Heft 264 – 03/2025
Algorithmisierte Öffentlichkeit, KI und Politik: Zeit für demokratische Gestaltung
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Meinung und debatte

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Dr. Charlotte Echterhoff ist Medienwissenschaftlerin und beschäftigt sich auf verschiedenen Ebenen mit der Gestaltung von Öffentlichkeit. Sie engagiert sich vielfältig für Digitalpolitik und Open Source, etwa im Verein D64.
VON Charlotte echterhoff
Sozialdemokratie lebt von Aufklärung, Teilhabe und öffentlicher Debatte; doch Plattformalgorithmen gefährden genau das. Dieser Text zeigt, warum digitale Öffentlichkeit aktive Gestaltung braucht: durch Regulierung, strategische Kommunikation und Medienbildung – für eine gemeinwohlorientierte Vision im KI-Zeitalter.
Zum Status Quo algorithmisierter Öffentlichkeit
Die Demokratie ist vom Aussterben bedroht. Grund dafür ist der desolate Zustand der Öffentlichkeit. Sie konstruiert sich heute primär digital, sie ist fragmentiert, segmentiert und polarisiert. Aufgrund von Netzwerkeffekten und mangels Regulierung leidet die digitale Öffentlichkeit an einer enormen Marktmachtkonzentration der „Big Tech“: Die fünf dominanten Plattform-Unternehmen Google, Amazon, Alphabet, Microsoft und Apple konzentrieren 98,8 % der Internetnutzung auf ihre Angebote. In Deutschland, Europa und weltweit dominieren sie den digitalen Raum und absorbieren den Großteil der digitalen Aufmerksamkeit. Damit wird Öffentlichkeit umfunktionalisiert. Sie dient im Digitalen nicht mehr der Meinungsbildung für Demokratie, sondern den Unternehmensinteressen von Big Tech.1 Gemeinwohlorientierung, Informiertheit oder gar ein „common ground“ gehören nicht zu ihren Prioritäten.2 Eine gemeinsame, gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit existiert kaum noch. Jede3 ist, dank detaillierter Nutzerinnendatenauswertung, der algorithmisch gepflegte Nabel ihrer eigenen Welt. Jede bekommt ihr individuelles Informations- und Unterhaltungsprogramm.4
Somit sind digitale Plattformen nicht bloß technische Infrastrukturen, sondern politische Ordnungsakteure. Ihre Algorithmen ersetzen die kuratierende Funktion eines normativ handelnden Journalismus. Themen werden nicht mehr durch eine verantwortungsbewusste Vierte Gewalt gesetzt. Nachrichten müssen nicht mehr mit Wahrheitsgehalt überzeugen. Lügen sind – als sogenannte Fake News – zur ebenbürtigen Grundlage für Meinungsbildung aufgestiegen, gleichwertig neben recherchierten und wissenschaftlich fundierten Informationen. Was zählt, ist die Interaktionsfähigkeit vor dem Algorithmus. Wenn Algorithmen Fakes belohnen und so die Öffentlichkeit vergiften, dann sind diese Algorithmen keine geeigneten Steuerungselemente in einer Demokratie. Ohne funktionierenden Journalismus, der den Diskurs mitgestaltet, befindet sich das Ideal diskursiver Öffentlichkeit im Überlebenskampf.
Für Deutschland ist das ein Novum. Seit Gründung der BRD wurde die Bedeutung der Öffentlichkeit für die Demokratie anerkannt und politisch gestützt. Das Duale System, also die Koexistenz von privaten und öffentlich-rechtlichen Medien, wurde immer entlang dem jeweiligen Status Quo und mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts sorgfältig entwickelt: mit Regulierungen zu Marktmacht, Pluralismus und journalistischen Standards.
