vorwärts entfernt, blieb er mit einem eigenen Mitteilungsblatt auf Seiten der innerparteilichen Linken präsent. In den ersten Monaten nach der Novemberrevolution 1918 gehörte Däumig zu den entschiedensten Befürwortern der Einführung eines Rätesystems, und innerhalb der USPD auch zu den harten Kritikern der aus dem alten sozialdemokratischen Zentrum stammenden Parteiführer – was Hugo Haase dazu brachte, einen Co-Vorsitz der neuen Partei neben Ledebour abzulehnen. Nach Haases Ermordung im Herbst 1919 dann einer der Parteivorsitzenden, befürwortete Däumig den Zusammenschluss mit der KPD und avancierte nach der Vereinigung 1920 neben Paul Levi zum Co-Vorsitzenden. Aus Kritik an den putschistischen „Märzaktionen“ der KPD trat er 1921 aus der Partei aus und folgte Levi in die Kommunistische Arbeitsgemeinschaft. Der vorliegende Band enthält nach einer sehr dichten biografischen Einordnung im Schwerpunkt die im Untertitel genannten Reden und Artikel. Die Auswahl folgt chronologisch den Lebensstationen Däumigs, und ist auf eine umfassende Dokumentation des Gesagten und Geschriebenen angelegt. Interessant sind hier auch die frühen Texte, in denen Däumig – teils noch nicht als Sozialdemokrat – seine Erlebnisse in der Fremdenlegion beschreibt. Es folgen Auseinandersetzungen mit der Burgfriedenspolitik der SPD und den Folgen des Weltkriegs. Die Jahre 1919 und 1920 bilden sodann den überdeutlichen Schwerpunkt der Texte. Zentral für Däumig war dabei die Entfaltung eines eigenen Modells eines Rätesystems – in Hartfrid Krauses sehr nachvollziehbarer Einordnung aber in einer eher mechanischen Ausprägung. Als Kämpfer für sein Rätesystem zeigte Däumig zudem keinerlei Kompromissbereitschaft für andere Vorschläge, weder den Ansätzen der Mehrheitssozialdemokratie gegenüber, noch den auch in der USPD vertretenen Vorschlägen einer Verbindung von parlamentarischer Demokratie und Rätesystem. Zu seinen innerparteilichen Auseinandersetzungen in der KPD und den Entwicklungen, die zu seinem Übertritt in die Kommunistische Arbeitsgemeinschaft führten, finden sich kaum Texte – vermutlich eine Folge der in dieser Zeit bereits stark angeschlagenen Gesundheit Däumigs, der im Juli 1922 in Berlin starb.
Georg Ledebour (1850–1947) zählt zu den interessantesten Persönlichkeiten der Parteigeschichte, auch wenn sein konkreter Einfluss über die Jahre eher gering blieb. Geboren 1850 in eine Beamtenfamilie in Hannover, arbeitete er nach einer kaufmännischen Lehre zunächst als Journalist, und berichtete für liberale Zeitungen u. a. aus England. Organisationspolitisch engagierte er sich bei den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen und in der liberalen Demokratischen Partei. Nachdem die Arbeiterfrage immer stärker in den Mittelpunkt von Ledebours Denken geraten war, fand er sich im liberalen Lager zunehmend isoliert und ohne Stelle wieder. Im Jahr 1891 folgte der Wechsel zur Sozialdemokratie, wo er sich insbesondere in der innerparteilichen Bildungsarbeit und bald auch als Redakteur beim Vorwärts betätigte. Ab 1900 Mitglied des Reichstags, zählte er zu den Gegnern der Burgfriedenspolitik und bald zu einer der prominenten Persönlichkeiten der Opposition. Nach der Revolution 1918 gehörte er als Mitglied der USPD dem Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins an, den persönlichen Eintritt in den Rat der Volksbeauftragten lehnte er ab. Während der Januarkämpfe in Berlin 1919 rief er mit zum Kampf auf, ein später gegen ihn geführter Prozess endete allerdings mit einem Freispruch. Anders als etwa Ernst Däumig gehörte Ledebour innerhalb der USPD zwar zu den Befürwortern einer Räterepublik, lehnte die Vereinigung mit der KPD aber ab. Eine Rückkehr in die Vereinigte Sozialdemokratie 1922 kam für ihn ebenso wenig infrage, sodass er auch nach der Vereinigung die USPD weiterführte, ohne allerdings nennenswerten Erfolg damit zu erzielen. Nachdem es auch innerhalb der verbliebenen USPD zu Auseinandersetzungen gekommen war, verließ er die Partei und gründete den „Sozialistischen Bund“, mit dem er 1931 der neugegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) beitrat. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten ins Exil gezwungen, verbrachte er seine letzten Lebensjahre in eher prekären Verhältnissen in der Schweiz. Holger Czitrich-Stahl liefert mit dem vorliegenden Band eine gut geschriebene und respektvolle Einordnung von Leben und Wirken Ledebours. Interessant ist dabei auch die Darstellung von Ledebours parlamentarischer Arbeit bis zum Ausbruch des Weltkriegs, etwa hinsichtlich der Debatten um die deutsche Kolonialpolitik. Hier teilte Ledebour nach Ansicht des Autors zwar auch eurozentrische Positionen mit Blick auf den Stand der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung, sprach sich aber anders als ein Teil der zeitgenössischen Sozialdemokratie zugleich klar gegen die Kolonialpolitik und für die Selbstbestimmung der kolonialisierten Gebiete und für ein allgemeines Recht auf Gleichbehandlung aus. Mit Blick auf die historische Persönlichkeit Ledebours macht Czitrich-Stahl einen in persönlich-politischen Streitigkeiten sehr harten und kompromisslosen Zug Ledebours aus, der letztlich auch zu seiner zunehmenden Isolierung und Bedeutungslosigkeit selbst innerhalb des linken Lagers beitrug.
