Heft 263 – 02/2025
Sammelrezension: Lebenswege bedeutender Sozialistinnen
#kultur #kritik #spw
von Thilo Scholle
Hannelore Faulstich-Wieland/ Sinah Mielich/ Florian Muhl (Hrsg.)
Anna Siemsen: Mein Leben in Deutschland und andere Texte
Schriftenreihe des Archivs der Arbeiterjugendbewegung Band 24
Metropol Verlag, Berlin 2025
204 Seiten, 19 €
Marie Jahoda
Rekonstruktion meiner Leben
Herausgegeben von Johann Bacher/ Waltraud Kannonier-Finster/ Meinrad Ziegler
Edition Konturen, Wien 2024
264 Seiten, 34 €
Marie Jahoda
Aufsätze und Essays
Herausgegeben von Johann Bacher/ Waltraud Kannonier-Finster/ Meinrad Ziegler
Studien Verlag, Innsbruck 2019
395 Seiten
Arbeitslose bei der Arbeit
Herausgegeben von Johann Bacher/ Waltraud Kannonier-Finster/ Meinrad Ziegler
Studien Verlag, Innsbruck 2019
231 Seiten
2 Bände im Schuber, 49,50 €
Akteneinsicht. Marie Jahoda in Haft
Herausgegeben von Johann Bacher/ Waltraud Kannonier-Finster/ Meinrad Ziegler
Studien Verlag, Innsbruck 2022
252 Seiten, 26,90 €
Hartfrid Krause
Die Genossinnen der USPD. USPD-Frauen in leitender Stellung
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2025
201 Seiten, 25 €
Dunja Larise
Helene Bauer – Intellektuelle, Ökonomin, Austromarxistin
Mandelbaum Verlag, Wien 2024
236 Seiten, 25 €
Der Blick zurück auf die Rolle von Frauen in der Arbeiter*innenbewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reduziert sich oft auf wenige große Namen wie Rosa Luxemburg oder Clara Zetkin. Vor diesem Hintergrund sind einige Neuerscheinungen der letzten Jahre nicht nur aus biografischer Sicht spannend und aufschlussreich. Vor allem bieten sie ein intellektuelles Panorama marxistisch inspirierter Sozialwissenschaften, das auch aktuelle Anschlüsse ermöglicht.
Marie Jahoda (1907 – 2001)
Marie Jahoda wurde am 26. Januar 1907 in Wien geboren, studierte ab 1926 an der Universität Wien Psychologie und promovierte im Jahr 1932. Von 1927 bis 1934 war sie mit Paul F. Lazarsfeld verheiratet, den sie aus der sozialdemokratischen Schüler*innenarbeit kannte. Aus dieser Ehe stammt ihre 1930 geborene Tochter Lotte. Bis heute zumindest als Referenz bekannt geblieben ist ihre gemeinsam mit Lazarsfeld auf Anregung von Otto Bauer durchgeführte Studie zu den „Arbeitslosen von Marienthal“, in der sie die psychologischen Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit auf die Bevölkerung eines Ortes untersucht. 1936 und 1937 wegen Widerstandsarbeit gegen den Austrofaschismus inhaftiert und verurteilt, emigrierte sie 1937 nach Großbritannien, während sie ihre Tochter Lotte zu ihrem Ex-Mann in die USA in Sicherheit schickte. In England blieb Jahoda als Sozialforscherin tätig und engagierte sich zugleich in der öffentlichen politischen Agitation gegen die NS-Herrschaft und den Austrofaschismus. 1945 siedelte auch sie in die USA über, wo sie im Jahr 1949 ihre erste ordentliche Universitätsprofessur übernehmen konnte. Ab 1958 war Jahoda dann in Großbritannien an verschiedenen Universitäten tätig. Sie starb am 28. April 2001.