Die Diskussion erinnert an die Unterscheidung zwischen privater und öffentlich-rechtlicher Fernseh-Programmgestaltung. Auch im prä-digitalen Zeitalter standen privatwirtschaftliche Interessen denen einer normativen Öffentlichkeitsgestaltung oftmals entgegen. Heute herrschen Algorithmen ohne demokratische Kontrolle, womit sich eine bedrohliche Dynamik entwickelt. In der digitalen Öffentlichkeit spülen uns Algorithmen zuverlässig und unaufhaltsam in die Richtung des Extremen. Weniger vom Anderen ist mehr von meiner Meinung, mehr von dem, was mich bestärkt, mehr von dem, was mich von der Meinung anderer trennt. Mit ihrer Funktionsweise organisieren die Big-Tech-Algorithmen Öffentlichkeiten nicht nur spaltend, sie begünstigen auch solche Themen, die sich für Spaltung besonders eignen, etwa identitätspolitische. So erklärt sich die Passung populistischer Niedergangserzählungen der Rechten mit der Logik der Algorithmen: einfach, schlimm, schnell: extremer. Der Algorithmus belohnt. Differenzierte, aufklärerische Inhalte hingegen gehen unter. Sie brauchen Zeit, während Social Media auf schnelle Emotionen setzt, die impulsive Reaktionen hervorrufen: The medium is the message.
Schlechte Nachrichten verbreiten sich durch die unsere Öffentlichkeit prägenden Algorithmen per Design besser als gute. Sie dominieren die gesellschaftliche Wahrnehmung und erzeugen den Eindruck politischen Versagens – was laut Sascha Lobo zur „großen Vertrauenskrise“ beiträgt.5 Die Algorithmen haben Social Media zu anti-sozialen Medien gemacht. Wir haben keine Kontrolle mehr über die Gestaltung der Öffentlichkeit oder die ihr zugrunde liegenden Werte.6
Aus dieser Lage ergeben sich drei Aufgaben: Erstens braucht es eine europäisch koordinierte Regulierung des digitalen Diskursraums, die zweierlei leistet: die Marktmacht der Tech-Unternehmen wirksam begrenzen und zugleich eine demokratische Öffentlichkeit im digitalen Raum gestalten – als gemeinwohlorientierte Alternative zu den Entwicklungen in den USA und in China. Zweitens muss Politik bis dahin aktiv Vertrauen aufbauen. Drittens ist umfassende Medienbildung nötig, um Mündigkeit im algorithmisch gesteuerten Alltag zu sichern.7
Wie Politik mit Regulierung die Öffentlichkeit rettet
Der gesellschaftlichen Spaltung im digitalen Raum kann nur durch zeitgemäße Regulierung begegnet werden. Ziel ist es, einerseits die Macht der „digitalen Oligarchien“8 zu begrenzen und andererseits einen digitalen Öffentlichkeitsraum zu schaffen, der dem Gemeinwohl und dem demokratischen Diskurs dient.
Faktisch liefern Plattformen inzwischen die Infrastrukturen für demokratische Auseinandersetzung9 . Ohne demokratische Legitimation oder Kontrolle der Algorithmen gelingt ihnen das nur mangelhaft. Lange konnten sie sich medienpolitischer Regulierung entziehen, da sie sich als „Intermediäre“ präsentierten (und als solche behandelt wurden), als neutrale Verbindungsstücke, nicht als publizistische Akteure. Hier wird erkennbar, dass die medienpolitische Regulierung der Aktualität nicht standhält. Die historisch gewachsene Trennung zwischen Presse, Rundfunk und Online wird online aufgehoben. Entsprechend müssten regulatorische Vorgaben aus dem linearen, aus dem Presse- und dem Rundfunkrecht nun zusammengeführt werden: Es braucht einheitliche Regeln für den gesamten (digitalen) Medienbereich und dessen diverse digitalen Angebote.
Die Marktmacht von Big Tech in der Meinungsbildung ist real10 und sie muss regulativ beantwortet werden. Eine solche Antwort stellt die presserechtliche Bewertung der Plattformen dar. Daraus resultieren zum einen Vorgaben zum Marktanteil in demokratierelevanten Kategorien und zum anderen eine konsequente Verbreiterhaftung. Martin Andrée schlägt darüber hinaus u.a. vor: volle Outlink-Freiheit11 für Creatoren, die Trennung von Kanal und Inhalt sowie Interoperabilität, offene Standards und die Vergemeinschaftung von Daten. Solche Maßnahmen bezwecken zum einen eine höhere Souveränität bei den Nutzerinnen, sodass sie ihre Zeit eher auf verschiedenen Plattformen verbringen, statt auf einer Plattform „eingeschlossen“ zu sein, weil kein Link nach draußen führt. Zum anderen wird Konkurrenz zu Big Tech begünstigt, da bspw. bestehende Konten mitsamt ihrer Follower von der einen auf eine andere Plattform umgezogen werden könnten oder damit den für alle verfügbaren Daten passgenaue Neugründungen wahrscheinlicher würden. Damit würde eine demokratische, vielfaltsfördernde Architektur digitaler Öffentlichkeit möglich: mit Nutzerinnen- und Gemeinwohlinteressen im Zentrum (vgl. Andrée 2023: S. 255ff.).
