Heft 263 – 02/2025
Perspektiven der Wirtschaftsdemokratie
#analyse #spw

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Franziska Wiethold hat Soziologie und Politik studiert und ist seit 1972 Gewerkschaftssekretärin, zuletzt bei Ver.di, gewesen. Sie ist Vorstandsmitglied in der AG Alternative Wirtschaftspolitik („Memo-Gruppe“) und seit 2006 Rentnerin.
von Franziska Wiethold
Beitrag für das Symposion zum 100. Geburtstag von Peter von Oertzen am 15.11.2024 in Hannover
Ich beziehe mich bei meinen Überlegungen zur Wirtschaftsdemokratie auf das Grundkonzept von Peter von Oertzen, in dem Betriebsdemokratie verbunden werden soll mit Privat- und Gemeineigentum, mit Wettbewerb und Planung, mit Markt und Staat, mit öffentlichen Rahmenbedingungen und staatlichen Eingriffen.
1. Trotz (oder wegen?) der aktuellen Phase zunehmender Unsicherheiten und Umbrüche und dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien gibt es m. E. Ansatzpunkte für wirtschaftsdemokratische Bewegungen. Ansatzpunkte bieten die Brüche im aktuellen kapitalistischen System, an die wir anknüpfen können, statt sie Reaktionären mit ihrer Flucht in die scheinbar bessere Vergangenheit zu überlassen:
- Die Delegitimierung neoliberaler Ideologien, die ihre Versprechungen auf Wohlstand, individuelle Entfaltung, Aufstiegsmöglichkeiten fundamental gebrochen und damit Enttäuschungen produziert haben.
- Die unter neoliberaler Unternehmenssteuerung noch einmal gewachsene Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Beschäftigten auf gute Arbeit und entsprechende Teilhabe einerseits und der Profitherrschaft andererseits.
- Die wachsende Kritik an den destruktiven Kräften eines kapitalistischen Regulierungssystems, das durch den Abbau des Staates selbst diejenigen staatlichen Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Ökologie nicht mehr zulässt, die für das Funktionieren des gesamten Systems nötig sind.
- Die Bewältigung der ökologischen Transformation, die entgegen neoliberaler Ideologie einen sozialen Ausgleich der Transformationsfolgen erfordert.
Es wird wieder mehr über Wirtschaftsdemokratie diskutiert, aber m. E. zu technokratisch, zu fixiert auf Institutionen. Individuen mit ihren Ambivalenzen und Bedürfnissen spielen eine zu geringe Rolle. Zudem wird vor allem bei Jüngeren zu wenig die komplizierte Historie wirtschaftsdemokratischer Ansätze mit ihren Erfolgen und Misserfolgen aufgearbeitet. Auf diese Schwächen möchte ich eingehen. Ich konzentriere mich dabei auf das Zusammenspiel von Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen für einen Markt herstellen und deren Einbettung in gesellschaftliche Planung. Weite Teile der Daseinsvorsorge und staatlicher Leistungen müssen aber dem Markt entzogen werden. Deren demokratische Kontrolle behandle ich hier nicht.
2. Wirtschaftsdemokratie will anstelle der Profitinteressen von Kapitalbesitzern gesellschaftliche Interessen verwirklichen. Doch wie entstehen gesellschaftliche Interessen? Anstelle älterer Vorstellungen, dass gesellschaftliche Interessen durch „das Proletariat“ oder Arbeiterparteien per se repräsentiert würden, gehen alle neueren Konzepte von einer Vielfalt unterschiedlicher Sichtweisen oder Interessen aus – nicht nur zwischen verschiedenen Gruppen, sondern auch zwischen verschiedenen Lebensbereichen (KonsumentInnen versus Produzierende usw.), die durch deliberative Prozesse zueinander finden müssen. Allerdings unterschätzen viele Konzepte die Konfliktträchtigkeit dieses Prozesses. Sie unterstellen bei den Menschen ein eher originäres Solidaritätsbedürfnis, das durch die Abschaffung kapitalistischen Konkurrenzdenkens sich endlich verwirklichen könne. Menschen sind zwar im Gegensatz zum Konstrukt des homo oeconomicus soziale Wesen. Sie beziehen sich deshalb auf Gesellschaft, wollen sich aber dort auch als Individuen verorten und dabei einen „gerechten“ Platz auch im Verhältnis zu Anderen finden. Gerechtigkeit unterstellt nicht unbedingt Gleichheit oder Gleichwertigkeit. Gerechtigkeit ist eher ein relationaler Begriff – man will in seinem spezifischen Wert gerecht gegenüber Anderen behandelt werden und sich dadurch auch abgrenzen. Auch die Geschichte