Heft 263 – 02/2025

BRICS – Konsequenz der neuen Multipolarität

#analyse #spw

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Joachim Schuster ist promovierter Politikwissenschaftler. Er war Mitglied im Europäischen Parlament und der Bremischen Bürgerschaft. Seit 2024 ist er Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbands im Land Bremen.

VON Joachim Schuster

Der Zusammenschluss wichtiger Staaten des globalen Südens in der sogenannten BRICS-Gruppe weckt manche Befürchtungen. So kommt der Ökonom Velasco im IPG-Journal zu der Aussage: „Der Hauptzweck der BRICS-Gruppe besteht heute darin, Russland und China als Führer des sogenannten (und unzutreffend benannten) Globalen Südens darzustellen. Passend zu diesem Ziel hatte das Treffen in Kasan einen entsprechend G7-feindlichen Schwerpunkt: den mächtigen US-Dollar vom Thron zu stoßen.“ (Velasco 2024) Anschließend erklärt er, warum diese Ziele nicht realisierbar seien, da aktuell nur der US-Dollar die notwendigen Eigenschaften einer Weltwährung aufweist. Auch in vielen anderen Beiträgen wird in unterschiedlicher Intensität die Frage diskutiert, inwieweit die BRICS-Gruppe ein Gegengewicht zum Westen bildet. Im Ergebnis kommen die Beiträge häufig zu dem Ergebnis, dass die Heterogenität von BRICS viel zu groß sei, um dieses Ziel ernsthaft zu erreichen. Derartige Analysen sind jedoch nur begrenzt hilfreich. Es ergibt wenig Sinn, erst eine angenommene Bedrohung an die Wand zu malen und dann beschwichtigend zu analysieren, dass es wohl nicht so schlimm kommen werde. Geeigneter wäre eine vorurteilsfreie Betrachtung der BRICS-Gruppe.

Es ist ohne Zweifel: die BRICS-Gruppe ist ein Zusammenschluss aus höchst unterschiedlichen Staaten, die sehr unterschiedliche Interessen haben und zum Teil sogar partiell verfeindet sind. Konsequenterweise verzichtet die 2009 von Brasilien, Russland, Indien und China gegründete BRIC-Gruppe, die 2010 um Südafrika (BRICS) und 2024 um Iran, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate sowie 2025 um Indonesien erweitert wurde, von vorneherein auf Integrationsbemühungen, wie sie etwa für die Europäische Union charakteristisch sind. Der Zusammenschluss der BRICS-Staaten fußt nicht auf einer gemeinsamen Charta oder Ähnlichem, sondern wirkt als politischer Zusammenschluss, der auf jährlichen Gipfeltreffen sich zu geopolitischen und wirtschaftlichen Fragen in gemeinsamen Gipfelerklärungen äußert. Politisches Gewicht entfalten diese Gipfeltreffen, weil die Staaten der BRICS-Gruppe rund die Hälfte der Weltbevölkerung und 35% des globalen Bruttoinlandsproduktes repräsentieren.

Die Gemeinsamkeiten zwischen den Staaten sind sehr begrenzt, sie haben sehr unterschiedlichen politischen Verfassungen und unterschiedliches ökonomisches Gewicht. Ebenso weisen ihre Beziehungen etwa zu den USA oder den europäischen Staaten große Unterschiede auf. Einige Staaten haben eine eher anti-westliche Orientierung, andere verfügen über bedeutenden Kooperationen mit den G7-Staaten. Eine Gemeinsamkeit zwischen den Gründerstaaten besteht allerdings darin, dass sie jeweils „als regionale Großmacht über eine gewisse regionale Einflusszone“ (Dudnik, Bathon, 2024, S.13) verfügten.

