Heft 263 – 02/2025
Populär handeln gegen Populisten
#meinung #debatte #spw

Foto: © Mieterbund Bonn
Ulrich Kelber war von 2000-2019 Bundestagsabgeordneter für Bonn, stv Fraktionsvorsitzender und Parlamentarischer Staatssekretär. 2019 bis 2024 war er der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Er hat eine Honorar-Professur für Datenethik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.
VON Ulrich Kelber
16,4 Prozent! Am 23. Februar erlitt die SPD ihr schlechtestes Ergebnis bei einer landesweiten nationalen Wahl seit der Reichstagswahl 1887. In den letzten zwanzig Jahren hat die SPD auf dem Weg bis zu diesem Ergebnis zahlreiche Staatskanzleien und Rathäuser verloren, in manchen Gegenden ist die SPD eine Kleinpartei geworden.
War’s das? Nein, Mut macht, dass Umfragen und Studien der SPD immer noch ein Wähler:innen-Potenzial von bis zu 50% geben. Dieses Potenzial gilt es zu heben.
Die Pflicht: Fehler der Ampel vermeiden
Im Wahlkampf konnten es alle spüren, die für die SPD warben: Die Bürger:innen waren mit der Ampelregierung durch. Die Kanzlerpartei SPD traf ein gehöriger Teil der Wut. Die Kommunikations-Unkultur des Kanzleramtes, das Nicht-Erklären-Wollen des eigenen Kurses und der Konsenssuche innerhalb der Koalition hatten über drei Jahre verheerend gewirkt.
Natürlich sah eine Mehrheit (völlig zu Recht) die Hauptschuld an Dauerstreit und Scheitern der Koalition bei der FDP. Aber dass die Ampelregierung und die SPD nicht an ihren durchaus vorhandenen Erfolgen, sondern am Frust und am Unsicherheitsgefühl angesichts multipler Krisen gemessen wurden, ist gerade auch ein Scheitern der Kommunikation: zu wenig, nicht zielgruppenorientiert und schon gar nicht mehrheitsbildend.
Deswegen ist es auf dem Weg zurück zu besseren Wahlergebnissen zunächst unbedingte Pflicht, dass die neue Regierung – und vor allem die SPD darin – ganz anders wahrgenommen werden muss als die Ampelregierung. Bei allen Unterschieden in der Sache sollte zumindest die CDU daran ebenfalls Interesse haben, hoffentlich auch die CSU.
Das Gegenteil vom Dauerstreit ist dabei nicht das Totschweigen von unterschiedlichen Zielen und Positionen. Die SPD sollte sogar energisch widersprechen, wenn z.B. Friedrich Merz den Bürger:innen Faulheit vorwirft oder Alexander Dobrindt im Innenministerium seine Kompetenzen in Ausländer-Maut-Manier überschreiten sollte.
Es geht aber um Stil und Reihenfolge. Ich bin fest davon überzeugt, dass es eine für die SPD relevante Wähler:innen-Gruppe gibt, die akzeptiert, dass in einer Koalition Kompromisse notwendig sind. Dass es verschiedene Parteien sind, die zusammenarbeiten müssen, weil die Wähler:innen ihnen genau dafür ein Mandat gegeben haben.
Strittige Ansichten sollten, wann immer möglich, zunächst in der Koalition besprochen werden. Oft kann ein guter Kompromiss erreicht werden, der dann inklusive der Ausgangspositionen der Koalitionspartner ausführlich und transparent kommuniziert werden kann. Grüne Oppositionsrhetorik à la „Man muss sich nur durchsetzen wollen“ kann man mit Verweis auf kaum mehr von reiner CDU-Politik unterscheidbare schwarz-grüne Koalitionen in NRW, Hessen und Baden-Württemberg kontern. Und die Auseinandersetzung mit der Linkspartei gewinnen wir mit guten Ergebnissen unserer Regierungsarbeit, nicht mit einem Forderungswettbewerb.
Gefährlich sind allerdings Kompromisse, die niemand mehr versteht, die überkompliziert sind oder nicht ausreichen, das adressierte Problem nur annähernd zu lösen. Der Kompromiss „Praxisgebühr“ in den 2000er Jahren war z.B. schlechter als die jeweiligen Ausgangspositionen von SPD und CDU/CSU. Und beim Grundrentenzuschlag wurden so viele spezielle Regelungen eingebaut, dass statt einem einfachen Beantragungsprozess ein teures und komplexes Verfahren entstand.