der Arbeiterbewegung – vor allem der Gewerkschaften – zeigt das. Abhängig Beschäftigte organisierten sich zunächst in spezifischen Gruppen nach bestimmten Berufen und/oder nach Region (häufig Handwerker oder Facharbeiter), die nicht nur gegen das Kapital kämpften, sondern auch ihren Status gegenüber andere abhängig Beschäftigten (andere Professionen, Ungelernte, Frauen, Migranten) verteidigen wollten. Solidarität beschränkte sich also zunächst auf diese Gruppen, die sich häufig auch als höherwertiger bei der Herstellung gesellschaftlichen Reichtums definierten. Erst durch gemeinsame betriebliche/regionale Auseinandersetzungen gegen Kapitalisten und durch politische Lernprozesse bildeten sich größere Organisationen, universalisierten sich die gemeinsamen Ziele (siehe B. Silver). Dieser Lernprozess muss wahrscheinlich immer wieder durchlaufen werden. Er ist konfliktreich, weil er immer wieder tradierte Wertvorstellungen und das Bedürfnis nach einem besonderen Status in Frage stellt. Die innergewerkschaftliche Auseinandersetzung um diskriminierungsfreie Tarifverträge der letzten Jahrzehnte zeigte z.B., wie stark Männer sich mit ihren Wertvorstellungen als Familienernährer identifizierten, wie schwer es ihnen fiel, diese Wertvorstellung zu überwinden, aber dass es bei einer solidarischen, nicht abwertenden Diskussion möglich war.
In der Arbeiterbewegung führten der Berufsstolz und der Anspruch, dass abhängig Beschäftigte die eigentlichen Produzenten gesellschaftlichen Reichtums sind, also nicht nur zur Abgrenzung gegen das Kapital, sondern auch gegenüber denjenigen, die keine „respektable“ Position als Arbeiter und damit Produzenten gesellschaftlichen Reichtums gefunden hatten. Ein besonders unrühmliches Beispiel für eine solche Abgrenzung nach „unten“ findet man im Kommunistischen Manifest – also aus höchstem Munde: „Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die proletarische Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.“ Eine Abwertung von Menschen, die m. E. dem von uns so geschätzten letzten Satz des Manifestes über das kommunistische Ziel widerspricht: „…eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die Entwicklung aller ist.“ Die aktuell wieder erstarkte Abgrenzung von der „leistungsbereiten Mitte“ gegenüber Bürgergeld-EmpfängerInnen ist also nicht nur von Neoliberalen aufgezwungen!
Bei der Auseinandersetzung, was denn gesellschaftliche Interessen sein könnten, werden also nicht nur unterschiedliche Wertvorstellungen über den jeweiligen „gerechten Anteil“ eine Rolle spielen. Es wird auch Zielkonflikte zwischen gleichwertigen Interessen geben, die diskutiert und entschieden werden müssen. Ota Sik benannte bereits 1979 in seinem Buch „Humane Wirtschaftsdemokratie“ den Zielkonflikt zwischen schneller Wohlstandssteigerung auch durch Externalisierung von Kosten einerseits und nachhaltigem Wachstum andererseits, der auch unter wirtschaftsdemokratischen Bedingungen existieren würde und der in jeder Wirtschaftsplanung offengelegt werden müsse. Auch dieser Zielkonflikt ist also nicht nur kapitalistischem Profitstreben inhärent, wie der Umgang mancher sozialistischer linker Regime mit der Nachhaltigkeit zeigte.
Wirtschaftsdemokratie braucht also Räume, wo unterschiedliche Ziele, Wert- und Statusvorstellungen auch im Konflikt miteinander diskutiert werden können.
3. Demokratisch verwaltete Unternehmen setzen erhebliche Produktivkräfte frei. Denn Beschäftigte können endlich ihr Wissen und ihr Arbeitsengagement umfassend einbringen. Diese Identifikation mit dem Arbeitsprodukt wirkt sich zwiespältig aus: der Wunsch nach einem guten, auch gesellschaftlich nützlichen Arbeitsprodukt kann eher verwirklicht werden und den Wohlstand gegenüber einer profitgetriebenen Verschleißproduktion erheblich steigern. Andererseits wird damit die Identifikation der Beschäftigten mit ihrem Produkt und ihrem Unternehmen eher noch wachsen und damit eine spezifische, auf den Betrieb konzentrierte Sichtweise, die sich auch gegen Andere abgrenzen will. Vor allem unter Markt- und damit Konkurrenzbedingungen kann das Betriebsegoismen, die Nutzung von Marktmacht und die Externalisierung von Kosten befördern.
