Heft 262 – 01/25
Auf dem Weg zu progressiven Souveränität Europas
#meinung #debatte #spw

Matthias Ecke ist seit 2022 Mitglied des Europäischen Parlaments für die SPD und arbeitet dort im Industrieausschuss sowie in den Ausschüssen für Wirtschaft und Währung, Steuerfragen sowie regionale Entwicklung.
von Matthias Ecke
Die materiellen Voraussetzungen für eine solidarische Entwicklung der europäischen Gesellschaften haben sich radikal verändert. Die Weltwirtschaft ist zunehmend geprägt von geopolitischen Spannungen, strategischen Abhängigkeiten und einem harten globalen Wettbewerb. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Europas Abhängigkeit von fossilen Energieträgern brutal offengelegt. Gleichzeitig diktieren US-Technologieunternehmen unsere digitalen Standards, und internationale Finanzmärkte bestimmen über die Stabilität unserer Wirtschaften. In einer Welt, die immer stärker von Großmächten und monopolistischen Konzernen geprägt wird, steht Europa vor der Wahl: Bleiben wir auf diesen Abhängigkeiten angewiesen – oder gestalten wir unsere wirtschaftliche und politische Zukunft souverän und solidarisch?
Es liegt dabei an uns, die europäische Souveränität nicht nur ein politisches oder wirtschaftliches Konzept ist, sondern auch eine Frage der demokratischen Legitimation. Nur wenn wir soziale Gerechtigkeit gestalten und Ungleichheit bekämpfen, wird aus dem Konzept der Unabhängigkeit von anderen Weltregionen auch ein Projekt, was allen Europäer:innen nutzt und wofür sie sich, im Idealfall, begeistern können. Und ebenso klar ist, dass europäische Souveränität nicht zu Isolationismus führen darf, sondern im Gegenteil die EU eine aktive Rolle spielen sollte, um gemeinsame Lösungen für globale Herausforderungen zu finden.
Anhand dreier spezifischer Felder möchte ich darlegen, wie europäische Souveränität gelingen kann, und wie sozialdemokratische Ideen dem derzeit auf EU-Ebene dominierenden Mitte-Rechts-Diskurs etwas entgegenstellen können. In der Energiepolitik sowie in der Finanz- und Währungspolitik, aber auch im Bereich digitaler Technologien kann – und muss – progressive Politik Lösungen gestalten, die souverän und fortschrittlich sind.
Energiepolitik
Europas Abhängigkeit von russischem Gas ist seit langer Zeit bekannt, jedoch leider erst seit etwas kürzerer Zeit auch als Problem erkannt. Während viele Konservative, in Deutschland wie in Europa, für ein Revival der Kernkraft werben, geht unser Blick in die Zukunft. Progressive Politik sucht nicht nach Lösungen aus der Vergangenheit, sondern nimmt Umwelt und Menschen gleichermaßen in den Blick.
Für unser Ziel eines klimaneutralen Europas, das unabhängig von Importen fossiler und nuklearer Energieträgern wird, müssen wir massiv in klimaneutrale Zukunftstechnologien und Infrastruktur investieren. Hierzu gehört, die Europäische Energieunion zu vollenden: Aus verbundenen nationalen Energienetzen muss ein europäisches Netz werden. Der Ausbau von erneuerbaren Energien, grenzüberschreitenden Wasserstoffpipelines und Stromleitungen sowie der Bau von Elektrolyseuren muss schnell und umfassend erfolgen. Der geplante europäische Emissionshandel für Gebäude und Verkehr (ETS 2) ab 2027 muss so weiterentwickelt werden, dass CO2-Preise besser berechenbar sind und die Risiken mit Investitionen in zukunftsfähige Technologien somit reduziert werden.
Für uns ist aber entscheidend: Die Kostenvorteile, die zum Beispiel die erneuerbaren Energien bringen, sollen nach unserer Vorstellung an alle Energieverbrauchergruppen weitergegeben werden. Mit EU-Finanzinstrumenten wie etwa dem “Just Transition Fund” und dem “Social Climate Fund” kann man sicherstellen, dass alle Bürgerinnen und Bürger von einer grünen und nachhaltigen Zukunft profitieren. Wenn wir diese Mittel zum Beispiel für energetische Sanierungen, den Ausbau von Ladeinfrastruktur für Elektromobilität und von öffentlichen Verkehrsmitteln nutzen, werden wir nicht nur unabhängiger von Öl und Gas, sondern machen nachhaltige Energiepolitik auch attraktiv für alle, inklusive jene mit kleinerem Geldbeutel. Wir wissen, dass Verbraucher:innenschützer:innen, Sozialverbände und Gewerkschaften in diesem Punkt an unserer Seite.
Finanz- und Währungspolitik
Wer über europäische Souveränität spricht, darf über unsere Finanz- und Währungspolitik nicht schweigen. Denn in zentralen Bereichen sind wir heute abhängig von US-amerikanischen Kapitalmärkten, von internationalen Ratingagenturen, aber auch von globalen Zahlungsdienstleistern, die unsere wirtschaftliche Handlungsfähigkeit beschneiden und deren Handeln lediglich außerhalb Europas kontrolliert wird. Die gezielte Nutzung des Finanzsektors für produktive Investitionen und gemeinwohlorientierte Zwecke wird dabei zunehmend durch die strukturelle Abhängigkeit von außereuropäischen Zahlungsdienstleistern erschwert, die sich europäischer Regulierung weitgehend entziehen. (1)
Viele europäische Unternehmen holen sich Kapital aus den USA. Europäische Ersparnisse fließen über US-Investoren zurück in europäische Firmen, ein Umweg, der teuer ist und uns verwundbar macht. Wir brauchen endlich eine funktionierende europäische Kapitalmarktunion, mit harmonisierten Insolvenzregeln, gemeinsamen Steuerstandards und starken, vernetzten Börsenplätzen. Nur so bleibt Kapital in Europa und stärkt unsere Wirtschaft.
