Heft258 – 01/2024

Work in Progress: Politisch-redaktioneller Orientierungsrahmen für die spw

#orientierungsrahmen #spw

Die Autor*innengemeinschaft besteht aus Arno Brandt, Claudia Bogedan, Kai Burmeister, Ole Erdmann, Uwe Kremer,
Lasse Rebbin, Christina Schildmann, Thilo Scholle, Joachim Schuster, Carsten
Sieling, Claudia Walther, Felix Welti.

VON der Autor*innengermeinschaft

Vorbemerkung

Die nachfolgende Skizze dient als Basis für einen künftigen Orientierungsrahmen unserer „Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft“ (spw) und des sich um sie herum gruppierenden Zusammenhangs. Natürlich verbinden wir dies mit der Hoffnung, dass sie sich auch als nützlich erweist, wenn es um konzeptionelle Sortierungsprozesse in der Sozialdemokratie, in rot-grünen Kontexten und vielleicht auch im Sinne eines neuen Crossover- Prozesses geht. Das Papier wurde erstellt und erörtert im Rahmen einer Autor:innengemeinschaft, die das Dokument in seinen Intentionen und Grundlinien, aber auch den damit verbundenen offenen Fragestellungen und Kontroversen gemeinsam trägt. Im Übrigen ist das Papier offen und unfertig angelegt. Dies gilt insbesondere für die Diskurscluster, die jederzeit kommentiert, erweitert oder neu konfiguriert werden können. Wir laden hiermit ein, diesen Diskurs mit uns weiter zu führen – bei unserer Tagung am 29. Juni 2024 in Hannover oder in der Zukunft auf unserer Diskursplattform www.spw.de. Die Skizze besteht aus zwei Teilen.

Im Teil A wird der Versuch gemacht, einige wesentliche Leitgedanken miteinander zu verbinden und damit auch an vorgängige Veröffentlichungen und Diskurslinien anzuknüpfen (insbesondere und übergreifend an die 2019 erschienen Dispositionen zu einer gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie). Im Wesentlichen geht es hierbei darum,

  • die Bewertung der globalen „Polykrise“ und des Scheiterns des neoliberalen Modells mit einer zeitgemäßen Perspektive einer gemeinwohlorientierten bzw. sozialistischen Wirtschaftsweise zu verbinden,
  • in Auseinandersetzung mit dem Krisenmanagement der vergangenen beiden Jahre den Blick für eine Politik progressiver Strukturreformen zu eröffnen.

Im Teil B wird dann der Versuch gemacht, fünf Diskurscluster zu definieren – im Sinne eines Rahmens, an dem sich unsere Diskussionen, insbesondere die Zeitschrift selbst und natürlich die Redaktionsarbeit ausrichten könnten. Es handelt sich zunächst um drei „Transformationscluster“ (sozialökologisch, soziodemografisch und digital). Es schließt sich dann ein Cluster an, das sich mit den sozialen, zivilen und politischen Akteurskonstellationen befasst. Das fünfte Cluster nimmt schließlich die geopolitischen resp. europäischen Dispositionen in den Blick.

A. Übergreifende Zusammenhänge und Narrative

A.1 Polykrise: Globalisierung, Transformation und Resilienz

Die Lage in der Welt lässt sich zusammenfassend als eine „Polykrise“ charakterisieren – verstanden als ein Konglomerat aus

  • Krisen unterschiedlichsten Charakters, die sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg entwickelt, miteinander verflochten und gegenseitig verstärkt haben,
  • einer Häufung akuter und wirtschaftlicher und nicht-wirtschaftlicher Schocks mit menschlich und gesellschaftlich tiefgreifenden traumatisierenden Wirkungen.

Diese Polykrise steht zugleich für eine „Krise der Globalisierung“ – sichtbar in den grundlegenden Veränderungen des geopolitischen Gefüges, d.h. in der Ablösung einer weitgehend unilateral bestimmten Weltordnung durch eine Polyzentrik, für die die Bedingungen einer neuen „friedlichen Koexistenz“ erst noch zu klären wären.

In ihrem sozioökonomischen Kern ist diese Krise der Globalisierung gleichbedeutend mit einer umfassenden Störung und Fragmentierung von Wertschöpfungs- und Versorgungsketten, von infrastrukturellen Systemen wie auch im alltäglichen Zugang zu Gütern und Ressourcen für einen wachsenden Teil der Bevölkerung – und dies im Zeichen seit 15 Jahren dramatisch kumulierender

  • globaler Herausforderungen in Bezug auf die sozialökologischen und soziodemografischen Transformationen,
  • nationaler Herausforderungen und Defizite bzgl. der lebensweltlichen und wirtschaftlichen Infrastrukturen (Infrastrukturkrise).