Auch das Konzept von Commons – ob in Form von Genossenschaften oder ähnlichem – entgeht dieser Gefahr nicht. Die Gemeinschaftsbildung in Commons setzt viel Solidarität frei – eine wichtige Grundlage für demokratische Entscheidungsprozesse. Aber sie kann auch zu einem Gemeinschaftsgedanken führen, der sich von Anderen abgrenzt, der durch gemeinsame Normen auch einen gewissen Konformitätsdruck mit sich bringen kann, interne Herrschaftsstrukturen nicht wahrhaben will und gleichzeitig die interne Kontrolle vernachlässigen kann, die in einer Solidargemeinschaft gegenüber „Seinesgleichen“ schwer fällt (siehe das Scheitern mancher Genossenschaften und der Gemeinwirtschaft der Gewerkschaften in den 80er Jahren). Die von Elinor Ostrom zurecht positiv gewürdigte Allmende-Struktur hatte einen Preis: die relative Geschlossenheit dieser Organisationsform gegenüber Anderen und die starke soziale Kontrolle durch gemeinsame Normen, die auch einengen konnten. Experimente, die häufig auch an ihren überhöhten Anforderungen an Gemeinschaft scheiterten (wie manche Kibbuzim) sollten kritisch aufgearbeitet werden. Commons, die für einen überschaubaren Markt mit hoher Übereinstimmung zwischen Genossenschaftsmitgliedern und NutzerInnen des Commons-Angebotes arbeiten (z.B. Wohnungsbau-Genossenschaften), waren und sind erfolgreich. Schwieriger wird es, wenn sie für einen überregionalen Markt arbeiten und sich damit einer entsprechenden Konkurrenz aussetzen.
Betriebsdemokratie unter Marktbedingungen braucht also eine gesellschaftliche Regulierung, die Grenzen und Regeln setzt und vor allem Betriebsegoismus einschränkt. Klaus Dörre schlägt dafür u.a. vor, dass Unternehmen von vornherein in ihrer Unternehmensverfassung zur Einhaltung gesellschaftlicher Ziele verpflichtet werden – ob in Bezug auf ökologische Nachhaltigkeit oder soziale Auswirkungen ihrer globalen Marktbeziehungen. Er bezieht sich hier auch auf die 17 Sustainable Development Goals der UNO von 2015. Das deutsche (und demnächst europäische) Lieferkettengesetz, das noch unzureichend Unternehmen für die Einhaltung sozialer Mindestnormen auch bei ihren Lieferanten zwingt, ist dabei ein erster Ansatzpunkt. Denn Wirtschaftsdemokratie erfordert, dass Unternehmen auch für das verantwortlich gemacht werden, was sie entlang ihrer Lieferketten in Bezug auf die Natur und die sozialen Rechte Anderer anrichten. Belegschaften in demokratisch geführten Betrieben müssen deshalb mit diesen Auswirkungen konfrontiert werden und darüber reflektieren, welche Auswirkungen ihre Produktion hat. Das schränkt die Gefahr des Betriebsegoismus ein. Hier sind auch aktuell Ansatzpunkte zu finden. Schon jetzt organisieren Gewerkschaften internationale Solidarität, indem z.B. Beschäftigte von Textil-Einzelhandelsunternehmen sich damit auseinandersetzen, unter welchen Bedingungen die T-Shirts, die in ihrem Laden verkauft werden, in Bangladesch, Indien, China usw. hergestellt werden.