Einen ausgesprochen lesenswerten Einblick in Leben und intellektuelle Entwicklung Jahodas bietet ihre unter dem Titel „Rekonstruktion meiner Leben“ herausgegebene biografische Skizze, die im vergangenen Jahr in der Edition Konturen in Wien 2024 veröffentlicht wurde. Im einleitenden Essay stellen die Herausgeber*innen kurz zentrale Aspekte in Leben und Werk von Marie Jahoda sowie ihrer ebenfalls als Sozialforscherin tätigen Tochter Lotte Bailyn vor, von der am Ende des Bandes auch ein kurzer eigener Text zu ihrer Familie enthalten ist. Kernstück des Bandes sind die von Marie Jahoda ab etwa Anfang der 1990er Jahre bis kurz vor ihrem Tod verfassten Lebenserinnerungen, die aus dem Englischen übersetzt wurden. Enthalten sind zudem auch die Briefwechsel Jahodas mit dem zeitweiligen Vorsitzenden der Revolutionären Sozialisten Joseph Buttinger sowie mit ihrem nach Österreich zurückgekehrten politischen Weggefährten Walter Hacker in den Jahren 1946 bis 1948, als auch Jahoda darüber nachdachte, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Abgeschlossen wird der Band mit dem Abdruck einer Reihe von Fotos.
Einen detaillierten Einblick in Jahodas Rolle im Widerstand gegen den Austrofaschismus bietet der Band „Akteneinsicht“. Horst Schreiber und Meinrad Ziegler zeichnen darin den Gang des Gerichtsverfahrens im Jahr 1937 gegen Marie Jahoda nach. Auch wenn die ursprüngliche Anzeige auf Hochverrat und Gründung einer „staatsfeindlichen Verbindung“ fallen gelassen wurde, reichte die Anklage wegen der Teilnahme an staatsfeindlichen Verbindungen und deren Unterstützung zu einer Verurteilung. Andreas Kranebitter beschreibt in seinem anschließenden Beitrag den größeren Kontext der Repression gegen politische Gegner im Austromarxismus. „Die Parallelität der Regime liegt nicht in ihrer Grausamkeit, sondern in der Logik der Prävention, dem Sicherheitsdispositiv der Vorbeugung.“ Christian Fleck zeichnet schließlich den politisch-intellektuellen Entwicklungsweg Marie Jahodas nach. Den Abschluss des Bandes bildet ein kurzer Text von Lotte Bailyn zu ihren Erinnerungen an Wien.
Einen beeindruckenden Überblick über Jahodas Werk bietet der Sammelband „Aufsätze und Essays“. Nach einem einleitenden Vorwort von Klaus Taschwer sind Jahodas Aufsätze auf die Abschnitte „Sozialpsychologie und Sozialwissenschaft“, „Antisemitismus- und Vorurteilsforschung“, „Konformität und Freiheit“, „Sozialpsychologie der Arbeit“ sowie eine abschließende übergreifende Sektion „Essays“ aufgeteilt. Zum Abschluss geben Julia Hoffmann und Georg Hubmann eine kurze Skizze des intellektuellen Profils der Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda.