Vulnerabilität und Resilienz sind zentrale Begriffe zum Verständnis der Situation – mit Blick auf ihre systemische bzw. gesellschaftliche Bewältigung wie auch ihre subjektive Bewältigung im Alltag bzw. sozialen Prozessen. Es geht um Widerstandsfähigkeit sicherlich auch im Sinne einer Anpassung, vor allem aber um die Wiedererlangung von politischer Gestaltungskraft und Wirksamkeitserfahrung.

Der Begriff der Transformation beschreibt die großen Herausforderungen für die globale Wirtschaft-, Arbeits- und Lebensweise und den Bedarf an grundlegenden systemischen Veränderungen. Sie berühren das alltägliche Dasein und soziale Gefüge der Menschen in umfassender Weise und sind Gegenstand sozialer Bewegungen und Kämpfe. In dieser Verbindung von „System“ und „Alltag“ geht es immer und übergreifend um soziale bzw. gesellschaftliche Transformation.

Funktionsfähige Infrastrukturen sind die Bedingung, um die transformativen Herausforderungen im globalen Maßstab wie auch mit Blick auf die alltäglichen Lebensverhältnisse bewältigen zu können. Sie bilden den Ausgangspunkt jeder zeitgemäßen, insbesondere aber einer progressiven und sozialistischen Politik, die in allen gesellschaftlich relevanten Bedarfsfeldern gemeinwohlorientierte Zielsetzungen und eine entsprechende Ausrichtung von Investitionen, Netzwerken und Märkten realisieren will.

Zeitenwende bedeutet vor diesem Hintergrund: Wir sind in eine Zeit eingetreten, in der es um die umfassende (Wieder)Erlangung öffentlicher Souveränität über die infrastrukturellen Bedingungen des Stoffwechsels, des Wirtschaftens und des sozialen Lebens geht – international, national und lokal.

A.2 Ende des Neoliberalismus als Ideologie und Regulationsweise

Die Gesamtherausforderung ist riesig und keiner – auch nicht aus der Linken – möge behaupten, sie schon hinreichend durchdacht und die Lösungen bereit zu haben. Sicher ist aber: Nichts, aber auch gar nichts in dieser Gemengelage kann in irgendeiner Art und Weise mit neo- und ordoliberalen Konzepten beherrschbar gemacht werden. Zeitenwende bedeutet vielmehr auch: Zusammenbruch der neoliberalen Hegemonie – nicht nur als eine radikale Marktideologie, sondern auch in ihrer politökonomischen Struktur. Maßgebend hierfür sind drei für den Neoliberalismus konstitutive Aspekte:

  • Die einstmals als „new economy“ erleuchteten Kombination verselbständigter Finanz„industrie“ und digitaler Plattformökonomien hat nie die prognostizierte innovative Kraft und realwirtschaftliche Wachstumsdynamik entwickeln können, sondern sich vielfach in einer Rentenökonomie erschöpft.
  • Ihr Vordringen in die realwirtschaftlich wie auch lebensweltlich relevanten Infrastrukturen (durch Sozialabbau und Privatisierung wie auch mit Hilfe von Digitalisierung und prekärer Arbeit) hat maßgeblich zu einer volks- und weltwirtschaftlich bedrohlichen Krise der Infrastrukturen beigetragen.
  • Der Versuch, soziales Einverständnis durch den kontinuierlichen Fluss billiger Importe entlang globalisierten Wertschöpfungsketten zu sichern, verschärfte den Verbrauch begrenzter globaler Ressourcen und stößt zudem an die Grenzen veränderter weltpolitischer Rahmenbedingungen.

Es hat in den vergangenen beiden Jahren Anzeichen gegeben, dass sich die Politik im Zeichen von Resilienz nicht nur im aktuellen Krisenmanagement, sondern darüber hinaus langfristig verändern und aus der neoliberalen Logik befreien könnte. Denn Resilienz baut sich nicht im marktförmig-wettbewerblichen Selbstlauf auf, sondern nur durch staatlich und sozial organisierte Regulierungen und Lernprozesse. Und mit Blick auf die bisherige Assoziation von Digitalkapitalismus und Neoliberalismus gilt: Die (Wieder-)Erlangung öffentlicher Souveränität bezieht sich auch auf die Finanz- und Informations- bzw. Datenströme und deren Dienstbarmachung für eine systemische Resilienz.

