Heft 263 – 02/2025

Rezension: Parteiendemokratie

#kultur #kritik #spw

Thilo Scholle ist Mitglied der spw-Redaktion, Jurist und lebt in Lünen.

von Thilo Scholle

Detlef Lehnert (Hg.)
Parteiendemokratie. Theorie und Praxis in Deutschland und Nachbarländern
Vom Making und Remaking
Metropol Verlag, Berlin 2020
406 Seiten, 24 €

Politische Parteien sind für das Funktionieren eines parlamentarisch-demokratischen Systems zwar zentral, zugleich in ihrer Rolle und Funktion aber immer wieder umstritten. Dies gilt nicht nur für allgemeine öffentliche Wahrnehmung über „die“ Parteien, sondern auch in der politikwissenschaftlich-verfassungstheoretischen Literatur. Theoriegeleitete Einordnungen der Parteiendemokratie stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbands. Enthalten sind zwölf Beiträge, die sich auf die beiden Abschnitte „Deutschland und vier Nachbarländer im Überblick“ sowie „Parteienlehre und –kritik seit der Weimarer Republik“ verteilen.

In seinem einleitenden Beitrag hält der Herausgeber fest, auch wenn der Einwand zutreffend sei, dass zu große soziale Heterogenität – Ungleichheit, entfremdete Lebenswelten – sich negativ auf moderne Demokratien auswirkten, so sei doch soziokulturelle Vielfalt ohne ein Übermaß an gesellschaftlicher Unübersichtlichkeit auch eine Antriebskraft demokratischer Entwicklung. Parteiendemokratie gebe es daher immer nur im Plural. Trotz fraglicher Wiederbelebbarkeit in Gegenwart und Zukunft müsse man auf die gravierenden Schattenseiten des bislang erfolgten Niedergangs von Parteiendemokratien hinweisen, mit den besonders deutlichen Beispielen Italien und Frankreich. Der hier entfaltete Grundton der Darstellung findet sich auch in den weiteren Beiträgen als roter Faden wieder – die Vorstellung davon, dass in sozioökonomisch pluralen Gesellschaften Parteien ein zentraler Integrationsfaktor für Gesellschaft und politische Steuerung sein sollen und grundsätzlich auch sein können.

Volker Stalmann eröffnet die Beiträge mit einem Text zu „Kontinuität und Wandel des deutschen Parteiensystems nach 1945“. Trotz seiner mangelnden definitorischen Schärfe biete sich der Begriff der Volkspartei weiterhin als Basis zur Beschreibung der Parteienentwicklung seit 1945 an: „Als Volksparteien sollen im Folgenden Parteien verstanden werden, die in der sozialen Zusammensetzung ihrer Wähler, Aktivisten, und Mitglieder sich nicht auf bestimmte Schichten, Klassen, Landsmannschaften oder Konfessionen fokussieren, sondern bei Wahlen möglichst viele Wähler anzusprechen und zu gewinnen versuchen“. Der Artikel konzentriert sich auf die ersten Nachkriegsjahrzehnte und endet mit der ersten Konsolidierung des Parteiensystems mit vier Parteien: CDU/ CSU, SPD und FDP. Den ersten Blick ins Ausland machen sodann Matthias Micus und Jens Gmeiner, die die Entwicklung der Parteiensysteme in Österreich und Schweden „zwischen Persistenz und Transformation“ nachzeichnen. Bemerkenswertes Element bei beiden Ländern sei die Etablierung des Rechtspopulismus – wenn auch jeweils mit dem Abstand einiger Jahrzehnte. Mit Blick auf Schweden zeichne sich die aktuelle Phase des Parteiensystems durch drei zentrale Merkmale aus: Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten hätten sich im Parteiensystem etabliert, eine kulturelle Konfliktsituation habe sich im Parteiensystem niedergeschlagen und den prägenden sozioökonomischen Cleavage (Spaltungslinie) ergänzt, und drittens seien durch die Etablierung der Schwedendemokraten im Parteiensystem neue Bündnis- und Kooperationsmöglichkeiten erkennbar geworden, die blockübergreifend verliefen. Für Österreich wurde nun nach jahrzehntelanger Persistenz eines Parteiendualismus aus ÖVP und SPÖ ein Mehrparteiensystem, in dem die etablierten Parteien sich einander teils auf dem Niveau von Mittelparteien phasenweise angleichen. Stefan Grüner widmet sich in seinem Text den Entwicklungen in Frankreich. Dabei deutet er mit Blick auf vorliegende Studien an, dass die Links-Rechts-Verortung vieler Wähler*innen in Frankreich möglicherweise doch noch eine bleibende Rolle spielen könnte, und damit Emmanuel Macrons zentristisches Projekt auf Dauer nicht überleben könne. Einen interessanten Analyseausgang nimmt der Artikel von Georg Kreis zum schweizerischen Parteiensystem, in dem er die Art der Parteien- und Politikfinanzierung in den Mittelpunkt stellt. Fehlende öffentliche Parteienfinanzierung bei gleichzeitigen weitreichenden Möglichkeiten für Interessengruppen und Einzelpersonen, die Arbeit von Parteien zu finanzieren, macht er als einen bestimmenden Faktor für die Handlungsmöglichkeiten der Parteien aus.

