Heft 264 – 03/2025

Alle gegen alle. Lokale Parteienwettbewerbe und die Kommunalwahlen in NRW 

#analyse #kommunalwahlen #spw

Das Bild zeigt den Autor des Textes, Timo Grunden. Er trägt ein weißes T-Shirt, schwarzes Jacket und lächelt in die Kamera.

Foto: © privat

Timo Grunden ist Politikwissenschaftler und Grundsatzreferent der SPD-Fraktion im Landtag NRW. Die politischen Bewertungen in seinem Beitrag sind ausschließlich seine persönlichen.

VON Timo Grunden

Eins vorweg: Kommunalwahlen sind keine „Midterms“, die Wählerinnen und Wähler nutzen, um die im Bund regierenden Parteien für die schlechte Wirtschaftslage, Heizungsgesetze oder ihre allgemeine Performance abzustrafen. Bei Kommunalwahlen entscheiden das Vertrauen in die Kandidaten, möglicherweise lokale Einzelthemen, ganz sicher die Verwurzelung einer Partei in der Stadtgesellschaft. Bundesweite Stimmungen gehen gewiss nicht spurlos an den lokalen Parteiorganisationen vorbei, aber solange ihre Wurzeln in der Stadtgesellschaft tief und stark sind, widerstehen sie auch einem Sturm bzw. einer anhaltenden Dürre auf nationaler Ebene – und geben der nationalen Partei in der Not auch wieder Halt. Sind sie es nicht, werden nationale Krisen schnell zu lokalen. Der Bundestrend wirkt mittelbar und eher langfristig. 

Was also verraten uns die NRW-Kommunalwahlen über die gesellschaftliche Verwurzelung der Parteien, in der Fläche? Und was strukturiert den Parteienwettbewerb – genauer: die lokal unterschiedlichen Parteienwettbewerbe – in Nordrhein-Westfalen? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. 

CDU

Nach der Jahrtausendwende begann nicht nur für die SPD, sondern auch für die CDU ein kontinuierlicher Sinkflug, der allerdings im Vergleich zur SPD weniger steil und sprunghaft ausfiel. Die Wahlen von 2025 kann die CDU insgesamt als Stabilisierung verbuchen. Wo sie traditionell stark ist – Münsterland, Rheinland, Ostwestfalen – gewinnt sie bei den Stadtrats-, Kreistags- und Personenwahlen hinzu, zum Teil sogar deutlich. Überhaupt ist die CDU die einzige NRW-Partei, die noch „Hochburgen“ hat, wenn man darunter Rats- oder Kreistagsergebnisse jenseits der 40 Prozent versteht. Sie gewinnt 24 von 29 Landratswahlen und zehn von 23 OB-Wahlen. Wo sie hingegen traditionell schwach ist, muss sie zum Teil deutliche Verluste hinnehmen, insbesondere im Ruhrgebiet. Der prestigeträchtige OB-Sieg in Dortmund kann darüber leicht hinwegtäuschen, ändert aber nichts daran, dass zwischen Duisburg und Dortmund eine neue Alternative zur SPD heranwächst: die AfD. 

 

Abbildung 1: Stimmenanteile der CDU in Städten und Kreisen
Quelle: Landeswahlleiterin NRW

Grüne

Für die Grünen sind die Kommunalwahlen 2025 ein herber Rückschlag. Sie verlieren fast alles, was sie 2020 mit spektakulären Erfolgen bei Rats- und Oberbürgermeisterwahlen gewonnen hatten. Ihr strategisches Ziel, die SPD landesweit als stärkste Mitte-Links-Partei abzulösen, ist vorerst außer Reichweite.

Ein Grund dafür ist die Themenkonjunktur. Aufgrund objektiver Problemlagen (vermutlich auch Umfragen) rückten alle demokratischen Parteien die gleichen Themen in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen: Mieten, Bildung, Bürokratie und Innere Sicherheit. So auch die Grünen, die mit diesem Tableau aber nicht mehr das Momentum von 2020 für sich erzeugen können. Im Gegenteil: Einmal mehr wurde deutlich, dass sozio-ökonomische Probleme und Konflikte das Wahlverhalten im Zweifel stärker prägen als postmaterialistische und ökologische Fragen, was die Grünen aufgrund mangelnder Kompetenzzuschreibungen in die Defensive drängt.