So entwickelt sich ein neuer Referenzrahmen für Politik – mit großen Chancen für progressiv-emanzipatorische Optionen. Aber: Schon jetzt zeichnen sich miteinander international konkurrierende Vorstellungen von systemischer Resilienz ab (darunter insbesondere auch autoritäre Varianten), deren Einordnung in (auch marxistische) Kategorien der Produktionsweise und der Gesellschaftsformation schwerfällt. Und national sind es häufig rechtspopulistische Strömungen, die in die vom Neoliberalismus hinterlassene und von den progressiven Kräften nicht gefüllte Lücke stoßen.

A.3 Die große Verunsicherung und der Aufstieg des Rechtspopulismus

Die vom Neoliberalismus hinterlassene Lücke wird seit geraumer Zeit zunehmend von rechtspopulistischen Strömungen gefüllt. Sie reagieren damit einerseits auf die vom Neoliberalismus verursachten Kontrollverluste und Infrastrukturdefizite, andererseits auf die dadurch unbewältigten globalen Herausforderungen mit der Forderung nach nationalen, häufig ethnisch und habituell begründeten Schutzräumen.

Mit der Polykrise und ihrer Bearbeitung sind gewaltige Kosten wie auch nicht-monetäre Belastungen in der Gestaltung des sozialen Lebensalltags verbunden. Dies drückt sich zunehmend in persönlichen und sozialen Identitätskrisen wie auch komplexen Verteilungskämpfen aus. Sie bieten vielfältige Anknüpfungspunkte für progressive Strömungen, zunächst aber auch für den Rechtspopulismus.

Diese Kämpfe sind durch eine Hoffnung machende Neuformierung gewerkschaftlicher Mobilisierungskräfte geprägt. Dabei liegt deren Schwergewicht zunehmend in infrastrukturell dienstleistenden Wirtschaftszweigen. In Verbindung mit den Arbeitsbedingungen werden dabei in hohem Maße auch die Verfassung und Ausstattung der jeweiligen Infrastrukturen adressiert. Allerdings gibt es auch eine starke – insbesondere berufsständische – Fragmentierung. In diesem Kontext tritt zunehmend auch eine Art Bewegung der „Mittelstände“ (Bauern, Handwerker, Ärzte, Spediteure usw.) auf den Plan – mit Lagedefinitionen und Verteilungskämpfen quer zur einfachen „Arm-und-Reich“-Logik.

Zugleich werden die den Transformationen zugrunde liegenden Herausforderungen und die mit ihnen verbundenen Veränderungen in Lebens- und Regulationsweisen in der Bevölkerung sehr unterschiedlich wahrgenommen. Weite Teile sehen sie als gemeinsam zu bewältigende Herausforderung; ebenso weite Teile empfinden sie aber vor allem als Zumutung, Respektlosigkeit und Einschränkung der persönlichen Autonomie.

Verbinden sich diese Tendenzen mit Attitüden gegen staatliche Bevormundung und abgehobene und praxisferne „Weltverbesserer“ sowie Ressentiments gegenüber anderen kulturellen Lagern, sozialen Schichten und ethnischen Hintergründen, sind die Einfallstore für rechtspopulistische Strömungen offen.

Den aktuellen Bewegungen gegen rechts kommt zweifelsohne eine enorme Bedeutung im Sinne einer möglichst breiten Allianz demokratischer Kräfte zu. Auf längere Sicht sind aber zwei miteinander verbundene Stoßrichtungen für eine Perspektive jenseits von Neoliberalismus und Rechtspopulismus maßgeblich:

  • zum einen die umfassende Gewährleistung funktionsfähiger gesellschaftlicher Infrastrukturen, deren demokratische Gestaltung und Kontrolle und die Entwicklung von Bewegungen und Allianzen, die sich genau dies zum gemeinsamen Ziel setzen.
  • zum anderen die Gewährleistung von gesellschaftlichem Zusammenhalt durch gute und würdige Arbeit, sinnstiftende Erwerbsbiografien und eine Mitgestaltung von betrieblichen Strukturen und überbetrieblichen Netzwerken.

A.4 Sozialistische Perspektiven in der Zeitenwende

Zeitgemäß ist eine sozialistische Perspektive, die den Transformationsbedarfen im globalen Maßstab wie auch im sozialen Alltag gerecht wird und die hierzu eine öffentlich-demokratische, gemeinwohlorientierte Alternative zum Neoliberalismus und Rechtspopulismus eröffnet. Es geht darum, die Perspektive einer demokratischen Vergesellschaftung mit der Frage zu verbinden, wie wir miteinander – und in erheblichem Umfang sicherlich anders als bisher – arbeiten und leben wollen.