Mit dem Digital Services Act (DSA) und dem Digital Markets Act (DMA) existieren hierzu erste regulatorische Schritte. Die Europäische Kommission hat verbindliche Regeln für große Plattformen eingeführt, um Transparenz, Nutzerinnenrechte und die Interoperabilität zur Stärkung des Wettbewerbs zu fördern. Die konsequente Umsetzung ist noch abzuwarten, Stand Juli 2025 gilt die Durchsetzung der beiden Gesetze als Verhandlungsmasse im Handelsstreit mit den USA.12
DSA und DMA setzen wichtige Signale für einen supranationalen Regulierungsrahmen. Sie reichen jedoch nicht, um die strukturelle Plattformdominanz aufzubrechen oder digitale Öffentlichkeit im Sinne demokratischer Vielfalt zu gestalten. Neben Regulierung braucht es eine proaktive Politik, die einen gemeinwohlorientierten digitalen Öffentlichkeitsraum gestaltet, mit dem Ziel der gegenseitigen Verständigung statt der Maximierung von Nutzungszeit.
„Demokratische Algorithmen“ liefern ein Konzept, das statt zig Millionen individualisierten Konsumwelten Begegnung ermöglicht. Das kann ganz konkret dadurch geschehen, dass in einem Empfehlungssystem immer auch entgegengesetzte Themen und Meinungen vorgeschlagen werden. Statt „More of the same“ wäre das Ziel „Some of the other“. Also statt „Menschen, die x schauten, schauten auch y“ dann „Andere Menschen schauten a und b“. In der Regel werden mehrere Vorschläge generiert, sodass die Nutzerinnen weiterhin selbst entscheiden, ob sie mit der Vielfalt gehen. Datenbasierte Empfehlungen können allein durch Sichtbarkeit des Gegenübers für ein Mehr an Verständigung sorgen. Die Algorithmen würden sich selbst erklären und transparent empfehlen: „Nutzerinnen aus deiner Region interessieren sich für c“ oder „Andere in deiner Altersklasse haben dieses Thema kommentiert.“ Tiefergehende Nutzungsanalysen könnten zeigen, ob Menschen eher auf die gleiche Gruppe oder eine andere Gruppe reagieren. Wo wird mehr interagiert oder weniger schnell weitergescrollt? Wenn ich Themen einer mir näheren oder die einer mir entfernteren Altersgruppe vorschlage? („Bei älteren/jüngeren Menschen trendet heute #spw“) So verbinden demokratische Algorithmen, statt einseitig zu verstärken und liefern eine positive Irritation. Sie bilden gesellschaftliche Vielfalt ab, machen Widersprüche sichtbar und schaffen digitale Schnittmengen.
Gemäß der medienpolitischen Tradition Deutschlands liegt die Chance, dieses Prinzip zu verankern, im öffentlich-rechtlichen Bereich.13 Demokratische Algorithmen sind die digitale Variante öffentlich-rechtlicher, pluralistischer Programmgestaltung im non-linearen Raum. Demokratische Algorithmen bezwecken Befähigung und Öffnung, sie promoten den Outlink und verkörpern das Gegenteil einer Lock-In-Logik.
Die Gestaltung von demokratischen Algorithmen ist eine Gratwanderung zwischen Manipulation und Aufklärung und führt zur Algorithmenethik. Die Gestaltung muss nachvollziehbar und überprüfbar sein, daher sind Transparenz, gesellschaftliche Partizipation und demokratische Kontrolle entscheidend. Wer sich am Begriff „demokratischer Algorithmus“ stört, kann ihn auch als „vielfaltsfördernden Algorithmus“ verstehen – entscheidend ist seine Funktion.14
Politische Gestaltung durch vertrauensbildende Kommunikation
Auch wenn der digitale Raum aktuell nicht von demokratischen Prinzipien geprägt ist, findet dort Meinungsbildung statt. Er darf deshalb nicht rechtsradikalen Akteuren und ihren Erzählungen überlassen bleiben. Politik muss diesen Raum offensiv nutzen: mit positiven, glaubwürdigen Geschichten über eine gerechtere Zukunft.15 Nur so lässt sich ein Gegennarrativ zu populistischen Untergangsfantasien etablieren. Politikerinnen des demokratischen Spektrums sollten sich dabei als authentische, verlässliche Persönlichkeiten positionieren, denen man gerne folgt. Sie können Sicherheit und Zuversicht vermitteln, gerade in Zeiten multipler Krisen (vgl. Lobo 2023: 291).