Die BRICS-Gruppe als Phänomen der neuen Multipolarität

Weswegen derart unterschiedliche Staaten trotz ihrer Differenzen in der Lage sind, dauerhaft zu kooperieren, wird erst vor dem Hintergrund der tiefgreifenden und irreversiblen geopolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte verständlich. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre und in der Folge der Transformation der „realsozialistischen“ Staaten in „kapitalistische“ Staaten schien sich zunächst eine unipolare Welt unter der unangefochtenen Führung und Hegemonie der USA herauszubilden. Der amerikanische Historiker Fukuyama rief Anfang der 90er Jahre in dieser Konstellation sogar das Ende der Geschichte aus. Gemeint war damit das Ende einer historischen Abfolge unterschiedlicher Gesellschaftsformationen, weil sich die politische Demokratie in Verbindung mit einer kapitalistischen Marktwirtschaft als überlegen durchgesetzt habe und damit zum nachzuahmenden Vorbild aller anderen Staaten werden würde.

Spätestens mit dem Zusammenbruch der internationalen Finanzmärkte 2008/2009 erodiert aber die globale Hegemonie der USA, wobei insbesondere China als aufstrebende Weltmacht dem US-amerikanischen Entwicklungsmodell einer neoliberal geprägten Globalisierung systematisch eine Alternative entgegenzusetzen versucht. Die Auseinandersetzungsfelder sind vielfältig. Militärische Drohszenarien – auch zwischen den USA und China – erleben eine Renaissance. Bisher prägende internationale, politische und wirtschaftliche Institutionen wie etwa die WHO, der IWF oder die UN haben an Regulierungskraft eingebüßt. Im Ergebnis ist eine multipolare Ordnung entstanden, in der sich aber bisher keine neue stabile geopolitische Beziehungsstruktur zwischen den Staaten herausgebildet hat. Ebenso wenig konnten neue multipolare Institutionen etabliert werden, die unverzichtbare Regulierungsaufgaben übernehmen.

Die neue Multipolarität berührt nicht nur das Verhältnis der Staaten des globalen Südens zum bisher dominanten Norden. Sie verändert auch die Beziehungen innerhalb der Staatengruppen. Die US-Politik unter dem aktuellen Präsidenten Donald Trump zeigt eindrucksvoll, wie groß mittlerweile die Interessenunterschiede etwa zwischen den G7-Staaten sind und wie gering deren Fähigkeit ausgeprägt ist, gemeinsam geopolitische und geowirtschaftliche Interessen zu definieren.

Trotz vieler möglicher Differenzen der Staaten des globalen Südens gibt es zwei wesentliche Gemeinsamkeiten, die Kooperationen wie in der BRICS-Gruppe nahelegen. Die globale politische Dominanz der westlichen Staaten, die in den letzten Jahrzehnten – auch nach der Kolonialzeit – häufig auch militärisch durchgesetzt wurde, behindert die Selbstbestimmung vieler Staaten des globalen Südens erheblich. Zudem beeinträchtigt die bestehende Verfassung der Weltwirtschaft deren ökonomische Entwicklungsfähigkeiten bzw. weist ihnen ökonomisch den Platz eines Zulieferers zu den übermächtigen westlichen Wirtschaften zu. Von daher gibt es ein gemeinsames Interesse, die Spielregeln der Weltwirtschaft fundamental zu verändern, selbst wenn nicht immer eindeutig bestimmbar ist, was an die Stelle der jetzigen Regeln und Institutionen treten soll.

Die heutige Multipolarität ist damit aktuell eine instabile Ordnung, in der in vielfältigen politischen, ökonomischen aber auch militärischen Auseinandersetzungen neue Machtverhältnisse etabliert werden. Diese Auseinandersetzungen werden noch durch den rasant voranschreitenden Klimawandel verschärft, der wiederum die Lebens- und Entwicklungsperspektiven in den unterschiedlichen Staaten massiv beeinflusst und zum Teil bedroht. Der Klimawandel selbst wird Ausgangspunkt vieler internationaler Konflikte.