Bei aller Bedeutung von sozialen Transfers und wirtschaftlichen Subventionen, Anreiz- und Verbots-, Besteuerungs- und Grenzwertkonzepten: Im Mittelpunkt einer neuen Regulationsweise stehen die öffentlich-demokratische Beherrschung der gesellschaftlich relevanten Infrastrukturen und ihre Neuausrichtung im Zeichen der Transformation. Dabei reichen die Dimensionen von der Projektierung und Realisierung transeuropäischer und internationaler bis hin zu „bodenständig“- kommunalen Infrastrukturen. Dieser (hier nur hilfsweise so bezeichnete) „Infrastruktursozialismus“ (s. auch spw 235 (6/2019): „Infrastrukturökonomie und Vergesellschaftung – Schlüssel für einen modernen Sozialismus“) verbindet vor allem zwei Bezüge:

  • die volkswirtschaftlichen Beziehungen zwischen Industrien und Infrastrukturen: Hier muss sich die öffentliche Souveränität in der Lenkung von großen Investitionsströmen (von den Beschaffungsmärkten bis hin zu Investitionsfonds) im Sinne der sozialökologischen Transformation wie auch mit Blick auf internationale Abhängigkeiten und Allianzen erweisen;
  • die Ökonomie des Alltagslebens (insbesondere in kommunalen und sozialräumlichen Kontexten, von der Care Economy bis zum lokalen Gewerbe): Die Bedeutung einer funktionierenden Infrastrukturökonomie ergibt sich gerade daraus, dass hier in der Tiefe des sozialen Alltags (und unter Beteiligung der Menschen) Vulnerabilität zu mindern und Resilienz aufzubauen ist.
  • die Infrastrukturen der digital basierten Datenökonomie: Insbesondere mit ihren Plattformen handelt es sich um einen der für Transformation und Regulierung, Volkswirtschaft und Alltagsleben bedeutendsten Infrastruktur- und Wirtschaftsbereiche, deren öffentlich-demokratische Beherrschung von essenzieller Bedeutung ist.

Es wird notwendig sein, die Infrastruktur der Daseinsvorsorge noch radikaler um- und auszubauen, als wir es vielleicht auch in dieser Zeitschrift bislang meinten – nicht nur mit Blick auf das, was der Staat (einschließlich der Kommunen) unmittelbar bereitstellt, sondern auch in der Gewährleistung und Gestaltung lokaler Wirtschaftskreisläufe und Versorgungsketten und der Verfügbarmachung alltäglicher Güter und Dienstleistungen.

Gerade in dieser Hinsicht ist die Entwicklung neuer Formen einer solidarischen Ökonomie – gemeinwirtschaftlich-genossenschaftliche Ansätze, in Vernetzung mit der mittelständischen Privatwirtschaft wie auch mit Nutzern und Nutzerkollektiven als wirtschaftlichen „Ko-Akteuren“ (Datenlieferanten, Weiterverarbeitern, Feedback-Gebern…) – ein zentrales Element.

Von zentraler Bedeutung für diese Perspektive ist ein Verständnis von guter und würdiger Arbeit, für das gerechte Bezahlung so wichtig ist wie gestalterische Kompetenz. Jenseits fragmentierter Partikularinteressen ergibt sich ihr Sinn im Zusammenwirken mit anderen Menschen und Berufsgruppen anhand der „großen Baustellen“ und Bedarfsfelder (im Sinne des früher im spw-Kontext postulierten „Bündnisses von Arbeit, Wissenschaft und Kultur“)

A.5 Geopolitische Umbrüche Europäisches Entwicklungsmodell

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und geprägt durch die neoliberale Globalisierung hatte es zunächst den Anschein, dass sich eine unipolare Weltordnung herausbilden würde, in der Wertschöpfungsketten vor allem nach den Prinzipien einzelwirtschaftlicher Kosteneffizienz und des grenzenlosen Freihandels strukturiert wurden – dominiert durch eine globalisierte Finanzwirtschaft und die USA im Zusammenspiel mit der EU und anderen westlich orientierten Staaten. Durch den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg Chinas wie auch durch die Erschöpfung des mit der neoliberalen Globalisierung verbundenen Akkumulations- und Regulationstyps bildet sich aber eine multipolare Ordnung heraus, die von der Auseinandersetzung um die globale Hegemonie zwischen den USA und China, aber auch durch ein zunehmend eigenständiges Auftreten verschiedener Regionalmächte geprägt ist.