So befasst sich der Text „Vorurteile und das Vermeiden von Aufklärung“ mit der Frage, wie Menschen für politische Meinungsbildung und Debatte erreichbar sein können. Viele würden dies vermeiden: „Die Antwort liegt zum Teil in den Schwierigkeiten, denen sich Individuen ausgeliefert sehen, die in den verschiedenen Bereichen ihrer alltäglichen Erfahrung Konsistenz erzielen möchten. Der Versuch, sich den Widersprüchen zu stellen und sie aufzulösen, würde zweifellos beunruhigende Spannungen erzeugen, die ihrerseits den meisten Individuen ernsthafte Probleme bereiten würden. (…) So erscheint Vermeidung als gut eingeübte Verhaltensweise, die durch unsere Sozialstruktur verstärkt wird. Bei der Reaktion auf Propaganda, die sich gegen Vorurteile wendet, dient sie zur Verteidigung gegen Angriffe auf die eigene Gruppe.“
Ohne Kenntnis des Erscheinungsjahrs fast wie eine Analyse aktueller Entwicklungen in den USA liest sich der Text „Sicherheit und Freiheit. Eine explorative Untersuchung von Sicherheitsmaßnahmen unter McCarthy“, der auf einem Vortrag Jahodas aus dem Jahr 1951 basiert. Ziel der Arbeit war die Entwicklung eines Forschungsrahmens zur Untersuchung der sozialpsychologischen Auswirkungen von Maßnahmen zur Kontrolle der politischen Einstellungen von Beschäftigten in öffentlichen Institutionen. Erwähnt wird dabei eine das eigene Verhalten regulierende Angst bis hin zu Auswahl der eigenen Bücher und der (sichtbaren) Lektüre bestimmter Zeitungen und Zeitschriften. Ein maßgeblicher Abschnitt ist daher naheliegender Weise mit „Soziale Kontrollmechanismen im neuen geistigen Klima“ überschrieben. Wesentlich sei, dass die Gefahr, zum Gegenstand einer Untersuchung zu werden, so groß sei, dass Einzelakteure ihr Verhalten einschränkten, indem sie alles zu vermeiden suchten, was einen Verdacht auslösen und zur Einleitung einer Untersuchung führen könnte.
Abgedruckt ist auch Jahodas Rede auf dem Münchner SPD-Bundesparteitag 1982, in der sie nicht nur ihr analytisches Programm zur Erforschung der Arbeitsgesellschaft, sondern auch einige Gestaltungsansprüche skizzierte: „Es geht darum, Genossen, eine Tradition von 200 Jahren zu brechen, in der die Arbeitsbedingungen lediglich von finanziellen und technischen Gesichtspunkten her diktiert wurden. Die deutsche Arbeiterbewegung kann stolz darauf sein, dass sie die Humanisierung der Arbeit auf ihr Programm gesetzt hat. Aber die Humanisierung der Arbeit darf nicht an der Enthumanisierung durch die Arbeitslosigkeit vorbeisehen. (…) Dennoch muss die allmähliche Verkürzung der Arbeitszeit und deren gerechte Aufteilung und nicht die utopische Idee von der Abschaffung der Arbeit unser Ziel bleiben (…). Genossen, was wir anstreben, ist eine Gesellschaft, in der alle die Möglichkeit haben, in der Arbeit Gemeinschaft und Solidarität zu erfahren und sich in der Freizeit als Menschen voll zu entwickeln.“
Ein ausgesprochen beeindruckendes Zeugnis der Arbeit Jahodas und auch heute noch lesenswerten Text stellt die monografische Studie „Arbeitslose bei der Arbeit“ dar. 1938 ins englische Exil gedrängt, untersuchte Jahoda dort auf Basis eines dort gewonnenen Stipendiums die Wirkungen des für Arbeitslose konzipierten Programms „Subsistence Production Scheme“, das im Frühjahr 1935 im Eastern Valley, einem von Massenarbeitslosigkeit geprägtem Tal in Wales nordöstlich von Cardiff von Quäkern aufgelegt worden war. Gemeinsam mit weiteren Forschenden lebte Jahoda mehrere Monate in dem Ort bei wechselnden Familien. Ihr Fazit zum Erfolg des Projekts fiel skeptisch aus. Inhaltlich sah das Projekt vor, mit Arbeitslosen auf landwirtschaftlichen Grundstücken und in Werkstätten Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs zu produzieren und an die Mitglieder zum Selbstkostenpreis zu verkaufen. Das Programm sollte die Möglichkeit einer sinnvollen kollektiv organisierten Arbeit und erhöhter Kaufkraft an die Mitglieder vermitteln. Grundsätzlich hält Jahoda fest, dass sich die von den Initiatoren neben den finanziellen Verbesserungen für die Teilnehmenden erhofften Sinnstiftungen nicht erfüllt hätten. Nur bei älteren Teilnehmenden sei dies annähernd gelungen. Zudem hätten die Teilnehmer keinerlei persönliche Verbundenheit zum Projekt entwickelt, es nicht als Blaupause für eine andere Art der Arbeitsorganisation verstanden. Deutlich wird dies etwa an der Rolle des Gruppensprechers im jeweiligen Arbeitsbereich, der formal auf Augenhöhe mit dem entlohnten Instrukteur des Bereichs arbeiten sollte, faktisch aber wie die gesamte Belegschaft in klassische Verhaltensweisen hierarchischer Arbeit zurückfiel. So lassen sich aus der Studie weit über das konkrete Projekt hinausgehende Eindrücke zur Rolle von Erwerbsarbeit, Arbeitsstolz in der Erwerbsarbeit und Prägung örtlicher Gemeinschaften durch Erwerbsarbeit gewinnen.