Weltwirtschaftliche Reformen im Zentrum

BRICS hat in dieser Konstellation eine bemerkenswerte Stärke entwickelt, weil es den beteiligten Staaten gelungen ist, trotz interner Differenzen gemeinsame Interessen und Forderungen gegen den globalen Norden in den Mittelpunkt zu stellen. „Das BRICS-Format wirkt dabei für viele gerade wegen seiner unverbindlichen Kooperation sehr ansprechend. Man kann sich an Aktivitäten in der Gruppierung beteiligen, riskiert aber keine Sanktionen bei einer Nichterfüllung von Aufgaben.“ (Dudnik, Bathon, 2024, S.15)

Zumindest aktuell ist das BRICS-Bündnis nicht pauschal antiwestlich ausgerichtet, weil bisher die Auffassung vorherrscht, dass die eigenen Ziele besser gemeinsam als in Konfrontation mit den westlichen Staaten verwirklicht werden können. So wird in Absatz 14 der Abschlusserklärung des letzten 16. Gipfeltreffen im russischen Kazan explizit erklärt: „Wir unterstreichen die Schlüsselrolle der G20 als führendes globales Forum für multilaterale wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit, das eine Plattform für den Dialog zwischen entwickelten Ländern und Schwellenländern auf gleichberechtigter und für beide Seiten vorteilhafter Grundlage bildet, um gemeinsam nach Lösungen für globale Herausforderungen zu suchen.“ (Kazaner Erklärung 2024) Dabei wird allerdings verständlicherweise der klare Anspruch erhoben, an der Lösung der Herausforderungen gleichberechtigt mitzuwirken und sich nicht der früheren Dominanz der USA in Verbindung mit den EU-Staaten unterzuordnen.

Neben jeweiligen politischen Aktualitäten – auf dem Gipfel in Kazan spielte politisch das Umgehen mit Russland und dem Ukraine-Krieg eine herausragende Rolle – gibt es eine Kontinuität in der politischen Zusammenarbeit. Erstens ist dies die Frage nach der Schaffung besserer Entwicklungsmöglichkeiten für sich aber auch die Staaten des globalen Südens insgesamt. In diesem Kontext steht 2014 die Gründung der New Development Bank mit Sitz in Shanghai, „die bisher nur bescheidene Ergebnisse erzielt hat.“ (Nye, 2025, S.3) Darin zeigt sich aber die deutliche Unzufriedenheit der BRICS-Staaten mit den bisherigen Institutionen zur Entwicklung wie der Weltbank und ihren Tochterbanken, deren Entwicklungskredite häufig Konditionen beinhalten, die vor allem Interessen der westlichen Staaten spiegeln.

Die Dominanz des Dollars als Leitwährung in der Weltwirtschaft ist der zweite immer wieder thematisierte Punkt. In der Diskussion vieler Gipfel steht die Schaffung einer eigenen BRICS-Währung oder die Etablierung einer gemeinsamen Rechnungseinheit, in der die gemeinsamen wirtschaftlichen Transaktionen – sei es im Handel oder bei der Kreditvergabe – abgewickelt werden können. Bisher sind auch diese Versuche aus nachvollziehbaren Gründen an den nach wie vor auch wirkenden unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der BRICS-Staaten gescheitert. Und es ist den Staaten nur begrenzt gelungen, ihren bilateralen Handel in den eigenen nationalen Währungen abzuwickeln.

Daraus jedoch zu schlussfolgern, dass derartige Initiativen auch zukünftig wenig erfolgversprechend sein werden, verkennt die bestehende Entwicklungsdynamik der neuen Multipolarität. Die Bestrebungen zur Neuordnung der Entwicklungsfinanzierung erfolgen in einem Umfeld, in dem die Weltbank und ihre Töchter durch die umfangreiche Kreditvergabe Chinas an viele Staaten des globalen Südens massiv an regulierendem Einfluss verlieren. Und die aktuelle Politik des US-Präsidenten Trump kann durchaus zur Folge haben, dass die USA selbst die Weltgeld-Stellung des US-Dollar gravierend schwächen. Beides kann auch neue Dynamiken zu Alternativen der derzeitigen weltwirtschaftlichen Regulierungsinstitutionen freilegen. Denn ohne Zweifel ist das alte Regulierungsmodell der neoliberalen Globalisierung für die aufstrebenden BRICS-Staaten ein erhebliches Problem für die Förderung der eigenen Entwicklung und Unabhängigkeit, das nur mit grundlegenden Reformen überwunden werden kann.