Die multipolare Ordnung weist hierbei zum Teil Züge einer neuen Systemkonkurrenz auf, in der die politische Regulierung wirtschaftlicher Beziehungen einen neuen Stellenwert bekommt – als Instrument in der Austragung internationaler Konflikte wie auch als Mechanismus der gemeinsamen Bewältigung globaler Herausforderungen (insbesondere des Klimawandels). Dabei verweist der Überfall Russlands auf die Ukraine darauf, dass im Zuge dieser geopolitischen Veränderungen sich auch die alte Friedens- und Sicherheitsordnung aufgelöst hat (mit Vorboten wie der Kündigung von Rüstungskontrollvereinbarungen, die Erweiterung der NATO, den Kriegen der USA im mittleren Osten u.a.).

Die EU und ihre Mitgliedstaaten, die lange maßgeblich von der alten Ordnung profitiert haben, sind gezwungen, sich in dieser neuen Ordnung zu verorten und ihre Souveränität (einschließlich einer eigenständigen außen und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit) zu behaupten. Sie müssen dies auch tun, da die Gefahr besteht, dass die EU anhand der beiden für sie geopolitisch relevantesten Zonen – Osteuropa und Mittelmeerraum (darin verknüpft entwicklungs- und sicherheitspolitische Fragestellungen, insbes. militärische Kapazität und Migrationsbewegungen) auseinanderbricht.

In einer übergreifenden Perspektive müsste sich in der EU hierfür ein eigener neuartiger Regulierungs- und Akkumulationstyp herausbilden, der zwar auf vorhandenen Grundprinzipien eines „europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells“ aufbauen kann, gegenüber der bislang obwaltenden EU-Regulatorik mit ihrem Mix aus ausufernden Vorschriften und Vermarktlichung gesellschaftlicher Infrastrukturen aber einen Pfadwechsel erfordert – zur europaweiten Stärkung öffentlich beherrschter Infrastrukturen und darauf bezogener Interventionen und Investitionen.

A.6 Vom Krisenmanagement zu progressiven Strukturreformen

Die „Fortschrittskoalition“ mit einer „gemeinsamen Fortschrittserzählung“ und als Einstieg in ein „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ – von diesen anfangs gepflegten und miteinander verschränkten Narrativen ist so gut wie nichts mehr übriggeblieben. Dabei signalisierte das Krisenmanagement im Zeichen des russischen Angriffskrieges wie auch des Klimawandels einen Bruch mit dem neoliberalen Paradigma – insbesondere in der staatlichen Bereitschaft, finanzielle Mittel ohne größere Rücksichtnahmen auf Schuldenbremsen und „Privat vor Staat“-Logiken und durchaus nicht nach Gießkannenprinzip, sondern in zweckgerichteten Budgets und Fonds zu mobilisieren.

Begründet war dies sicherlich mit Ausnahmesituationen und noch nicht einer regelhaften politischen bzw. gestalterischen Perspektive. Grundsätzlich gab es darin aber geeignete Einstiegspunkte in progressiver Perspektive – insbesondere auch in Verbindung mit dem Ringen um eine sozial gerechte Verteilung der inflations- und umbaubedingten Lasten und des Abbaus der gewaltigen Infrastrukturdefizite (und entsprechend tragfähige Kompromisse innerhalb der Koalition wie auch zwischen Bund, Ländern und Kommunen). Damit schien sich auch ein Raum für politische Lernprozesse zu öffnen – ein wichtiger Punkt angesichts der auch für die Linke geltende Tatsache, dass es jenseits der aktuellen Herausforderungen nur begrenzt tragfähige bzw. operativ durchdachte Lösungsperspektiven gibt und Fehler auf dem Weg dahin unvermeidlich sind.

Dieser Zusammenhang zwischen dem Krisenmanagement der Regierung und progressiven Strukturreformen besteht aber nicht mehr. Maßgeblich hierfür sind das kompromisslose Festhalten der FDP an der ihr eigenen Mischung aus Klientelismus und wirtschaftsliberaler Dogmatik, aber auch ein rot-grünes Regierungshandeln, das durch eine sozialtechnokratisch- paternalistische Attitüde geprägt ist („Wir machen das schon für Euch“). Die Blockade auf der Ebene tragfähiger politischer „Deals“ spiegelt sich auch gesellschaftlich. Statt gesellschaftlicher Kompromissbildungen bzw. „Deals“ erleben wir heute zunehmende Konfrontationen zwischen den bescheiden gewordenen sozialökologischen Regierungsplänen und den Interessenslagen einer zunehmenden Zahl von Bevölkerungs- und Berufsgruppen.