Auch im Zahlungsverkehr wächst unsere Abhängigkeit von US-Anbietern wie Visa, aber zunehmend auch von digitalen Zahlungsanbietern wie Apple, Google und Alipay. Bei jeder Zahlung verdienen Dritte mit und beeinflussen im Zweifel, wer in Europa wofür zahlen darf. Ein digitaler Euro unter Aufsicht der EZB ist daher ein zentraler Baustein für mehr europäische Kontrolle. Ebenso wichtig sind die Förderung europäischer Zahlungsdienstleister, der Ausbau gemeinsamer Standards und klare Regeln für mehr Wettbewerb und Innovation.
Wenn wir wirtschaftlich handlungsfähig und politisch unabhängig bleiben wollen, müssen wir in der Lage sein, Zahlungen, Sanktionen und Investitionen eigenständig und ohne äußeren Einfluss zu gestalten.
Technologie und digitale Transformation
Die digitale Transformation, die wir im Alltag beobachten, bringt ein wachsendes Problem mit sich: Europas digitale Abhängigkeit von ausländischen Unternehmen. Amazon, Google und Microsoft dominieren den europäischen Cloud-Markt mit fast 70%. Diese Abhängigkeit mag auf den ersten Blick anwenderfreundlich und eingespielt erscheinen, weil vermutlich jede:r von uns diese Dienste nutzt, inzwischen seit Jahren. Doch wir müssen uns fragen, ob es akzeptabel ist, unsere Daten und Technologien in fremde Hände zu legen.
In Anbetracht der geopolitischen Unsicherheiten ist diese Abhängigkeit ein wirtschaftliches Risiko. Europäische Unternehmen sind gefährdet, da sie auf US-Daten und digitale Werkzeuge angewiesen sind. Es ist daher entscheidend, die digitale Souveränität Europas zu stärken. Dabei muss Europa nicht versuchen, eigene Tech-Giganten zu schaffen, sondern Kooperationen zwischen mittelgroßen Unternehmen fördern, die auf gemeinsamen digitalen Standards basieren, um mit den US-Riesen zu konkurrieren.
Progressive Kräfte in Europa arbeiten am Konzept eines „EuroStack“. Eine Studie zu dem Thema schlägt eine europäische Technologiefonds-Initiative vor, die zunächst 10 Milliarden Euro für diesen Übergang bereitstellt. Langfristig wären 300 Milliarden Euro erforderlich. Wichtige Maßnahmen sind private wie öffentliche Investitionen, die Bevorzugung europäischer Anbieter und die Vollendung der Kapitalmarktunion. Der Fokus sollte auf Open-Source-Lösungen liegen, um ein digitales Universum auf der Grundlage fairer Geschäftsmodelle zu schaffen. Gemeinsam mit NGOs, Gewerkschaften und Start-Ups aus der Digitalbranche können Sozialdemokrat:innen hier, mit unserer Betonung auf dem Schutz von Grundrechten, einem hohen Niveau im Datenschutz und dem besagten Open-Source-Ansatz, ein progressives Gegenbild schaffen zur von Big-Tech dominierten Welt.
Gerechtigkeit und Souveränität
Europas Souveränität in Energiefragen, Finanz- und Währungspolitik sowie im Bereich Digitalisierung ist keine Alternative zu einer solidarischen Entwicklung der europäischen Gesellschaften, sondern zunehmend eine ihrer materiellen Voraussetzungen. Doch eine stärkere Rolle europäischer Unternehmen in unseren Märkten führt nicht automatisch zu inklusivem Wachstum oder einer gerechteren Verteilung des gemeinsam erwirtschafteten Wohlstands. Nur wenn es progressiven Kräften gelingt, die Struktur der Wertschöpfung und Verteilung in zentralen Sektoren aktiv zu verändern, entfaltet das Paradigma der „europäischen Souveränität“ sein progressives Potenzial.
Eine dezentrale Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen als Alternative zum extraktiven Fossil-Kapitalismus, digitale öffentliche Infrastrukturen, die auf Teilhabe und Grundrechte setzen, statt der Technologiemonopole proprietärer Hyperscaler, und ein Finanzsystem unter staatlicher Aufsicht, das sich an den Bedürfnissen der lokalen Wohlstandsentwicklung orientiert, statt den Profitinteressen privater Finanzkonzerne – das sind die Grundpfeiler dieser Entwicklungsrichtung.
Wenn wir zulassen, dass Konservative die Idee einer stärkeren europäischen Souveränität nach ihren Vorstellungen gestalten, droht eine Mischung aus Rückschritt und Protektionismus. Progressive Kräfte müssen deshalb gemeinsam mit Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft die Weichen für ein neues, zukunftsorientiertes Entwicklungsmodell stellen. Europas Souveränität muss soziale und ökologische Gerechtigkeit stärken.