Helene Bauer (1871 – 1942)
Zu Leben und Werk von Helene Bauer (geb. Gumplowicz) gibt es bislang kaum Literatur, obwohl sie, wie Dunja Larise im vorliegenden Band in einer lesenswerten biografisch-werkgeschichtliche Einführung zeigt, sowohl mit ihrem persönlichen Agieren wie auch ihren wissenschaftlichen Arbeiten einen wichtigen Beitrag zur Entfaltung des Austromarxismus im Wien der Zwischenkriegszeit geleistet hat. Den zweiten Teil des Bandes bilden insgesamt elf Texte von Helene Bauer selbst. Eingangs hält Larise fest, Bauers Texte hätten die ihrer Kollegen, sowohl aus dem liberalen wie dem konservativen Lager, in ihrer analytischen Tiefe oft übertroffen und nicht nur den Austromarxisten damals, sondern auch der heutigen Gesellschaft viele relevante Fragen und inspirierende Antworten geboten.
Trotz ihrer Heirat mit dem Anwalt Max Landau im Jahr 1895 hatte Helene Gumplowicz ihr Studium der Staats- und Wirtschaftswissenschaften in Zürich fortgesetzt und mit einer Promotion über die Entwicklung des Warenhandels in Österreich abgeschlossen. Schon während ihrer Ehe mit Max Landau entwickelte sich ihre Wohnung in Wien zu einem intellektuellen Treffpunkt, wo unter anderem Karl Renner, Rudolf Hilferding und Otto Bauer ein- und ausgingen. Als Max Landau 1911 entschied, seine Kanzlei ins galizische Lemberg zu verlegen, ließ Helene sich scheiden. Sie nahm eine Beziehung mit dem zehn Jahre jüngeren Otto Bauer auf, damals bereits einer der aufstrebenden Köpfe der österreichischen Sozialdemokratie. Die weitere Darstellung zeigt, wie eng Helene mit den Debatten im Austromarxismus verbunden war. Die Vorstellung, ein neues Wirtschaftssystem gewissermaßen von Oben dekretieren zu können, lehnte sie ab. Entwickeln könne es sich notwendigerweise nur aus den Kämpfen des Proletariats heraus – auch mit Blick auf die internationalen Verknüpfungen und ökonomischen Handlungsbedingungen. In einem Artikel zum Thema „Imperialismus“ aus dem Jahr 1927 setzt sie sich kritisch mit der u.a. von Rosa Luxemburg vertretenen Position, der Imperialismus entstehe notwendig aus dem Kapitalismus, auseinander: „Der Kapitalismus im Bündnis mit feudalen Mächten kann kriegerisch sein, will am Krieg und durch den Krieg seine Profitrate erhöhen. Er kann jedoch auch friedlich sein und statt unter Waffendeckung mit staatlicher Kreditgarantie für Geschäfte mit Ländern, deren Rechtszustand ihm Misstrauen einflößt, neue Absatzmärkte gewinnen, kann durch internationale Kartelle, Quotenverteilung, die Sicherung der Profite erstreben.“ Und in einem weiteren Artikel aus demselben Jahr, „Akkumulation, Kredit, Imperialismus“ heißt es: „Gewiss, der Faschismus ist ebenso sozial bedingt, wie die Dynastie im alten Deutschland und in der Donaumonarchie, aber mit dem Expansionsdrang des Kapitals lässt sich weder der Weltbrand der Jahre 1914 bis 1918, noch die Unruhe und die Gärung der Nachkriegszeit erklären. Der Zusammenbruch der europäischen Kolonialherrschaft würde die Weltwirtschaft nicht einengen, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine viel höhere Stufe der Entfaltung bringen, denn die politischen Fesseln, die sicher in einer früheren Epoche ein wirksames, wenn auch gemein-brutales Mittel waren, die Tropen in den Weltverkehr hineinzuzwingen, behindern jetzt bloß die wirtschaftliche Entwicklung der beherrschten Gebiete.“