Zwar kann die „Ampelkoalition“ kein Bezugspunkt mehr für derartige Perspektiven sein. Aber es gilt, die Erfahrungen des bisherigen sozialdemokratischen und grünen Krisenmanagements zu reflektieren und für mittelfristige Perspektiven im Sinne nachhaltiger Strukturreformen wirksam werden zu lassen. Wir sehen die Entwicklung der gesellschaftlichen Infrastrukturen als Dreh- und Angelpunkt in der Bewältigung der großen Herausforderungen und Transformationen, aber auch als entscheidenden Bezugspunkt für die Gewährleistung eines für alle funktionierenden Alltagslebens und das gemeinsame Engagement unterschiedlicher Klassen, sozialer Milieus und Berufsgruppen.

B. Diskurscluster für die Zeitschrift

B.1 Sozialökologische Transformation und die Zukunft von Industrie und Handel

Der Umbau der stofflich-energetischen Basis folgt aus der Endlichkeit fossiler Ressourcen, den Herausforderungen des Klimawandels und der Notwendigkeit einer konsequenten Dekarbonisierung. Immer stärker steht er aber auch im Zeichen der Störung resp. Sicherung regionaler und internationaler stofflich-energetischer Wertschöpfungsketten und geoökonomischer Interessen. Wesentlich ist hierfür ein Verständnis, das die ökologische Transformation als Teil einer sozialen Transformation ansieht – mit Blick auf Migrationsbewegungen und internationale Arbeitsbeziehungen wie auch andere Formen gesellschaftlichen Arbeitens und Lebens.

Dieses Diskurscluster verbindet aus den bisherigen „spw-Traditionen“ insbesondere Schwerpunkte auf den Gebieten des sozialökologischen Umbaus und öffentlich induzierter Investitionen wie auch zur Wirtschaftsdemokratie und Zukunft industrieller Arbeit.

Wesentliche Elemente des Diskursclusters:

  • öffentliche Souveränität über Wertschöpfungs- und Lieferketten (unter Gewährleistung sozialer und ökologischer Standards)
  • zirkulare Ökonomie bzw. Kreislaufwirtschaft als Grundprinzip des künftigen ökologischen Wirtschaftsmodells
  • Neujustierung von Wertschöpfungsketten (Regionalisierung wie auch Beeinflussung kooperativer überregionaler bzw. internationaler Ketten)
  • Rolle des Staates auf dem Gebiet sozialökologischer Innovationen und Investitionen („Staat als Pionier“)
  • Verbindung zur Infrastrukturökonomie in ökologisch relevanten Bedarfsfeldern (Energie, Wasser, Verkehr/Logistik, Wohnen/Bauen …)
  • Digitale Datenökonomie als Basis und Steuerungsinstrument der sozialökologischen Transformation
  • Rolle industrieller Arbeit und Wissenschaft und Allianzen von Gewerkschaften, Klimabewegungen, regionalen Initiativen
  • Neue Formen gesellschaftlicher bzw. öffentlicher Einflussnahme (nachfrageorientierte Investitionspolitik, Investitionsfonds, Regulierungsräte u.a.)

B.2 Soziodemografische Transformation und die Zukunft des Sozialwesens

Tiefgreifende Veränderungen der Bevölkerungsstrukturen in den hochentwickelten Ländern des globalen Nordens stehen im Zeichen alternder Gesellschaften, der Veränderung von Familienmodellen und – insbes. geschlechtsspezifischer – Lebensentwürfen, globaler Disparitäten und Migrationsbewegungen, der Urbanisierung und räumlicher Disparitäten zwischen Stadt und Land u.a.

In den Wechselbeziehungen von Migrationsproblematik, Pflegenotstand (s. Demenzversorgung), Exklusion von Menschen mit Behinderungen, Abkoppelung sozialer Schichten und Räume, Wohnungsmisere u.a.m. liegt – bei weiter und wieder drohendem Reformstillstand – eine Sprengkraft, der nur durch den Um- und Ausbau des gesamten Systems von personenbezogenen Dienstleistungen und Infrastrukturen begegnet werden kann.

Dies offenbart aber auch die Relevanz dieses Clusters für Wertschöpfung und Beschäftigung. Dieses Diskurscluster verbindet aus den bisherigen „spw-Traditionen“ v.a. Schwerpunkte auf den Gebieten der Zukunft des Sozialstaates, darunter des Gesundheitswesens, zur solidarischen Ökonomie/neuen Gemeinwirtschaft wie auch zu Geschlechterperspektiven und zur Zukunft der Care-Arbeit.