Zu den tatsächlich unterbelichteten Persönlichkeiten der Sozialdemokratie während des Ersten Weltkriegs und der Spaltung der Partei gehört Eduard David (1863–1930). Geboren in eine bildungsbürgerliche Familie, begann David sich nach seinem Studium für die Sozialdemokratie zu interessieren, und verließ seinen Lehrerberuf zugunsten seines Aktivismus für die Partei. Er war seit 1903 Mitglied des Reichstags und gehörte bereits zuvor in den innerparteilichen Debatten zu den Wortführern des revisionistischen Flügels. Nach Kriegsausbruch 1914 stand David entschieden auf Seiten der Befürworter der Burgfriedenspolitik. Dabei gehörte er zu den kompromisslosesten Kritikern der innerparteilichen Linken, und wurde so zu einem der zentralen Protagonisten auf rechter Seite während der Parteispaltung. Nach dem Krieg Staatssekretär in der neuen Regierung, präsidierte er wenige Tage in der Weimarer Nationalversammlung, und wurde kurzzeitig Minister in der neuen Reichsregierung. Im weiteren Verlauf der Weimarer Republik verlor er bald an realem politischen Einfluss, behielt aber sein Reichstagsmandat. Biografisch wurde das Leben Davids bislang kaum erschlossen. Auf Basis des in den 1970er-Jahren veröffentlichen Kriegstagebuchs Davids macht sich nun Uli Schöler in einer Artikelserie in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft daran, Davids Rolle während des Weltkriegs und in der Parteispaltung zu ergründen. Zentrale und von Schöler gut begründete These dabei ist, die Spaltung der Partei nicht nur als einen vor allem von „links“ betriebenen oder zumindest billigend in Kauf genommenen Prozess, sondern auch als einen von Akteuren von rechts gezielt betriebenen Vorgang zu betrachten. Anders als viele andere Befürworter oder Gegner der Kriegskredite sei David mit dem klaren Ziel, den Charakter der Sozialdemokratie substanziell zu verändern, in die Auseinandersetzungen während des Weltkriegs gegangen. Die Frage nach Krieg und Frieden, die für andere gewissermaßen oberhalb der ansonsten vertretenen Positionen mit Blick auf Reform oder Revolution lag, spielte für David eine eher eine taktische Rolle, auch wenn seine Tagebucheinträge einen nicht unerheblichen Nationalismus erkennen lassen. Zentral war für ihn eine Ausrichtung der Partei auf die Arbeit an einer Verbesserung der Verhältnisse innerhalb der bestehenden – zur Not dann eben auch monarchischen – Ordnung. Besonderen Abscheu habe David neben vielen anderen Linken auch gegen Georg Ledebour entwickelt, den er als „schmierigen Demagogen“ eingeordnet habe. Wege zu einem innerparteilichen Kompromiss mit den Kriegsgegnern hatte David daher auch nicht im Sinn. Ihm kam es gerade darauf an, mit den Kriegsgegnern auch den linken Flügel aus der Partei zu drängen.
Die drei vorgestellten Biografien zeigen die Komplexität innerparteilicher Debatten und Richtungsstreitigkeiten der Sozialdemokratie um den Ersten Weltkrieg. Am wenigsten noch bei David – dieser hatte seine politische Zielrichtung bereits vor dem Krieg festgelegt, und blieb auch in der Weimarer Republik bei dieser Ansicht. Interessanterweise verlor er (ähnlich wie andere zentrale Protagonisten des rechten Flügels wie etwa Gustav Noske) seinen innerparteilichen Einfluss in der neuen Demokratie recht schnell. Es wäre einer vertieften Auseinandersetzung wert, warum dies so war. Ein möglicher Grund könnte darin bestehen, dass die innerparteiliche Konsolidierung auf einen „nur“ die parlamentarische Demokratie erstrebenden Kurs eben noch nicht beendet war, und sich zugleich von links Akteure wie etwa Ernst Däumig wieder von einem eher auf das Moskauer Vorbild ausgerichteten Kurs lösten und sich zurück in Richtung der Sozialdemokratie bewegten. Georg Ledebours Biografie als politischer Solitär eigener Art nimmt hier fast eine Sonderstellung ein. Sowohl biografisch wie auch politisch interessant und lehrreich sind die Lebenswege aller drei Protagonisten – wie die vorgestellten Texte auf pointierte Art und Weise zeigen.