Das beste Mittel gegen faule Kompromisse: CDU/CSU pur und SPD pur zulassen. Wir müssen den Mut haben, unseren Wähler:innen zu erklären, dass der Koalitionspartner aufgrund des Wahlergebnisses das Recht hat, einige seiner Vorstellungen unverändert umzusetzen. Und zwar nicht nur die aus dem Koalitionsvertrag, sondern auch bei neuen, wichtig werdenden Fragestellungen. Im Gegenzug muss es dafür immer wieder SPD pur geben, unkompliziert umgesetzt, ohne Schmutzeleien der Konservativen, als klar mit uns verbundene Erfolge.
Taktik gegen Populismus: Populäre Lösungen anbieten
Neben die Pflicht zu einem veränderten Stil der Zusammenarbeit, dem Lob des (guten) Kompromisses und der Bereitschaft zu CDU/CSU und SPD pur muss eine andere Taktik treten und — sozusagen als Kür — eine unbedingte Konzentration auf Themen, die für unsere potenziellen Wähler:innen echte Bedeutung haben. Sprich Themen, die beim Nachdenken (oder Fühlen) von Politik im Alltag und in der Wahlkabine den Unterschied machen.
Die SPD darf niemals populistische Politik machen. Aber wir stehen in Konkurrenz zu populistischen, undemokratischen Parteien wie der AfD und populistischen Forderungen demokratischer Konkurrenten wie Linkspartei sowie immer häufiger CDU/CSU. Den anderen ihren Populismus vorzuwerfen, wird nicht einmal annähernd reichen, schon gar nicht in der realen Medienwelt von BILD bis TikTok, die die schrillen Töne aus politischer Kumpanei oder aufgrund algorithmischer Gewinnmaximierung belohnt.
Die Antwort der SPD muss sein, populärer zu agieren. Also Lösungen zu bieten, die für die Mehrheit der Bürger:innen relevant sind, das Problem wirklich angehen und das Gerechtigkeitsempfinden sowie das Sicherheitsbedürfnis in den Blick nehmen. Diese emotionale Dimension von Politik unterschätzt die SPD seit mehr als zwei Jahrzehnten. Während unsere Konkurrenz genau diesen Teil der menschlichen Wahrnehmung von Politik ohne Unterlass adressiert und so Wähler:innen an sich bindet.
Ein erstes Beispiel: Stellt Euch vor, wie sich die Wahrnehmung des Staates (und damit der regierenden SPD) durch die Bürger:innen verändern würde, wenn ihre Anträge auf Kindergeld, Arbeitslosengeld, Schwerbehindertenausweis, etc. nicht nur digital möglich wären, sondern im Regelfall sofort automatisiert entschieden und das Geld per Echtzeitüberweisung überwiesen würde? Nur noch komplizierte Fälle und Stichproben gingen an Sachbearbeiter:innen. Dass das geht, zeigt das beim Bundesamt für Justiz digital beantragbare polizeiliche Führungszeugnis, eingeführt durch ein SPD-geführtes Ministerium. Ähnliches hat Andrea Nahles bei der Bundesagentur für Arbeit vor. Es wäre ein Riesending.
Zweites Beispiel: Eine Alternative zur gescheiterten Riesterrente. Die Bürger:innen erfahren beim „Riestern“ Frust mit hohen Abschlussprovisionen und Versuchen, ihnen später vor der Auszahlung weitere Gebühren aufzubürden. Das erweckt bei ihnen den Eindruck, die Politik habe sie der Finanz- und Versicherungswirtschaft ausgeliefert. Wir brauchen daher einen völligen Bruch mit diesem System. Alle sollten stattdessen zusätzlich zum „Rentenkonto“ automatisch ein von der Rentenversicherung gemanagtes kostenloses(!) persönliches Renten-Fondskonto erhalten. Alle Einzahlungen darauf, ob staatliche Förderung, ein mögliches staatliches Grunderbe, private Vorsorge oder Arbeitgeberanteil, werden dort bis zum Eintritt in den Ruhestand brutto für netto vermehrt und sind weitgehend pfändungssicher. Jeder Kontoauszug (mit der Zeile „Gebühren: 0 Euro“) wäre für die Bürger:innen ein Beleg für eine faire Lösung, bei der sich die SPD für sie und gegen Lobbyinteressen eingesetzt hat.