Wesentliche Elemente des Diskursclusters:

  • Ökonomie personenbezogener Dienstleistungen und Infrastrukturen (wesentlicher Teil einer „Ökonomie des Alltagslebens“)
  • Wandel von einer transferorientierten Sozialstaatsperspektive in Richtung solidarischer Sozialwirtschaft/Care Economy
  • Ausweitung (bzw. Rückgewinnung) des Terrains sozialpolitischer Gestaltung u. sozialwirtschaftlichen Engagements (Wohnen, Gesundheit, Ernährung u.a.)
  • Systematisch stärkere Regionalisierung und Kommunalisierung des Gesundheitssystems (Public Health, poliklinische Strukturen)
  • Überwindung der sektoralen Fragmentierungen und systematisch veränderte Beziehungen zwischen Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen
  • Überwindung der sozialrechtlichen Fragmentierungen und systematisch veränderte Beziehungen zu anderen Rechtskreisen (wie dem Bildungssystem)
  • Perspektiven von Wohlfahrtsverbänden und Kommunen als öffentliche bzw. öffentlich betraute Träger von Dienstleistungen
  • Digitale Datenökonomie als Basis und Steuerungsinstrument des öffentlichen Managements soziodemografischer Entwicklungen
  • Allianzen von Gesundheits- und Sozialberufen/ Gewerkschaften und sozialer Selbsthilfe/freiwilligem Engagement

B.3 Digitale Transformation und die Zukunft von Wissen, Bildung und Information

Die digitale Transformation umfasst deutlich mehr als die Ersetzung analoger durch digitale Prozesse. Essenziell ist vielmehr, dass erst die Digitalisierung mit ihrem Potenzial für die Generierung, Kommunikation und Nutzung von Daten den Weg für eine umfassende Wissensökonomie bereitet – allerdings in einem Spektrum, das von der Enteignung menschlichen Wissens und künstlicher Verdummung bis hin zu neuen Formen demokratisch- emanzipatorischer Bildung und Partizipation reicht und sich im Übergang zu entwickelten Formen der KI noch weitaus deutlicher ausprägen wird.

Das progressive Potenzial der digitalen Transformation erschließt sich dabei einerseits in der Auseinandersetzung mit der kommerziellen Plattformökonomie, andererseits dann aber in der Nutzbarmachung für die sozialökologische und die soziodemografische Transformation, die Programmierung und Modellierung von Wertschöpfungs-, Stoffwechsel- wie auch personenbezogenen Versorgungsprozessen und eine Infrastrukturökonomie. Der spw-Diskurs kann hier insbesondere an den vorgängigen Schwerpunkten zur Analyse des „digitalen Kapitalismus“ anknüpfen und sie mit den ebenfalls schon formulierten Perspektiven eines „Infrastruktursozialismus“ verknüpfen.

Wesentliche Elemente des Diskursclusters:

  • Spezifika der digitalen daten- und netzwerkbasierten Ökonomie, ihrer Leitsektoren und ihrer Beziehungen zu Industrie, Handel und Infrastruktur
  • (internationale) regulatorische „Systemkonkurrenz“ in der Entwicklung und Ausrichtung digitaler Infrastrukturen und die Rolle der EU
  • öffentlich-rechtliche Dateninfrastrukturen als Teil der Infrastrukturökonomie und Alternative zu einer datenkommerzialisierenden Plattform-Ökonomie
  • Perspektiven dezentral basierter Mechanismen der kollaborativen KI-gestützten Datennutzung (s. EU-Infrastruktur GAIA-X)
  • Emanzipatorische teilhabeorientierte Erziehung und Bildung unter den Bedingungen von KI und digitaler Vernetzung
  • Digitalisierung und (nationale) Sicherheitsarchitekturen: Vulnerabilität und Resilienz im Datenraum
  • Digitale Transformation als Chance für eine intelligente „Programmierung“ und Planung ökonomischer Prozesse

B.4 Demokratie, Partizipation und soziale Bewegung

Die stark programmatisch ausgerichteten Transformationsthemen erfordern ein Diskurscluster, der sich mit den soziopolitischen Rahmenbedingungen und Trägerschaften für progressive Strukturreformen und eine erneuerte sozialistische Perspektive beschäftigt – und hierbei selbst noch progressive Strukturreformen im Sinne einer Weiterentwicklung des politischen Systems (insbesondere in seinen Beziehungen zur Zivilgesellschaft) ins Auge fasst.