Nach dem Februaraufstand 1934 mussten Helene und Otto Bauer aus Österreich fliehen; zunächst nach Brünn, 1938 nach Paris, wo Otto Bauer verstarb. Helene Bauer gelangte über Stationen in Schweden und Russland in die USA nach Berkeley. Dort starb sie 1941. Dunja Larise hat eine lesenswerte Erinnerung an Helene Bauer vorgelegt. Durchaus ausbaufähig wäre eine breitere Einordnung ihres Werks in die austromarxistische Theoriebildung insgesamt gewesen. Zudem ist die Darstellung mit Blick auf die österreichische Parteigeschichte an einigen Stellen nicht immer ganz exakt.
Anna Siemsen (1882 – 1951)
Spannend ist auch ein Blick in die nun erstmals vorliegenden Lebenserinnerungen der sozialdemokratischen Pädagogin Anna Siemsen. Nach Tätigkeiten in Düsseldorf und Berlin wirkte sie in der Weimarer Republik insbesondere als Schulreformerin und Professorin in Thüringen. Von 1928 bis 1930 für die SPD Mitglied des Reichstags, zwang die NS-Diktatur sie ins Exil in die Schweiz. Ein wirklicher beruflicher Neustart nach der Rückkehr aus dem Exil gelang ihr nicht. Sie starb 1951 in Hamburg, wo sie zumindest Lehraufträge an der dortigen Universität erhalten hatte.
Enthalten sind in dem Band neben ihren autobiographischen Skizzen auch einige werkanalytische Texte, die u.a. auf Vorträge von Hannelore Faulstich-Wieland und Christine Meyer zurückgehen. Zudem sind Auszüge aus drei programmatischen Texten von Anna Siemsen enthalten. In ihrem autobiografischen Text schildert Siemsen eindrücklich ihre eigenen Erfahrungen als Aktivistin im Düsseldorf der ersten Revolutionsmonate nach 1918. Die Soldatenräte schildert sie als fleißig und bemüht, zugleich hätten sie aber auch nicht gewusst, was sie mit der gewissermaßen von der Straße aufgehobenen Macht hätten anfangen sollten. Sie hätten rührig daran gearbeitet, die Verwaltung in Gang zu halten und die Ernährungslage zu sichern. In die USPD sei sie 1919 erst eingetreten, als sie begriffen habe, wie tief der Riss zwischen den Parteien war, „und als die sozialdemokratische Regierung im März 1919 das erste Freikorps gegen die Arbeiter nach Düsseldorf schickte (…).“ Nachdem die Arbeiterschaft die neu gewonnene Macht nicht genutzt habe, habe der Gegenangriff des Bürgertums begonnen. Vor den Kämpfen nach dem Kapp-Putsch sei das Ruhrgebiet das vielleicht aktivste, fortgeschrittenste Gebiet gewesen. Dies sei nun beendet gewesen, nur die Treuesten und Opferfreudigsten seien der Bewegung erhalten geblieben. Die reaktionären Kräfte seien demgegenüber nunmehr sicher gewesen, dass die Zeit für sie arbeiten würde. Auch die preußische Verwaltung sei letztlich durch die alten Eliten eingehegt worden. Von den preußischen Ministern habe nur Otto Braun das Format gehabt, dagegen vorzugehen. Zudem habe man nichts gegen die großen Agrarmonopole und für eine Teilung landwirtschaftlichen Besitzes getan. Die Funktionäre hätten vor 1933 das Errungen erhalten wollen und nicht gesehen, dass es nur ein Vorwärts oder ein heilloses Abwärts gegeben hätte: „Die Angst vor der Macht, die Furcht vor den Kräften ihrer eigenen Anhänger, die sie einmal entfesselt sich nicht zu führen getrauten, ließ sie immer das hemmende Bündnis mit den bürgerlichen Parteien suchen, deren wesenhafte Gegnerschaft sie genau kannten.“