Meinungsbildung funktioniert seit jeher über vermittelnde Instanzen. Während man früher vom „Two-Step-Flow of Communication“ sprach, beschreibt heute eher das Modell des „Multi-Step-Flow“, wie sich politische Botschaften über zahlreiche Netzwerke verbreiten. Digitale Räume bieten Chancen für neue Nähe, bedeuten aber auch Herausforderungen an regionale Anschlussfähigkeit. Zwar erschwert das Digitale die gezielte Ansprache lokaler Gruppen, doch gleichzeitig können sich Bürgerinnen aus ganz Deutschland über die Arbeit einzelner Abgeordneter informieren. Sichtbarkeit und Vertrauen entstehen dabei weniger über zentrale Partei-Accounts, sondern durch konsistente, persönliche Kommunikation. Möglicherweise werden weitere KI-Entwicklungen künftig helfen, diese Rolle der Vertrauensperson zu stärken (s. Ausblick).
Mit Blick auf die (noch!) vorherrschende Dominanz von Big Tech sollten politische Akteure und öffentliche Institutionen zudem die „Plus-1-Strategie“ befolgen: Sie veröffentlichen Inhalte nicht ausschließlich auf Big-Tech-Plattformen, sondern immer auch auf einer nicht-proprietären Alternative – etwa der eigenen Webseite oder dezentralen Netzwerken wie Mastodon und PeerTube. So wird digitale Öffentlichkeit nicht nur bespielt, sondern Stück für Stück auch zurückerobert. Wer demokratische Öffentlichkeit stärken will, muss sich souverän von Big-Tech-Abhängigkeiten lösen.
Medienbildung für Mündigkeit im digitalen Raum
Zahlreiche, größtenteils erst kürzlich gegründete, zivilgesellschaftliche Initiativen, darunter „The Activists Guide“, das „Zentrum für Digitalrechte und Demokratie“, die „Allianz für die resiliente Informationsgesellschaft“, „teilensWert e.V.“, „Good News“ oder der „Interessenverband informierte Öffentlichkeit“, weisen auf die Unzufriedenheit mit dem Status Quo der digitalen Öffentlichkeit hin. Der dringende Handlungsbedarf ist erkannt, er betrifft nicht nur Regulierung, sondern auch Bildung.
Parallel zu politischen und technischen Maßnahmen braucht es eine gesamtgesellschaftliche Strategie für Medienbildung. Denn nur informierte, souveräne Bürgerinnen können den digitalen Raum selbstbestimmt nutzen, Desinformation erkennen und demokratische Öffentlichkeit aktiv mitgestalten. Medienbildung ist kein Randthema, sondern in der digital geprägten Welt ein demokratischer Imperativ.
Deshalb braucht es ein strukturell verankertes, dauerhaft finanziertes Konzept für Medienbildung – als Querschnittsaufgabe in Schule, Erwachsenenbildung und politischen Bildungsangeboten. Die Verantwortung liegt beim Bund, konkret beim Bundesbeauftragten für Kultur und Medien: Er sollte gemeinsam mit Ländern, Bildungsinstitutionen und Zivilgesellschaft ein kohärentes Rahmenkonzept vorlegen, sodass mündige Bürgerinnen den digitalen Kulturraum selbstbestimmt nutzen können.
Auch die aktuellen Debatten um Social-Media-Altersbeschränkungen, Smartphone-Nutzung bei Kindern und Initiativen wie „Smarter Start ab 14“ zeigen, dass gesellschaftlich ein Problembewusstsein vorhanden ist. Doch ohne Einbindung in eine breite, strukturelle Medienbildung bleiben solche Ansätze Einzelmaßnahmen.