Das für die sozialdemokratische und rotgrüne Linke typische Wechselspiel zwischen technokratisch-„staatstragendem“ Paternalismus und bewegungsverbundener Radikalität muss angesichts der massiven Probleme in der politischen Regierbarkeit bürgerlich-demokratischer Systeme (wie auch einer alltagstauglichen Regulatorik) und eines erstarkenden Rechtspopulismus grundlegend neu gedacht und formuliert werden (inkl. einer „populardemokratischen“ Hypothese).

Dabei können wir uns im spw-Kontext auf lange Traditionen in der Befassung mit Klassen- und Milieustrukturen (insbesondere in Verbindung mit der „Hannoveraner Schule“), gesellschaftlichen Bündnissen und Allianzen (von „antimonopolistischen“ Konstellationen bis hin zum „Bündnis von Arbeit, Wissenschaft und Kultur“) stützen.

Wesentliche Elemente des Diskursclusters:

  • Veränderungen in Sozial- und Milieustrukturen und mit ihnen verbundener soziopolitscher Spaltungslinien
  • Reaktionäre Dynamiken berufs- und mittelständischer Bewegungen und progressive Alternativen
  • Gewerkschaften als ein in industriellen Schwerpunkten wie auch alltäglichen Lebenswelten verankertes Bündnis
  • Zukunft und Neudefinition des „Volkspartei“- Konzeptes in sozialdemokratischer resp. rot-grüner Perspektive
  • Sozial-kulturelle und habituelle Identitäten und Symbolik als Spaltungs- und Bündnisthemen
  • progressiv-demokratische Öffentlichkeit im Zeichen digitaler Medien und fragmentierter Wahrnehmung
  • Staat, Kommunen und Selbstorganisation: Grundlinien einer progressiv-emanzipatorischen regulatorischen Perspektive
  • Systemische Stärkung der Kommunen als Orte zivilgesellschaftlicher Kommunikation, Initiativen und Bündnisse

B.5 Geopolitische Umbrüche und die Zukunft Europas

Die Zukunft Europas wird angesichts der Konfliktkonstellation zwischen den USA und der VR China maßgeblich davon abhängen, inwiefern es der EU gelingt, im Lichte der zuvor skizzierten Diskurscluster ein eigenständiges Wirtschafts- und Sozialmodell als Alternative zu anderen globalen Machtzentren zu etablieren.

Die EU ist mit ihren wirtschaftlichen Verflechtungen wie auch ihren demokratischen und sozial-politischen Institutionen einerseits der bisher fortgeschrittenste transnationale Wirtschaftsraum. Andererseits erweisen sich die Vielfalt der spezifischen institutionellen Arrangements in den Mitgliedsländern und die damit verbunden Produktivitätsunterschiede als Hemmschuh für die Entwicklung eines kohärenten europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells. Dieses Modell bildet aber den Ausgangspunkt für erfolgreiche Transformations- und Konvergenzprozesse sowie partnerschaftliche Beziehungen zu anderen Wirtschaftsräumen.

Hierzu muss eine durchgreifende Reform des Wirtschafts- und Sozialmodells mit der Herausbildung einer neuen europäischen und globalen Friedens- und Sicherheitsarchitektur einhergehen, die sich den aktuellen konfrontativen Logiken eine modernisierte Entspannungs- und Verteidigungspolitik entgegenstellt.

Wesentliche Elemente des Diskursclusters:

  • die Verortung der EU in einer multilateralen Welt, v.a. im Verhältnis zu den USA und China sowie den EU-Grenzräumen (Mittelmeerraum, Osteuropa)
  • die Herausbildung eines v.a. binnenwirtschaftlich und infrastrukturell orientierten Akkumulations- und Regulationstyps
  • transeuropäische Infrastrukturen u.a. in Bezug auf Transportsysteme, energetisch- stoffliche Kreisläufe (inkl. Lebensmittel) und die Datenökonomie
  • EU-weite und globale Durchsetzung sozialer Rechte der Arbeitnehmer im Kontext der europäischen Klimapolitik (Just Transition-Strategie)
  • die EU-weite Steuerungsfähigkeit in Bezug auf das Innovationssystem, Wertschöpfungsketten, räumliche Strukturen und Finanzmärkte
  • eine gesteuerte, in Verbindung mit soziodemografischen Bedarfen in großem Maßstab zu realisierende Einwanderung
  • die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit in Verbindung mit Perspektiven gemeinsamer Sicherheit mit anderen Staaten
  • Stärkung der Internationalen Arbeitsorganisation und anderer arbeitsorientierter internationaler Institutionen und Netzwerke
  • Potenziale und Kriterien grenzüberschreitender progressiver Allianzen auf staatlicher und NGO-Ebene
2025-07-02T12:59:42+02:00
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