4. Gesellschaftliche Regulierung erfordert Gremien (Räte) auf der Meso-, Branchen- und Makroebene, in denen sich mehrere Interessen widerspiegeln – also neben Interessen der Beschäftigten ökologische Interessen, Geschlechterinteressen usw. Diese Gremien sollen – so der Anspruch – sich vom Korporatismus früherer Zeiten abgrenzen. Dort bildeten Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und Staat „tripartistische“ Bündnisse, die sich häufig gegen Öffentlichkeit und anderen Gruppen abgrenzten und z.T. Kompromisse zulasten Dritter abschlossen. Vor dieser Korporatismus-Gefahr soll – so u.a. Dörre – die stärkere Einbindung der „Zivilgesellschaft“ schützen (ein sehr ungenauer, aber positiv aufgeladener Begriff) – also NGOs, denen mehr Staatsferne und mehr Nähe zu neueren sozialen Bewegungen unterstellt wird. Aber können diese Organisationen diesem hohen Anspruch gerecht werden? Wen repräsentieren sie, wer legitimiert sie? Und wieso sind sie bei dauerhafter Einbindung in Gremien (was inzwischen häufig stattfindet) vor Korporatismus gescheut? Alle Erfahrungen mit einer dauerhaften Zusammenarbeit verschiedener Organisationen in Gremien belegen, dass sich auch hier korporatistische Strukturen entwickeln können, wenn VertreterInnen immer wieder Kompromisse finden müssen. Verbände und Verbandsstrukturen haben eine Eigendynamik, die in der Linken zu wenig diskutiert wird. Dieser Abschottung muss entgegengewirkt werden, indem die Planungsprozesse solcher Gremien immer wieder – auch mit der Benennung von Alternativen und Unsicherheiten – mit den Betroffenen rückgekoppelt werden müssen, unabhängig davon, ob diese Gremien mit traditionellen Organisationen oder „Zivilgesellschaft“ besetzt sind.
Eingriffe in Marktprozesse werden häufig davon beeinflusst, was gesellschaftlich als „systemrelevant“ angesehen wird und deshalb besonders gefördert/geschützt werden muss. In Deutschland stand lange Zeit die Exportindustrie an erster Stelle der Rangskala systemrelevanter Branchen und Arbeitsplätze (und damit die Arbeitsplätze männlicher Industriearbeiter) – auch in den Gewerkschaften und linken Bewegungen. Das hat sich etwas verschoben – auch der Gesundheits- und Erziehungsbereich wird inzwischen stärker als systemrelevant angesehen. Trotzdem müssen solche Werteskalen bewusst gemacht und kritisch diskutiert werden. Die „Aufmerksamkeits-Ökonomie“ reagiert am ehesten auf Konflikte in „systemrelevanten“ Bereichen oder von gut organisierten Gruppen, mit denen sich in der Öffentlichkeit leichter mobilisieren lässt. Auch linke Bewegungen sind davor nicht befreit.
Gesellschaftliche Regulierung braucht außerdem Selbstbeschränkung. Die Gremien müssen bei ihren Planungen die Unwägbarkeiten von steuernden Eingriffen in Marktprozesse mit berücksichtigen. Sie müssen deshalb Unsicherheiten mit reflektieren und zu Korrekturen bereit sein. Sie müssen sich außerdem in dem beschränken, was sie an generellen Normen und Regeln vorgeben wollen und wo sie sich zugunsten von individuellen Spielräumen und Vielfalt zurückhalten sollten. Das Verhältnis von gemeinschaftlichen Regeln/Normen und individueller Vielfalt ist in der Arbeiterbewegung nur unzureichend diskutiert. Naphtali z.B. hat in seinem Konzept der Wirtschaftsdemokratie große Hoffnungen auf die Konsumgenossenschaften gesetzt, die perspektivisch die Mehrheit der Bevölkerung versorgen sollten – aber nicht die oberen Zehntausend mit ihren Luxusbedürfnissen und auch nicht „die nicht konsumgenossenschaftsfähigen Schichten… die untersten Schichten des Proletariats, die an der Grenze des Lumpenproletariats stehen und in die Borgwirtschaft fest verstrickt sind“. (Naphtali, S. 93). Dieter Moor hat – ob erfunden oder real, bleibt offen – den Konsumgenossenschaften das Motto zugeschrieben: „Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht!“ Als Ulrike Herrmann in ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ die britische Kriegswirtschaft mit den damals notwendigen Einschränkungen und Normierungen des Konsums als mögliches Beispiel für eine jetzt ökologisch notwendige Degrowth-Politik zitierte, fand das durchaus Anhänger.
Gesellschaftliche Normen sind notwendig, gemeinschaftliches Handeln eine notwendige Voraussetzung jeder Wirtschaftsdemokratie. Aber es muss selbstkritisch hinterfragt werden, wie notwendig sie jeweils sind. Man muss der Versuchung entgehen, Normen zulasten individueller Spielräume zu setzen, die mehr einer normativen Mehrheitsmeinung als einer ökonomisch-ökologischen Notwendigkeit entspringen.
