Heft 264 – 03/2025

Rezension: Karl Marx in Algier

#kultur #kritik #spw

Leon Billerbeck ist Mitglied der spw-Redaktion.

von Leon Billerbeck

Uwe Wittstock
Karl Marx in Algier. Leben und letzte Reise eines Revolutionärs
C.H. Beck, München 2025
249 Seiten mit 17 Abbildungen, 26 €

Das facettenreiche Leben des Karl Marx 

Über (fast) alle Facetten des Lebens und politischen sowie wissenschaftlichen Wirkens von Karl Marx wurden bereits Bücher verfasst, Artikel geschrieben und Briefe im Original durchgewühlt. In regelmäßigen Abständen eignet sich der deutsche Philosoph und Ökonom immer wieder für einen reißerischen Aufmacher in Tages- und Wochenzeitungen, sobald sich mal wieder das periodische Wesen des Kapitalismus zeigt.1 In Büchern sind zahlreiche Autoren mittlerweile davon abgekommen, sich die ökonomischen Theorien von Marx anzuschauen und stattdessen dazu übergegangen, Briefwechsel und persönliche Beziehungen zu seinem Umfeld zu beleuchten.2

Uwe Wittstock hat nun sein Werk „Karl Marx beim Barbier“ aus dem Jahre 2017 wieder aufgelegt und mit einem neuen Titel versehen. Der Titel des Originals bleibt jedoch auch in der aktuellen Fassung Programm. Der Autor erörtert insbesondere an der äußerlichen Transformation von Marx auf seiner letzten Reise die Grundfrage des Buches, bettet diese allerdings in den größeren Kontext des Algerien-Aufenthalts ein. Hierzu zieht er neue, bislang noch nicht veröffentlichte Schriftwechsel zurate und analysiert die letzten Wochen von Karl Marx in der damaligen Kolonialhauptstadt. Somit schafft der Autor einen besonderen Fokus auf eine Reise, die durch vorherige Autorinnen und Autoren noch wenig besprochen worden ist und doch in Wittstocks Sicht viel über den alternden Revolutionär aussagt. All das schafft der Autor, ohne den Fokus zu verlieren auf das, was bereits in der ersten Ausgabe im Fokus stand: die Rasur der „Löwenmähne“ und die damit verbundene Frage, was am Ende von Marx bleibt.

Multiperspektivität als Hingucker  

Wittstocks Aufmacher des Buches ist Marx‘ Überfahrt von Marseille nach Algier. Das Buch beginnt auf einem alten Dampfer namens „Said“, der im Jahr 1882 auf den afrikanischen Kontinent übersetzt. Mit an Bord der staatenlose Marx, der seit Jahren an einer Rippenfellentzündung und chronischen Bronchitis leidet und das kalte und regnerische Winterwetter in London durch den milden und zumeist sonnigen algerischen Winter zu tauschen versucht. Seine Frau Jenny ist vor kurzer Zeit gestorben, was seiner Genesung sicherlich nicht zuträglich ist, und somit muss er seine erste Reise abseits des europäischen Kontinents allein antreten. Vor Ort, bei seiner Ankunft in Algier, trifft er auf einen alten Bekannten. Als Freund seiner beiden Schwiegersöhne Paul Lafargue und Charles Longuet vermittelt der ehemalige Commune-Kämpfer und heutige Richter Albert Fermé Marx eine Unterkunft und kümmert sich um alles rund um seinen Aufenthalt. Sehr zur Trauer von Marx ist sein Gesundheitszustand allerdings denkbar schlecht und der vermeintlich milde Winter in Algier scheint nicht das zu halten, was er verspricht, sodass es ihm selten erlaubt sein wird, die Unterkunft zu verlassen.  

Diese Perspektive, mit der Wittstock das Buch beginnt, zieht sich durch die gesamte Lektüre und bildet einen anschaulichen Gegensatz zu den eher neutral und nüchtern geschriebenen Kapiteln, in denen das Leben und das theoretische Wirken von Marx beleuchtet werden. Der Autor schafft einen spannenden Lesefluss im Sinne einer Erzählung und verknüpft die Tage, aber auch die gesundheitliche Leidensgeschichte von Marx mit seinem vorherigen Leben und den theoretischen Stationen, die er in seinen diversen Etappen durchlebt hat: die Transformation vom Hegelianer in Berlin über das journalistische Wirken in Köln, Brüssel, Paris und letzten Endes London bis hin zur Marxschen Hinwendung zur Wissenschaft und der Arbeit an seinem großen Werk „Das Kapital“, welches er nie vollenden sollte. Auf all diese Stationen wird sowohl in biografischer Hinsicht als auch aus theoretischer Perspektive ein Augenmerk gelegt.  

