Recht politisch
Natürlich ist das Bundesverfassungsgericht politisch!
#meinung #debatte #spw
Folke große Deters ist Mitglied der spw-Redaktion, Vorsitzender der ASJ NRW und lebt in Bornheim-Hersel.
von Folke große Deters
Bei der Debatte um die vorerst gescheiterte Wahl von Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts gerät gerade einiges durcheinander.
Zweifellos angezeigt ist die Kritik an einer ehrabschneidenden Diffamierungskampagne gegen die Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. Genau so angezeigt ist die Kritik daran, dass diese Kampagne aus Unions-Kreisen gespeist und verstärkt wurde. Und mit gutem Recht darf sich ein Koalitionspartner darüber beklagen, wenn Absprachen nicht eingehalten werden.
Nicht überzeugend sind dagegen Wortmeldungen, die eine öffentliche Diskussion über die Wahlen von Bundesverfassungsrichtern generell ablehnen: Eine „Politisierung“ des Bundesverfassungsgerichts müsse verhindert werden. Für den konservativen Staatsrechtler Klaus-Ferdinand Gärditz geht es bei der Verfassungsauslegung „vorrangig um solides Handwerk“, deshalb äußert er auch Sympathie dafür, die Wahl der Richterinnen und Richter wie vor 2015 alleine hinter den verschlossenen Türen des Richterwahlausschusses stattfinden zu lassen. (https://verfassungsblog.de/bundesverfassungsrichterwahl-frauke-brosius-gersdorf-wahlverfahren/)
Verfassungsauslegung ist kein Handwerk
Warum diese Sichtweise schief ist, erschließt sich zunächst mit Blick auf die erhebliche Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts. Entscheidungen des Gerichts können zwar öffentlich kritisiert, aber nicht demokratisch geändert werden. Selbst wenn 99 Prozent aller Wahlberechtigten anderer Meinung wären und ihrem Willen durch ihr Wahlverhalten Ausdruck verleihen würden, bliebe eine Entscheidung des Gerichts davon unberührt. Diese in einer Demokratie erstaunliche Macht wird damit begründet, dass das Gericht auf Basis von Rechtsnormen – dem Grundgesetz – entscheidet und an die Regeln eines gerichtlichen Verfahrens gebunden ist. Das stimmt auch; allerdings wird dieser Befund dadurch relativiert, dass das Grundgesetz insbesondere in seinem Grundrechte-Teil nicht viele Worte macht. Wenn das Bild von der Richterin als „solider Handwerkerin“ bei der Lösung eines komplexen sachenrechtlichen Falls noch so gerade durchgehen kann, so ist es bei der Auslegung des Grundgesetzes irreführend: Unsere Verfassung enthält so viele ausfüllungsbedürftige Begriffe, dass der schöpferische Anteil bei der Auslegung sehr hoch ist. Mit anderen Worten: Es geht nicht nur um klassische Gesetzesauslegung, sondern zu einem großen Teil um echte Entscheidungen!
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie wenig Parteien, aber auch die Öffentlichkeit sich bisher für die Auswahl der mächtigen Urheberinnen und Urheber dieser Entscheidungen interessiert haben. Parteien sind gut beraten, nicht nur die „fachliche Qualifikation“, sondern auch die verfassungsrechtliche Ausrichtung der Kandidatinnen und Kandidaten zu betrachten. Es geht hier nicht um politische Meinungen, sondern um die Frage, ob eine bestimme Lesart der Verfassung die Verwirklichung des eigenen Programms auch dann verhindern kann, wenn es eine politische Mehrheit dafür gibt. Ein Professor aus Heidelberg hat als Verfassungsrichter dem Grundgesetz sehr konkrete Grenzen für die steuerrechtliche Korrektur ungerechter Einkommens- und Vermögensverteilung entnommen. Hätte das Gericht diese nicht später verworfen, gäbe es ein dauerhaftes Hindernis für mehr Verteilungsgerechtigkeit auch im Falle eines überragenden Wahlsieges der politischen Linken.
Keine Papstwahl
Vielleicht hat bei manchen Diskussionbeiträgen das jüngst stattgefundene Konklave Pate gestanden. Hier ist allerdings eine öffentliche Diskussion schon deshalb verzichtbar, weil die eingeschlossenen Kardinäle nach katholischer Vorstellung nur Werkzeuge eines höheren Willens sind. Bei der Übertragung von Macht in einer säkularen Demokratie leuchtet dagegen nicht so recht ein, warum keine öffentliche Diskussion statthaft sein soll: Verfassungsauslegung ist komplex – aber komplex sind viele andere Themen auch. Verzerrungen des demokratischen Diskurses durch irreführende Social-Media-Kampagnen sind ein ernstes Problem. Ihnen kann aber nicht dadurch begegnet werden, dass wichtige Fragen hinter verschlossenen Türen diskutiert werden.
Insofern ist es absurd, wenn CDU-Abgeordnete und der unvermeidliche Sigmar Gabriel die Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf dafür kritisieren, dass sie ihre Sicht auf die Diskussion im öffentich-rechtlichen Fernsehen ausführlich dargelegt hat. (https://www.br.de/nachrichten/bayern/brosius-gersdorf-ex-spd-chef-gabriel-kritisiert-spd-und-cdu,Ur7ujLx). Vielmehr verdient sie dafür Anerkennung. Wer „im Namen des Volkes“ weitreichende Entscheidungen treffen will, sollte auch bereit sein, der interessierten Öffentlichkeit Rechenschaft über die eigenen Absichten abzulegen.
Angesichts einer wachsenden Polarisierung ist der Wunsch nach einer quasi-sakralen Institution, die über dem politischen Streit schwebt, menschlich verständlich. Entscheidungen, die de facto alle verpflichten, sind aber in einer Demokratie immer politisch. Deshalb ist es nicht nur eine Frage der „fachlichen Qualifikation“, sondern auch eine politische Frage, wem wir in unserem demokratischen Staat die Macht für solche Entscheidungen anvertrauen. Einen „Safe Space“, der vor inhaltlicher Auseinandersetzung schützt, kann es bei machtvollen Positionen in unseren Verfassungsorganen nicht geben. Aber natürlich gilt auch: Keine Bewerberin und kein Bewerber um ein herausgehobenes öffentliches Amt sollte ehrabschneidende Kampagnen mit Verdrehungen und Lügen ertragen müssen. Das gilt auch, aber nicht ausschließlich für Wahlen zum Bundesverfassungsgericht.