Zu populären Entscheidungen braucht es die passende Kommunikation. Wir müssen alle Kanäle, jedes Event und ausnahmslos den kleinsten Augenblick von Aufmerksamkeit (TV-Interviews, Reden, Gastbeiträge) nutzen, unsere Politik immer wieder zu erklären und ebenso die Anforderungen an uns zu verstehen. Dabei MÜSSEN wir uns kommunikativ auf einige Politikfelder konzentrieren. Denn Aufmerksamkeit ist die rare Ressource, um die wir mit der politischen Konkurrenz ringen und daher muss 90% unserer Kommunikation auf unsere Kernthemen einzahlen.
Die Kür: Konzentration auf Themen und dafür dann trommeln, was das Zeug hält
Was sind denn diese „Kernthemen“, bei denen die SPD erreichen muss, dass ihr die Menschen wieder zutrauen, etwas für sie zu erreichen? Es gibt zunächst viele wichtige Themen, die trotzdem nicht zum engsten Kern gehören, darunter auch solche, für die ich politisch Verantwortung getragen habe. Die SPD braucht natürlich auch gute Antworten zu Digitalpolitik und Klimaschutz und Verteidigung unserer Demokratie, um dort nicht unwählbar zu sein. Aber es sind andere Themen, die die nahe Zukunft der SPD entscheiden: Bezahlbare Wohnungen, sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze im technologischen Umbruch, eine garantierte Gesundheitsversorgung ohne Einschränkungen, faire Bildungschancen. Und erleichtert der Staat den Bürger:innen den Alltag, beseitigt Überkomplexität und Unzuverlässigkeiten, damit diese ihr Leben selbstbestimmt gestalten können?
Hier liegen Chancen für eine Politik, die auch die emotionale Dimension bedient. Der Vorstoß von Bärbel Bas für eine alle Bürger:innen umfassende gesetzliche Rentenversicherung ist dafür ein Beispiel. Auch ihr Hinweis, der Staat müsse endlich sicherstellen, dass Kindergärten nicht schließen und Schulen zuverlässig sind. Selbstverständlich darf dann auch der Bus zu Arbeitsplatz und Kindergarten nicht deswegen ausfallen, weil die Stadtwerke zur Erfüllung von Wettbewerbsvorgaben ihre Reserven an Fahrer:innen und Fahrzeugen zurückfahren mussten.
Die Wohnungsnot hat eine demokratiegefährdende Sprengkraft entwickelt. Familien, die keine Wohnung finden. Auszubildende und Studierende, denen nur noch Couchsurfing bleibt, Senior:innen, die aus ihren Vierteln wegziehen müssen. Es ist eine Ur-Angst, die sich breitmacht. Es ist pure Verzweiflung, wenn die Wohnungskosten viel zu viel vom Einkommen auffressen.
Im Kampf gegen die Wohnungsnot ist uneingeschränkt SPD pur angesagt: Konzentration aller Förderung auf den Bau bezahlbarer Wohnungen, die dauerhaft(!) in der Preisbindung bleiben müssen, in einer Verlängerung einer verbesserten(!) Mietpreisbremse, in der Verschärfung der Strafbarkeit von Mietwucher, in besserer Kontrolle der Zweckentfremdung von Wohnraum, in der Unterbindung von Wohnraumspekulation und der Abschöpfung von Veräußerungserlösen großer Wohnungsbestände, statt diese noch steuerlich zu fördern.
Viele Bürger:innen haben Angst, dass für sie wichtige medizinische Leistungen gestrichen werden. Hier muss die SPD für glaubwürdige Sicherheit sorgen, es braucht dabei auch mehr Effizienz statt Leistungskürzungen. Dazu müssen Digitalisierung und die Abschaffung überkommener Regelungen Hand in Hand gehen. Warum muss in jeder Apotheke eine approbierte Kraft sein und darf nicht per Videoschaltung konsultiert werden? Kann man nicht Bevorratung und Online-Bestellung von Medikamenten besser verknüpfen? Hier muss sich die SPD mit den Bürger:innen (und innovativen Branchenvertreter:innen) gegen Partikularinteressen verbünden.