Ein unliebsamer Revolutionär 

Die Darstellung von Marx ist hierbei genau das Gegenteil der teilweise dogmatischen Glorifizierung, wie wir sie aus den Staaten des real existierenden Sozialismus kennen. Die Zustände der Familie Marx werden als erschütternd dargestellt. Das gesamte Leben von Jenny und Karl Marx ist geprägt von Armut. Sowohl Jenny von Westphalen als auch Karl Marx selbst stammen aus guten Verhältnissen. Doch die schiere Unfähigkeit zur persönlichen Haushaltsführung sorgte dafür, dass selbst größere Summen wie beispielsweise das Erbe ihrer Eltern in kurzer Zeit spurlos verschwanden. Somit entwickelte sich besonders in der sesshafteren Zeit in London, nachdem Marx unterschiedliche Länder aufgrund von Haftbefehlen fluchtartig verlassen musste, eine Art Stammkundenbeziehung zwischen dem Pfandleihhaus und der Familie Marx. Erst durch den beruflichen Aufstieg von Friedrich Engels in der Textilfabrik seines Vaters in Manchester und der damit zusammenhängenden Möglichkeit einer festen, jährlichen Unterstützung für die Familie Marx lockerten sich die Verhältnisse ein wenig.  

Neben der unvorteilhaften, wenn auch sicherlich realitätstreuen Darstellung von Marx als schlechtem Haushälter wird auch ein Augenmerk auf die persönliche Sturheit und den unmittelbaren Willen zur Macht des jungen und mittelalten Marx gelegt. Die Bereitschaft sich einzuordnen und anderen Personen – selbst Friedrich Engels, seinem engsten Freund und Begleiter – das intellektuelle Rampenlicht zu überlassen, fiel Marx schwer. An Widersachern, aber auch an Mitstreitern für die gemeinsame Sache, die anderer theoretischer Auffassung waren (wie Ferdinand Lasalle oder Wilhelm Liebknecht), ließ Marx kein gutes Haar. Somit ist es auch wenig verwunderlich, dass bereits die junge Arbeiterbewegung in Deutschland unter der Kritik des alternden Revolutionärs schwer zu leiden hatte, schlossen sich die jungen Vorläufer der SPD doch zusammen, ohne die dogmatische Revolutionstheorie von Marx als programmatische Basis zu übernehmen.  

Seine theoretischen Errungenschaften 

Neben der persönlichen Beschreibung von Marx beschäftigt sich Wittstock in einem dritten Erzählstrang lange mit den theoretischen Arbeiten des Exil-Londoners. Finanziert durch Engels und unterstützt durch seine Frau arbeitet Marx lange und ausgiebig an den unterschiedlichen Theorien. Die Grundzüge seines Gedankenkonstrukts legt er bereits in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie3 im Jahre 1858 vor. Aus diesem Werk und den darin festgehaltenen Gedanken soll später einmal „Das Kapital“ entstehen. Wie wir heute wissen wird er seine ursprünglich geplanten vier Bände jedoch niemals beenden.

Wittstock beschreibt Marx als jemanden, der gern und lange arbeitet. Allerdings auch als jemanden, der an seinem eigenen Perfektionismus scheitert und zahlreiche Texte, die er beginnt, nicht zu Ende bringt. Nicht ohne Grund veröffentlicht Friedrich Engels die weiteren Bände des „Kapitals“ erst nach Marx‘ Tod. Der Autor beschreibt diesen Punkt sehr ausführlich und Karl Marx zudem als jemanden, der durch sein politisches Engagement und zahlreiche „Nebenschauplätze“ am Ende hinter den eigenen Erwartungen zurückzubleiben scheint.

Sehr deutlich werden die unterschiedlichen Stufen der geistigen Entwicklung und die jeweiligen Prägungen herausgearbeitet. Die Entwicklung vom Junghegelianer zum liberalen Demokraten und schließlich zum demokratischen Sozialisten, der seine Theorien entwirft, allerdings nicht dogmatisch an ihnen festhält. Besonders zum Ende seines Lebens nicht mehr: Nachdem sich der Kapitalismus bereits mehrfach „gehäutet“ und existentielle Krisen überstanden hatte, wandelte sich die Sichtweise von Marx doch erheblich. Nicht mehr hinter jeder Krise vermutet er das Ende des Systems; nicht mehr England, sondern Russland und das russische Agrarsystem sieht er als prädestiniert für eine Revolution. Alles in allem zeigt sich darin, dass Marx im Gegensatz zu dem, was ihm heute von vielen Kritiker*innen vorgeworfen wird, kein dogmatischer Denker war, sondern dass genau diese Denkweise von denjenigen, die ihn für ihre Zwecke missbraucht haben, aufoktroyiert worden ist.