Und was ist mit KI? – ein hoffnungsvoller Ausblick
Künstliche Intelligenz wird die digitale Öffentlichkeit weiter transformieren – und zwar in beide Richtungen: Sie verschärft bestehende Probleme, eröffnet aber auch neue Handlungsoptionen. Die massenhafte Verbreitung KI-generierter Inhalte (vgl. VEO3, das neueste Text-zu-Video-Modell von Google) potenziert die bestehenden Herausforderungen. Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, menschlich oder maschinell erstellt, wird zunehmend schwieriger und belastet zusätzlich Vertrauen und Orientierung. Der Zustand individualisierter, segregierter Öffentlichkeiten wird durch KI weiter verstärkt.
Zugleich wird durch diese Entwicklung der Druck auf Regulierungsinstanzen größer. In Zukunft sind keine menschlichen Creatoren mehr nötig für klickbaren Content.16 Big Tech haben mit dem Content auf ihren Plattformen und den Daten zum Nutzungsverhalten die besten Voraussetzungen für die passgenaue Generierung von KI-Inhalten. Wenn Inhalte nicht mehr von Menschen, sondern von Maschinen erzeugt und gezielt auf psychologische Profile hin ausgespielt werden, steigt die Dringlichkeit für Konzepte von Verantwortung, insbesondere eine strikte Verbreiterhaftung. Plattformen, die personalisierte KI-generierte Inhalte verbreiten, müssen für deren Auswirkungen haften.
Gleichzeitig entstehen neue Chancen für demokratische Gestaltung. Zwei Szenarien zeigen das Potenzial:
Szenario 1: Mit KI-generierten Inhalten überschreitet die Strategie „Flood the zone with shit“ ihren Kipppunkt und die algorithmisch gesteuerte Öffentlichkeit gerät an ihre Grenzen. Denn was bieten KI-generierte Inhalte tatsächlich in der Nutzungsgratifikation? Die ständige Unsicherheit, ob es sich grade um „echte“ oder „KI-generierte Inhalte“ handelt, besteht nur im digitalen Raum. Nutzerinnen wenden sich wieder bewusst vertrauenswürdigen Quellen zu. Die Bedeutung analoger Begegnungen, persönlicher Beziehungen und überprüfbarer Absenderinnen nimmt zu. Politikerinnen, die nahbar und präsent sind, gewinnen an Relevanz, sie werden als verlässliche Kuratorinnen von Informationen wahrgenommen.
Szenario 2: Bürgerinnen erhalten durch KI neue Werkzeuge zur Gestaltung ihrer eigenen Öffentlichkeit. Mithilfe individueller Prompts könnten Nutzerinnen sich ihren eigenen Nachrichtencocktail zusammenstellen: „Sortier mir, was Personen x, y und z sagen.“ „Stell mir die wichtigsten Themen des Tages zusammen.“ Voraussetzung dafür ist eine gemeinwohlorientierte, demokratisch kontrollierte KI-Infrastruktur.17 Öffentlich-rechtliche Medien könnten hier eine zentrale Rolle übernehmen, indem sie solche Systeme bereitstellen und damit die Plattformabhängigkeit reduzieren. Wenn die Plus-1-Strategie sorgsam befolgt wird, ist es solchen vertrauenswürdigen KI-Anwendungen möglich, Content auf privaten Webseiten zu finden – nicht nur auf Plattformen.
Fazit: Demokratie braucht digitale Gestaltungskraft
Demokratische Öffentlichkeit entsteht nicht von allein und darf nicht Big Tech überlassen bleiben. Wenn wir akzeptieren, dass Öffentlichkeit heute primär auf privatwirtschaftlichen Plattformen stattfindet, müssen Demokratien diese Räume aktiv zurückerobern: mit klarer Regulierung, gemeinwohlorientierter Technologieentwicklung, vertrauensbildender Kommunikation und flächendeckender Medienbildung.
Die nächste Phase der Digitalisierung – mit generativer KI als treibender Kraft – erhöht die Notwendigkeit für demokratische Regulierung. Wenn es gelingt, vertrauenswürdige, gemeinwohlorientierte KI zu gestalten, könnte sie selbst Teil der Lösung werden. Mit seiner medienpolitischen Tradition und seinem wertebasierten Anspruch sollte Deutschland diesen Weg aktiv mitprägen.