Was wollen die Bürger:innen von der SPD?
Die meisten Menschen in unserem Land, vor allem diejenigen, die auch zur Wahl gehen, verlangen keine staatliche Rundumbetreuung. Sie wollen einen Staat, der sie dabei unterstützt, ihr Leben selbst gestalten zu können und verhindert, dass sie bei Schicksalsschlägen ins Bodenlose fallen. Sie messen soziale Gerechtigkeit nicht an der Höhe der Sozialausgaben, sondern haben ein feines Gespür dafür, wo es ungerecht zugeht, wo der Staat helfen muss und wie Dinge fair geregelt werden.
Sie wollen Sicherheit im Wandel. Sie wollen sich auf staatliche Dienstleistungen verlassen können. Sie wollen fundamentale Fragen nicht einfach Markt und Konkurrenzdruck überlassen. Sie wollen Entscheidungen der Politik begründet bekommen und dabei das Gefühl haben, dass Krisen angegangen und drohende Entwicklungen früh eine Antwort erhalten.
Sie wollen wirtschaftlich nicht übervorteilt werden, weder beim Vertragsabschluss noch in ihrer digitalen Rolle. Sie wollen nicht die Faust in der Tasche machen müssen, weil sie zwar theoretisch Rechte gegenüber großen Konzernen und digitalen Anbietern haben, sie dafür aber selbst mit hohem Kostenrisiko vor Gericht gehen müssten.
Bei diesen Themen kann die SPD aktiv werden. Für viele dieser Themen haben wir die Zuständigkeit in der Bundesregierung und sind auch immer noch in Ländern und Kommunen stark.
Keinesfalls darf die SPD dabei (wieder) in eine Entweder-Oder-Haltung verfallen. Wir müssen Arbeitsplätze durch eine Transformation der Wirtschaft sichern. Wir müssen neue Geschäftsmodelle durch Verbraucher- und Datenschutz schaffen. Wir müssen soziale und ökologische Verantwortung in Lieferketten und Klimaschutz mit Entbürokratisierung verbinden. Lassen wir uns wieder auf ein „Ja, aber …“ reduzieren, geben wir die notwendige politische Breite auf, um in unseren Kernthemen und darüber hinaus eine neue Wähler:innen-Koalition zu schmieden.
Ein letzter Aspekt: Visionen
Ja, ich weiß, dass dies wie ein Bruch in meiner Argumentation aussieht, nun Visionen zu fordern, aber es ist keineswegs einer. In der Regierungsarbeit der SPD, nicht nur auf Bundesebene, werden über die Ergebnisse unserer Arbeit im Hier und Jetzt bei den Kernthemen wahrgenommen werden. Sie entscheidet über die nächsten Wahlergebnisse.
Darüber hinaus dürfen wir die langfristige Akzeptanz der SPD, vor allem bei der jüngeren Generation, nicht aus den Augen verlieren. Auch die freut sich über den Bus, der kommt, die gut ausgestattete Schule und die bezahlbare Wohnung. Aber vor allem die Jüngeren fordern zu Recht mehr von uns.
Deswegen wird es Aufgabe der Partei sein, auch Antworten auf weitergehende Fragestellungen zu geben: Wie gestalten wir unsere Gesellschaft, damit sie widerstandsfähiger gegen die Feinde unserer Demokratie wird? Welche Teile unseres Lebens wollen wir eigentlich dem dauernden Konkurrenzdruck und dem privatwirtschaftlichen Profit dauerhaft entziehen? Wie verhindern wir, dass Europa eine digitale Kolonie der USA und von China wird? Wie sieht eine nachhaltige Industriegesellschaft aus? Hieran kann man ohne Kommunikationskonkurrenz zu den Kernthemen arbeiten.
Apropos 1887: August Bebel beschäftigte sich in seinem Werk „Die Frau und der Sozialismus“ nicht nur mit den Lebensbedingungen seiner Gegenwart, sondern plädierte auch epochenprägend für die Gleichberechtigung und außerdem für die Umstellung von Kohleverbrennung auf „Sonnen- und Erdwärme“. Beides sei Grundlage für kommenden Wohlstand. Machen wir es ihm nach!