Der zweite Teil des Bandes enthält vor allem analytisch-ideengeschichtliche Aufarbeitungen. Hans-Christof Kraus widmet sich Erich Kaufmanns Kritik der Parteiendemokratie in der Weimarer Republik. Uli Schöler skizziert die innerparteilichen Diskussionen in der SPD Anfang der 1930er Jahre über den Umgang mit abweichendem Abstimmungsverhalten im Reichstag, insbesondere am Beispiel des Umgangs mit der „Klassenkampfgruppe“ um Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld. Interessant ist der Verweis auf eine zeitgenössische Analyse Anna Siemsens, die vor allem auf funktionierende oder nicht-funktionierende innerparteiliche Demokratie als Basis dafür abgestellt habe, überhaupt erst Disziplin durchsetzen zu müssen: „Müsse aber eine proletarische Partei zu den Mitteln greifen, Gewissensbedenken und Überzeugung unter Disziplin zu stellen, würden diese Mittel erst die Gefahr hervorrufen, die sie angeblich verhindern sollen: die Spaltung.“ Einen etwas anderen Akzent setzen demgegenüber die ebenfalls von Schöler rezipierten Arkadij Gurland und Kurt Laumann, ebenfalls auf dem linken Flügel der SPD verortet: Die Kreise von Suchenden und Drängenden sei nur ein kleiner Ausschnitt aus einer allgemeinen Erscheinung, die sich weder organisatorisch zentralisieren noch mit organisatorischen Maßnahmen aus der Welt schaffen lasse. „Zugleich aber fördere eine solche Zerstreuung in kleine Zirkel nicht die Verlegung der kämpferischen Aktivität aus den Organisationsinstanzen in die breiten proletarischen Massen, sondern sei Flucht aus der Massenarbeit im sozialistischen Sinne in Sektengläubigkeit, Sektenfanatismus, Unduldsamkeit und praktische Inaktivität.“ Marcus Llanque zeichnet Otto Kirchheimers Ansatz zum „Wandel von der Integrationspartei zur Allerweltspartei als Problem politischer Bindung“ nach. Kirchheimers Beitrag sei nicht auf seine Überlegungen zur Parteientypologie beschränkt, sondern müsse vielmehr im Gesamtzusammenhang seiner Analysen zu den Bedingungen moderner politischer Partizipation gesehen werden: „Was ist die politische Leistung von Parteien, wie ändert sich diese? Wie ändert sich das Verhältnis der Bürger zu ihnen? Die Spannbreite reicht von der absoluten Einbindung in eine politische Parallelwelt bis zur Mobilisierung, sich überhaupt mit politischen Fragen zu beschäftigen, und diese nicht als Konsum zu begreifen.“ Peter Steinbach stellt Wolfgang Abendroth als Denker der Parteien vor. Abendroth sei von der Notwendigkeit der Parteien bei der Gestaltung des politischen Lebens und nicht zuletzt des gesellschaftlichen Fortschritts überzeugt gewesen. Voraussetzung sei, durch eine konsequente demokratische Willensbildung die Parteien zu Garanten der Demokratie zu machen. Detlef Lehnert widmet sich ausführlich den Überlegungen zum „Parteienstaat“ bei Gerhard Leibholz und auch dessen publizistisch-rechtspraktischer Durchsetzung. Auch bei Leibholz klingt an vielen Stellen zentral die Vorstellung von Parteien und Parlamentarismus als notwendiger Ort der Austragung der aus den sozioökonomischen Spaltungslinien einer Gesellschaft hervorgehenden Interessendifferenzen. Abschließend widmen sich Peter Steinbach der Parteienstaatskritik von Wilhelm Hennis und Robert Chr. van Ooyen titelt „Von Carl Schmitt zur Pluralismus-, Parteien- und Europakritik bei Ernst-Wolfgang Böckenförde und Hans Herbert von Arnim“. Beide Beiträge sind interessant, weil sie insbesondere mit Verweis auf Hennis und von Arnim ein Stück weit eine Kontrastfolie zu den vorangegangen positiven Bezügen auf die Parteiendemokratie darstellen – getrieben auch von anderen Wahrnehmungen gesellschaftlicher Widersprüche und der Rolle der Parteien darin und tendenziell auch von elitäreren Vorstellungen politischer Lenkung.

Insgesamt handelt es sich um einen anregungsreichen Band, der zum Weiterdenken auffordert. Nötig erscheint dabei allerdings auch eine vertiefte aktuelle Gesellschaftsanalyse, mindestens mit Blick auf zwei Aspekte: Zum einen haben sich innergesellschaftliche Spaltungslinien ausgeweitet und vervielfacht, die Repräsentation von Gesellschaft und Umsetzung gesellschaftlicher Dispositionen durch Parteien in politisches Handeln wird also schwieriger. Interessengegensätze und individuelle gesellschaftliche Verortungen orientieren sich zwar immer noch auch an der jeweiligen sozioökonomischen Position, sind dabei aber wesentlich breiter aufgefächert als noch zu Zeiten der im Band referierten politisch-theoretischen Ansätze. Und insbesondere durch die Vielfalt und Besonderheiten sozialer Medien scheinen sich zudem auch Rezeptions- und Kommunikationsverhalten erheblicher Teile der Bevölkerung verändert zu haben. Akteure von Parteien, aber auch von Gewerkschaften und anderen (auch) für politische Integration relevanten Organisationen sind immer weniger als inhaltliche Referenz akzeptiert. Weder der Ortsvereinsvorsitzende noch die Betriebsrätin können in ihrem Umfeld in gleicher Weise wie früher Interessen sammeln, bündeln und auf die weiteren Ebenen hin artikulieren – und umgekehrt Entscheidungen aus anderen Ebenen einordnen und orientieren. Dies hat Folgen für die Möglichkeiten dieser Organisationen, ihre politisch-öffentliche Rolle überhaupt noch wahrnehmen zu können. Zentral bleibt vor allem die in den im Band enthaltenen Analysen thematisierte Herausforderung, wie ein politisches System seine gesellschaftliche Responsivität sicherstellen kann – und welche Rolle Parteien dabei spielen können und müssen.

2025-09-08T14:39:50+02:00
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