Wichtig sind auch die drei Texte von Siemsen selbst, da hier ihre in der Lebensskizze kaum thematisierten pädagogisch-schulpolitischen Vorstellungen angedeutet werden. So hält sie in „Ziele und Wege der öffentlichen Erziehung“ aus dem Jahr 1929 fest, die berufliche Erziehung sei nicht vollkommen, wenn sie nicht zugleich staatsbürgerliche Erziehung sei. Zudem müssten Kenntnisse der wirtschaftlichen und technischen Zusammenhänge vorhanden sein. Und im Text „Zur sozialen Funktion der Berufsschule“ aus dem Jahr 1932 heißt es, jede Schularbeit sei auch gesellschaftlich-soziale und damit politische Arbeit. Insgesamt bietet der Band so nicht nur eine Lebensskizze einer beeindruckenden Persönlichkeit der Arbeiter*innenbewegung, sondern liefert auch Denkanstöße zur historisch-politischen Einordnung der Weimarer Republik sowie zu bis heute spannenden Elementen einer sozialistischen Schul- und Bildungspolitik.
Frauen in der Unabhängigen Sozialdemokratie
Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) besaß ihre politische Bedeutung nur gegen Ende der Kaiserzeit und in den unmittelbaren Monaten nach der Revolution 1918 und 1919. Nach der Abspaltung des linken Flügels 1920 wurde der Einfluss schnell geringer, nach der Vereinigung mit der Mehrheitssozialdemokratie 1922 bestand nur noch ein kleiner Zusammenhang als USPD fort. Hartfrid Krause, Autor des Standardwerks zur Geschichte der Partei, widmet sich im vorliegenden Band den Frauen der USPD. Besonders interessant ist dabei der einleitende Überblicksartikel, in dem Krause vor allem den Anteil der Frauen am Funktionärskörper der USPD zu erheben sucht. Von den namentlich erfassten USPD-Mitgliedern seien etwa 10 % Frauen gewesen. Dies entspricht auch in etwa der Verteilung der Delegierten auf Parteitagen. Interessant ist die Beobachtung, dass bei der Parteispaltung deutlich mehr jüngere als ältere Genossinnen den Weg zur KPD mitmachten – offensichtlich waren – ähnlich wie bei den männlichen Genossen – die älteren Genossinnen noch stärker in der gemeinsamen Vorstellungswelt der Vorkriegssozialdemokratie verankert.
Dass die USPD in der frühen Weimarer Republik einen erheblichen Teil der inhaltlich bedeutsamen Akteure der Sozialdemokratie aufwies, zeigt auch ein Blick auf die Biografien der Frauen. Der Hauptteil des Bandes enthält Kurzbiographien von etwas mehr als 100 weiblichen USPD-Mitgliedern, die überwiegend auf dem Lexikon zum deutschen Kommunismus von Hermann Weber sowie auf der Darstellung bei Wikipedia basieren. Der abschließende Teil enthält einen tabellarischen Überblick über die Frauen der USPD in Führungspositionen samt interessanter Details wie etwa dem ausgeübten Beruf.
Mit dem vorliegenden Band leistet Krause keinen komplett neuen Beitrag zur Geschichte der USPD, aber doch einen guten Beitrag dazu, die Rolle von Frauen in der USPD sichtbar zu machen und damit zu weiterer Forschung und Beachtung aufzurufen.