Die Grünen sind auf ihre Stammwählerinnen und -wähler zurückgeschrumpft. Diese sind allerdings überaus loyal und im Hinblick auf ihre Wohnorte stark konzentriert: strukturstarke Universitätsstädte wie Münster, Düsseldorf, Aachen und Bonn, gutsituierte und mit Sozialkapital aufgeladenen Stadtteile in Köln, schließlich das bürgerlich geprägte Umland dieser Städte. Dort haben die Grünen die SPD tatsächlich schon als führende Kraft im Mitte-Links-Spektrum abgelöst und konkurrieren mit der CDU in Stichwahlen um Platz 1.

Linke & BSW

Wo die Grünen stark sind, ist es auch die Linke: In den Universitätsstädten Köln, Aachen, Bonn und Bielefeld liegt sie mit acht bis zehn Prozentpunkten über ihrem Durchschnitt, im Ruhrgebiet schneidet sie dagegen nur in Bochum und Dortmund überdurchschnittlich ab (wo es eben auch akademische Milieus gibt). Allerdings bedeutet „akademisch“ nicht automatisch „sozialpolitisch abgehoben“, wie es rechte und konservative Kommentatoren gerne streuen. Wie wir aus eigenen Befragungen wissen, gehören bezahlbare Mieten und Bildungsgerechtigkeit zu den Top-Themen der Linken-Wähler. An der sozioökonomischen Konfliktlinie reüssiert also eine weitere Partei, die mit sozialdemokratischen Themen gute Chancen hat, in den Landtag einzuziehen.

Das gilt nach dieser Wahl eher nicht für das BSW. Die Partei schafft es landesweit nur auf 1,1 Prozent, was nicht viel bedeuten müsste, weil sie nur in 44 von 427 Städten und Kreisen angetreten ist. Aber auch dort, wo sie antritt, sind die Ergebnisse enttäuschend. Etwa im Ruhrgebiet, wo sie mit einer massiven Plakatkampagne versuchte, Rüstungsinvestitionen gegen die Armut der Ruhr-Städte zu schieben: „Ruhrgebiet im Absturz. Aber Milliarden für Waffen.“ Ohne Erfolg. Für den Wagenknecht-typischen Populismus-Mix aus linker Sozialpolitik, prorussischer Propaganda und Klimaschutzverachtung gibt es in NRW bisher keine Nachfrage.

AfD

In den Wochen vor den Wahlen reisen Scharen von Hauptstadt- und Deutschland-Korrespondenten ins Ruhrgebiet, um aus nächster Nähe über das Anrollen einer blauen Welle zu berichten, die ganz sicher die SPD hinweg und die Rechtsextremisten in die Rathäuser hineinspülen wird. Eine eigentümliche Mischung aus wohligem Grusel, Sensationslust und Häme für die SPD durchdringt die Berichterstattung dermaßen, dass oft die kritische Distanz zur AfD verlorengeht. Die Rechtsextremisten wird es gefreut haben, dass das Unvermögen ihrer Kandidaten kein Thema ist, ihr Erfolg indes als gesetzt gilt. Der stellt sich auch ein. Landesweit werden sie ihr Ergebnis mit 15 Prozent verdreifachen können. Eine blaue Welle im Ruhrgebiet gibt es dennoch nicht. Kein Rathaus fällt an die AfD, nirgendwo wird sie stärkste Partei.

In Gelsenkirchen kommt sie einem Triumph am nächsten. Bei der Bundestagswahl hatte sie noch mit 24,7 zu 24,1 Prozent vor der SPD auf Platz 1 gelegen, bei der Kommunalwahl liegt sie mit 29,9 zu 30,4 Prozent auf Platz 2. Dennoch ein großer Erfolg, sollte man meinen, hätten AfD-Führung und Medien die Stadt nicht zum symbolischen Schlacht- und Testfeld für die „blaue Welle“ gemacht.