Ignoranz ist keine angemessene Politik

Inwieweit sich die Kooperation der BRICS-Staaten in den nächsten Jahren vertiefen wird und die Gruppe reale Alternativen in der weltwirtschaftlichen Regulierung gegen die Staaten des globalen Norden durchsetzen kann, ist auch maßgeblich davon abhängig, welche Politik die EU-Staaten wie auch die USA gegenüber den Staaten des globalen Südens betreiben werden. In den letzten Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Norden die Veränderungen, die die neue Multipolarität zur Folge hat, schlicht zu ignorieren versucht.

An dieser Stelle können dafür nur einige Symptome angeführt werden. Die Verweigerungshaltung der EU bei der Freigabe von Patenten im Zusammenhang mit Corona-Impfstoffen wie auch der andauernde Versuch, mit Staaten des globalen Südens Wirtschaftsabkommen durchzusetzen, die vor allem Freihandel verbunden mit für die Staaten des globalen Südens belastenden Umweltauflagen befördern, aber Investitionen in nachhaltige Entwicklung in diesen Ländern wenig Beachtung schenken, zeugen nicht von dem Willen, zu wirklich gleichberechtigen globalen Beziehungen zu kommen. Offensichtlich wird darauf abgezielt, globale Dominanz aufrechtzuerhalten.

Dramatischer ist noch die ‚Make-America-Great-Again-Politik‘ von Präsident Trump, die alles den vermeintlich vitalen Interessen der USA unterordnet und dabei Interessen anderer Staaten ignoriert oder sogar mit Füßen tritt. Dies in Verbindung mit diplomatischen Affronts, wie etwa gegenüber dem südafrikanischen Präsident Ramaphosa im Oval Office im Mai,hat eine verheerende Wirkung auf alle Staaten des globalen Südens.

Sollten die EU bzw. die EU-Staaten und die USA mit dieser Politik fortfahren, werden die BRICS-Staaten wie auch alle anderen Staaten des globalen Südens bestrebt sein, durch eigene Zusammenschlüsse und weltwirtschaftliche Institutionen ihre Interessen zu wahren und eigene Entwicklungsperspektiven zu fördern. Ob dies dann im Rahmen des BRICS-Bündnisses erfolgen wird oder sich im Zeitverlauf andere Formate herausbilden, ist offen, aber letztlich unerheblich.

Die EU-Staaten sind dringend gefordert, ihre Politik zu überdenken und an die Herausforderungen der neuen Multipolarität der Welt anzupassen. Tragfähige im gegenseitigen Interessen liegende Angebote zur wirtschaftliche Kooperation aber auch zur Etablierung einer gleichberechtigteren internationalen Ordnung zur Lösung der vielfältigen und letztlich für alle bedrohlichen globalen Herausforderung würden uns Europäern zugleich helfen, der destruktiven US-Politik etwas entgegenzusetzen.

Literatur

Dudnik, Julia; Roland Bathon; 2024; BRICS: Debattierclub oder Magnet für den Globalen Süden; in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2024

Kazaner Erklärung; 2014; Stärkung des Multilateralismus für eine gerechte globale Entwicklung und Sicherheit, 16. Gipfel der BRICS Staaten am 23.10.2024 in Kazan, Russland, Google-Übersetzung

Nye, Joseph S.; 2025, Leitstern der Weltpolitik; in: IPG Journal vom 30.01.2025

Velasco, Andrés; 2024; Suche nach dem Rivalen; in: IPG Journal vom 14.11.2024

2025-09-14T22:14:24+02:00
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