Die sozialdemokratischen Prinzipien von Aufklärung, Teilhabe und Gerechtigkeit finden sich in einer progressiven Digitalpolitik wieder, die nicht nur reagiert, sondern gestaltet.
1Martin Andrée (2023): Big Tech muss weg! Die Digitalkonzerne zerstören Demokratie und Wirtschaft. Wir werden sie stoppen. Campus, S. 26 ff.
2In “The Platform Society” (2018) liefern Van Dijck et al. eine tiefgreifende Analyse der Plattformisierung unserer Gesellschaft. Am Beispiel von Nachrichten, Mobilität, Gesundheit und Bildung veranschaulichen sie, dass Plattformen öffentliche Aufgaben übernehmen, dabei Algorithmen jedoch niemals neutral sind, sondern anhand von Datafizierung, Selektion und Kommodifizierung ihre Profitinteressen bedienen, statt einem “Public Value” zuzutragen.
3In dem Artikel nutze ich das generische Femininum. Es sind alle Menschen mitgemeint.
4Angesichts zahlreicher TikTok-Challenges erscheint auch Neil Postmans “Wir amüsieren uns zu Tode” auf allzu bittere Weise aktueller und zutreffender denn je.
5Sascha Lobo(2023): Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass. Kiepenheuer & Witsch. Köln. S. 102 ff.
6So werden wir als Gesellschaft etwa auch vor vollendete Tatsachen gestellt, wenn ein Algorithmus aus dem US-amerikanischen Kulturraum mit prüden Einstellungen unsere Öffentlichkeit prägt und etwa Inhalte über Sexualität zensiert, weil er nicht zwischen Pornografie und Aufklärung unterscheiden kann/soll. (vgl. https://krautreporter.de/geschlecht-und-gerechtigkeit/5956-seggs-und-es-ist-nicht-egal-wenn-wir-online-verklemmt-sind)
7Der medienpolitische Antrag der NRW SPD-Fraktion fasst diese Notwendigkeiten gut zusammen. vgl. https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD18-14011.pdf
8vgl. Alexander Sängerlaub (2025): Auf dem Weg in die resiliente Informationsgesellschaft: Grundstein einer holistischen Öffentlichkeitspolitik. Policy Paper. https://resiliente-informationsgesellschaft.org/media/pages/ueber-uns/2d01f1f045-1742391290/allianz-policy-paper.pdf
9José Van Dijck, Thomas Poell, Martijn de Waal (2018): “The Platform Society. Public Values in a connective world.” Oxford University Press.
10vgl. zu den realen Auswirkungen etwa von Facebook auf die öffentliche Meinungsbildung: “Nexus” von Yuval Noah Harari (2024), insb. S. 280ff.
11Diese Forderung hat es sogar in den Koalitionsvertrag geschafft: „Outlinks zu Drittanbietern sind zuzulassen.” (https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag2025_bf.pdf, S. 87)
12https://digitalpolitik.ghost.io/handelsstreit-dont-believe-the-hype/
13Konkrete Impulse hierfür liefert die ZDF‑Potenzialanalyse (2025). Die Autorinnen empfehlen darin u.a. ein föderiertes Netzwerk von Infrastrukturangeboten, den „Digital Open Public Space“ (DOPS). Dieser digitale Commons‑Ansatz soll Transparenz, Partizipation und Vielfalt fördern und eine öffentlich-rechtliche Antwort auf marktbeherrschende Plattformlogiken bieten. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk würde damit vom reinen Medienanbieter zum aktiven Ermöglicher einer demokratischen, gemeinwohlorientierten digitalen Öffentlichkeit. (https://www.zdf.de/assets /potenzialanalyse-digitaler-public-value-im-zdf-102~original?cb=1753995624698)
14vgl. https://netzpolitik.org/2019/neues-aus-dem-fernsehrat-44-charlotte-echterhoff- ueber-demokratische-algorithmen/
15Wem es an Inspiration für solche Erzählungen mangelt, sei “Unsere Welt neu denken” von Maja Göpel empfohlen (2020).
16vgl. hierzu die empfehlenswerte Dystopie “Views” von Marc-Uwe-Kling (2024).
17vgl. Forschung am Lamarr-Institut sowie die staatlich geförderte, von Wissenschaftlerinnen entwickelte und komplett offene KI-Alternative aus der Schweiz: https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2025/07/ein-sprachmodell-im-dienste-der-gesellschaft.html