Abbildung 2: Stimmenanteile der AfD in Städten und Kreisen
Quelle: Landeswahlleiterin NRW

Auffällig am AfD-Ergebnis ist die vordergründige Strukturlosigkeit ihrer Ergebnisse in allen Regionen außerhalb des Ruhrgebiets. Die AfD schneidet in Universitätsstädten schlechter ab als im Durchschnitt, aber insgesamt sind die regionalen Abweichungen nicht so stark wie bei anderen Parteien, ein signifikantes Stadt-Land-Gefälle ist nicht zu erkennen. Zum einen liegt das daran, dass die AfD Wählerinnen und Wähler aus allen Einkommens- und Bildungsgruppen zieht. Zum anderen daran, dass es in Nordrhein-Westfalen den Gegensatz von strukturstarker Stadt und „abgehängtem Land“ nicht gibt. Prosperierendes Land grenzt an strukturschwache Städte, prosperierende Städte an strukturschwaches Land, alle grenzen an alle. Oft verlaufen die Grenzen zwischen Licht und Schatten durch die Kommunen selbst.

Auch das Ruhrgebiet als Ganzes ist keine AfD-Hochburg. In Duisburg, Herne oder Gelsenkirchen ist sie sehr stark, verdrängt die CDU von Platz 2 und schließt zur SPD auf. In Dortmund, Bochum, Essen oder Hamm schneidet sie in Summe dagegen nur durchschnittlich bis leicht überdurchschnittlich ab. Das Ruhrgebiet ist eben auch ökonomisch und sozial vielfältiger als sein Image vermuten lässt. Man muss bis in die Stadteile und Stimmbezirke gehen, um Muster zu erkennen.

Es sind drei Faktoren, die eine individuelle AfD-Wahl wahrscheinlicher machen: Geringes Einkommen, Abstiegsängste, subjektiv empfundene Benachteiligung (letztere kann auch Wohlhabende ereilen).1 Es kann also nicht verwundern, warum Teile des Ruhrgebiets besonders AfD-affin sind. Das eigentlich Erstaunliche ist, wie lange und wie geduldig die Menschen dort hingenommen haben, dass zunächst dem Aufbau Ost und später vermeintlichen Sparzwängen Vorrang vor ihrer Heimat eingeräumt wurde. Das jahrzehntelange Desinteresse diverser Bundesregierungen an den sozialen Problemen des größten deutschen Ballungsraums rächt sich nun politisch. Das Bildungs-Startchancen-Programm und erst recht das Sondervermögen kommen für Gelsenkirchen oder Herne mindestens fünf, eher zehn Jahre zu spät.

SPD

Angesichts der Umfrage- und Medienlage macht sich im Vorfeld der Wahl niemand in der NRW-SPD Illusionen. Minimalziel es, die roten Rathäuser zu verteidigen. Das immerhin ist in Summe gelungen. Die SPD gewinnt 12 von 23 Oberbürgermeisterwahlen (vier verloren, drei hinzugewonnen), sie gewinnt vier Landratswahlen (verliert zwei) und 78 Bürgermeisterwahlen (21 verloren, 22 hinzugewonnen). Insgesamt stellt sie damit 94 Hauptverwaltungsbeamte, zwei weniger als 2020.

Unter den Ergebnissen sind bittere Niederlagen, wie der symbolträchtige Verlust des OB-Amtes in Dortmund oder die Stichwahlniederlagen in Bielefeld, Leverkusen und Herford. Auf der anderen Seite finden sich aber auch so deutliche wie überraschende Siege: der Erdrutschsieg bei den OB- und Ratswahlen in Hamm, der Erdrutschsieg bei der OB-Wahl in Wuppertal, die Rückeroberung des OB-Amtes in Oberhausen oder die deutlichen Zugewinne der SPD in Mülheim an der Ruhr. Der größte und vielleicht wichtigste Erfolg ist die Rückeroberung des OB-Amtes in Köln.