4. In den bisherigen Konzepten zur Wirtschaftsdemokratie ist nicht ausreichend bearbeitet worden, wie die Bevölkerung in die Diskussionen und Entscheidungen wirtschaftsdemokratischer Institutionen einbezogen werden kann. Wenn BürgerInnen in der Sphäre der Erwerbsarbeit nicht mehr zu abhängig Beschäftigten – der Kapitalmacht unterworfen – degradiert werden, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür geschaffen, dass Menschen sich als wirkmächtig empfinden. Aber das dürfte nicht reichen. Die bisherigen Erfahrungen und neueren Ansätze bei der Beteiligung sollten auch einbezogen werden. Dass traditionelle Organisationen häufig die Bevölkerung nur selektiv abbilden und außerdem ihre Bindekraft eingebüßt haben, ist inzwischen bekannt. Runde Tische, Räte aller Art werden deshalb sehr viel breiter zusammengesetzt als in tripartistischen Zeiten. Aber auch sie bilden die Bevölkerung nur selektiv ab. Inzwischen wird immer häufiger mit Bürgerräten experimentiert, die – durch das Zufallsprinzip ausgewählt – die gesamte Bevölkerung repräsentieren. Das ist ein wesentlicher Schritt, auch diejenigen zu beteiligen, die sich nicht organisieren und sich nicht als entscheidungsmächtig empfinden (siehe auch die Vorschläge von Steffen Mau). Aber es wird zu wenig diskutiert, wie die Arbeitsergebnisse dieser Gremien mit der Bevölkerung diskutiert werden können. Das erfordert neue Beteiligungsformen auch mit entsprechenden zeitlichen Ressourcen. Es erfordert, bei anstehenden Umbrüchen (die auch in einer Wirtschaftsdemokratie unumgänglich sind) Betroffene einzubeziehen und ihre Wirkmächtigkeit zu stärken. Der Kohlekompromiss, der in der Kohlekommission 2019 Rahmenbedingungen für den Ausstieg aus der Braunkohle gesetzt hat, hatte in Bezug auf soziale Absicherung und Förderung neuer regionaler Wirtschaftsstrukturen beachtliche Ergebnisse. Aber ist es gelungen, die Betroffenen mit ihrer Zukunftsangst genügend einzubeziehen? Wahrscheinlich nicht – sonst hätte die AfD in diesen Regionen nicht so punkten können. Bei der anstehenden ökologischen Transformation muss also das Ohnmachtsgefühl vieler betroffener Beschäftigter abgebaut werden. Sie müssen sozial abgesichert werden. Sie müssen auch Alternativen für ihre Zukunft entwickeln können, um sich nicht nur „abgewickelt“ zu fühlen. Die IG Metall fordert deshalb, dass Belegschaften während der Arbeitszeit in Zukunftswerkstätten u.ä. darüber diskutieren können, welche Alternativen zur bisherig umweltschädlichen Produktion vorhanden sind. Für die gesamtwirtschaftliche Planung hat Ota Sik die Idee entwickelt, dass Parteien in ihren Planungsvorstellungen Alternativen, Zielkonflikte, Unsicherheiten, mitbenennen und zur Abstimmung stellen müssen, damit WählerInnen sich damit auseinandersetzen können und damit keine Partei den Anspruch erheben kann, ein in sich geschlossenes, risikoloses und alternativloses Konzept zu haben. In diese Richtung muss weiter diskutiert und erprobt werden. Und es müssen Einstiegsprojekte entwickelt werden, die an die anfangs geschilderten Brüche ansetzen.
Literatur
Dörre, Klaus, Die Utopie des Sozialismus, Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin
Hermann, Ulrike, Das Ende des Kapitalismus, Köln 2022
Mau, Steffen, Ungleich vereint – warum der Osten anders bleibt, Berlin 2024
Naphtali Fritz, Wirtschaftsdemokratie – Ihr Wesen, Weg und Ziel, Frankfurt am Main 1966
Oertzen, P., Wirtschaftsdemokratie – Umrisse eines Konzepts in: Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, Offizin-Verlag 2004
Ostrom, Elinor, Die Verfassung der Allmende Tübingen 1999
Silver, Beverly, Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870,Hamburg 2005
Sik, Ota, Humane Wirtschaftsdemokratie – ein dritter Weg, Hamburg 1979