Fazit

Das Buch hat seine Stärken insbesondere in der kurzweiligen Aufarbeitung von Marx‘ Leben und der Verknüpfung unterschiedlicher Epochen mit der letzten Reise nach Algier. Der Autor schafft es, drei unterschiedliche Ebenen miteinander zu verbinden: Zum einen das generelle Leben des Karl Marx, zum anderen seine letzte Reise kurz vor seinem Tod, und zuletzt auch das theoretische Wirken. Aus diesen drei separaten Erzählsträngen bastelt Wittstock ein wirklich lesenswertes Werk, welches die doch in Teilen eher trockene Materie lesbar aufarbeitet und Lust macht, mehr über Marx zu erfahren.  

Im letztgenannten Bereich hat das Buch allerdings auch seine großen Schwächen. Der Autor schafft es zwar, chronologisch nachzuzeichnen, welche Erkenntnisse in welchen Lebensphasen entstanden und durch welche äußeren Umstände – sowohl in Marx‘ Leben als auch durch die politischen Geschehnisse der jeweiligen Zeit – diese geprägt worden waren. Es gelingt ihm jedoch nicht, die Würdigung der Errungenschaften der Marxschen Forschung für die moderne Sozial- und Wirtschaftswissenschaft hervorzuheben. Wittstock ordnet Marx im wissenschaftshistorischen Zeitstrahl als einen von vielen ein, dessen wirtschaftswissenschaftliche Theorien womöglich schon zu Lebzeiten bereits überholt waren. Er beschreibt Marx als jemanden, der nicht damit zurechtkam, dass sein Lebenswerk „Das Kapital“ womöglich nicht auf der Höhe der Zeit sein würde und der sich aus diesem Grund (und wegen seines schlechten gesundheitlichen Zustandes) davor drückte, auf seiner letzten Reise noch einmal die Korrekturfahnen des „Kapitals“ zu bearbeiten. Wittstocks Beurteilung nach war Marx immer eher aktionsorientiert und revolutionär angetrieben, mit einem überschaubaren Beitrag zur Wissenschaft. Marx war in seinen Augen eher Politiker, als dass er Forscher war. Eine Interpretation, die sicherlich berechtigt, wenn auch streitbar ist. 

Außen vor bleibt allerdings die Würdigung der enormen Bedeutung, die Marx für die Entstehung der Sozialwissenschaften hatte. Die Unterteilung der Gesellschaft in besitzende und besitzlose Klassen dient als Grundlage der sozialwissenschaftlichen Habitustheorie und damit bis heute als Basis sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsforschung. Auch war Marx der erste Wirtschaftswissenschaftler seiner Zeit, der sich mit den inneren Widersprüchen und Funktionsweisen des damals gerade in neuer Form entstehenden Kapitalismus befasste. All diese theoretischen Modelle können in Teilen heute noch zur Anwendung gebracht werden. Sie prägten damals die Arbeiterbewegungen und prägen bis heute gewerkschaftliche Arbeit massiv.  

Die Frage, welcher der Autor auf der letzten Reise nachgeht – was bleibt für die Nachwelt von Karl Marx – ist also nicht einfach zu beantworten. Nicht umsonst ist Marx zyklisch immer mal wieder in aller Munde und sowohl von Anhängern als auch Widersachern heute noch oft zitiert. Seine Theorien prägen sozialdemokratisches und sozialistisches Denken bis in die Gegenwart – auch wenn sie vielfach missinterpretiert und missbraucht worden sind. 

¹ Beispielsweise: Schulz, Thomas; Beyer, Susanne; Book, Simon; „Hatte Marx doch Recht?“ Spiegel, 2023, URL: https://www.spiegel.de/wirtschaft/gruener-kapitalismus-die-chance-auf-eine-nachhaltigere-wirtschaftsordnung-a-00f49cb5-6509-456f-94ad-f420fab94200

² Zum Beispiel: Gietinger, Klaus.Karl Marx, die Liebe und das Kapital. Westend Verlag, 2018.

³ Marx, Karl. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf): 1857-1858; Anh. 1850-1859. (1974).

2025-12-05T10:09:06+01:00
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