Abbildung 3: Stimmenanteile der SPD in Städten und Kreisen
Quelle: Landeswahlleiterin NRW

Gleichwohl können diese Siege und Erfolge nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Abwärtstrend der SPD in den NRW-Kommunen weitergeht. Der Verlust bei den Rats- und Kreistagswahlen von 2,2 Prozentpunkten bedeutet einen abermaligen Verlust an Mandatsträgern – und damit an Gesichtern, Botschaftern und Ansprechpartnern für die Partei in der Fläche.

Analysiert man die Entwicklung auf Basis von absoluten Stimmen in einem Längsschnitt über 30 Jahre, so zeigt sich, dass die SPD in den NRW-Kommunen vor allem an zwei Gegner verloren hat: an die Grünen, die in den Universitätsstädten außerhalb des Ruhrgebiets die Führungsrolle im linken Parteienlager übernommen haben, und an die Nichtwähler, die insbesondere im Ruhrgebiet zum Teil als AfD-Wähler wieder auftauchen. Diese Entwicklung übersetzt sich für die SPD in sehr unterschiedliche lokale Parteienwettbewerbe:

  • In den genannten Universitätsstädten wird sie von der CDU einerseits sowie von Grünen und Linken andererseits in die Zange genommen. Dort fällt es schwer, Profil und Rolle zu behaupten.
  • In den CDU-Hochburgen der ländlichen Räume konkurriert die SPD entweder mit den Grünen oder der AfD um den abgeschlagenen zweiten Platz.
  • In Teilen des Ruhrgebiets (Westen und Mitte) ist die SPD noch stärkste Kraft, muss sich aber zunehmend der AfD erwehren, die sich anschickt, die CDU als SPD-Alternative zu verdrängen.
  • In anderen Ruhrgebietsstädten, insbesondere im östlichen Teil sowie in Ostwestfalen-Lippe konkurriert die SPD mit CDU auf Augenhöhe um Platz 1 in den Räten und Stichwahlen.
  • Köln ist ein Parteienwettbewerb sui generis: Die Stadt ist sowohl Arbeiter- als auch Universitätsstadt, prosperierendes Dienstleistungszentrum und kriselnder Industriestandort. Hier konkurriert die SPD mit der CDU um die Rolle als erste Herausforderin der Grünen, was einen programmatischen Balanceakt erfordert, um an alle Milieus anschlussfähig zu bleiben.

Angesichts dieser sehr unterschiedlichen Konstellationen ist es nicht einfach, die eine gewinnbringende Strategie für eine Trendumkehr, insbesondere mit Blick auf die Landtagswahlen 2027, auszumachen. Tatsächlich haben auch die Sieger der SPD in Duisburg, Hamm oder Mönchengladbach sehr unterschiedliche Profile.

Deshalb ist es hilfreich, die Perspektive auf NRW insgesamt wieder zu weiten und den Parteienwettbewerb anhand von Parteipräferenzen und politischen Einstellungen zu analysieren. Führt man die Einstellungen und Prioritäten des SPD-Potenzials mit den Profilen und Angeboten der SPD-Sieger bei den Kommunalwahlen zusammen, so entsteht das folgende Profil einer erfolgreichen Sozialdemokratie: mit Leidenschaft für Leistungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und Sicherheit. Konkret: Einsatz für Bildungsqualität und Bildungsgerechtigkeit, bezahlbares Wohnen, aktive Industriepolitik (ohne Klimaschutz aufzugeben), Schutz von Arbeitnehmerrechten, Entlastung von Familien und Durchschnittsverdienern, schließlich hartes Durchgreifen gegen Kriminalität.

Das sollte machbar sein.

¹ Andreas Hövermann: Die Verdoppelung des AfD-Elektorats. Erkenntnisse aus dem WSI-Erwerbstätigen-Panel 2020-2025, Study 42, August 2025, Hans-Böckler-Stiftung.

2025-12-05T10:10:10+01:00
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