Online Special

Meinungsbeitrag zum Bundesparteitag

#meinung #debatte #spw

Jan Dieren ist Mitglied des Bundestages.

von Jan Dieren

Egal aus welchem politischen Lager oder Flügel der Partei: Mantraartig wird jede Analyse zur Lage der Sozialdemokratie begonnen mit dem Hinweis auf das desaströse Ergebnis der letzten Bundestagswahl, der Beteuerung, es dürfe danach kein Weiter-so geben und dem Appell, es brauche eine Erneuerung der Partei. Das ist nicht ganz neu, sondern ereignete sich ganz ähnlich beispielsweise nach den Wahlniederlagen der SPD in den Jahren 2009 und 2017.

Der Leitantrag des Parteivorstandes für den diesjährigen Bundesparteitag stimmt nun in dieses Mantra ein, spricht von einer „schmerzhaften Niederlage,“ einem „historischen Einschnitt“ und der „Erneuerung,“ die aufgrund dieses Ergebnisses nötig sei. Bemerkenswert ist, dass im Leitantrag selbst davon gesprochen wird, dass die Partei im Grunde seit Jahren dieselben Antworten gibt, ohne aber die politische Richtung maßgeblich zu ändern: „Diese Antwort klingt, wie unsere Antworten seit Jahren klingen.“

Das stimmt.

In Religionen wie Hinduismus oder Buddhismus erfüllt ein Mantra wichtige Funktionen bei Gebeten und Meditationen. Es hilft dabei, sich von der Außenwelt ab und nach innen zu wenden. Erst das Wiederholen bedeutungsvoller Worte gibt den rituell verrichteten Handlungen eine wirkliche Bedeutung. So ist es in vielen Religionen: Die rituellen Handlungen sind eher nebensächlich, es kommt auf die innere Geisteshaltung an. In der Politik ist es umgekehrt: Was man sagt, ist das eine – was man tut, darauf kommt es an.

Die SPD also nimmt sich nun mit dem Leitantrag des Parteivorstandes vor, ein neues Grundsatzprogramm zu entwerfen. Dafür spricht zunächst viel. Ein Programm-Prozess bietet beispielsweise die Möglichkeit, entlang dieses Prozesses Menschen zu politisieren und zu organisieren. Auch könnte er die Gelegenheit bieten, Klärung in einigen wichtigen Fragen der Gegenwart herbeizuführen, zum Beispiel, wie sich die Sozialdemokratie zur weltweiten Aufrüstung und der Frage, zur aufziehenden Gefahr des nächsten großen Krieges verhalten sollte, oder der Frage, wie wir der Klimakrise in einer sozial gerechten Weise begegnen können.

Wie so ein Programm-Prozess nicht in erster Linie eine Beschäftigung mit sich selbst wird, das konnte man beim linken Parteien-Bündnis „Frente Amplio“ (FA) in Uruguay beobachten. Nachdem sie 2019 nach 15 Jahren Regierung die Präsidentschaftswahlen verloren haben, wurde auch dort in der Partei diskutiert, was wohl Ursachen dieser Niederlage waren und welche Schlüsse man daraus ziehen müsste. Statt aber die Frage, warum die Menschen sie wohl nicht mehr gewählt haben, nur unter den eigenen Mitgliedern auszudiskutieren, entschloss man sich, die Menschen selbst zu fragen. Unter dem Motto „FA te escucha“ (FA hört Dir zu) zogen Partei-Vertreter:innen durchs Land und fragten die Menschen, warum sie die Partei nicht mehr gewählt haben und was sich ändern müsste, damit sie das wieder tun würden. Die Antworten flossen dann ein in einen Programm-Prozess für die kommenden Wahlen – die von der FA wieder gewonnen werden konnten.

Wer solche Fragen heute mit Blick auf die SPD stellt, hört sicher nicht nur Antworten, die ihm gefallen. Ein Thema, das dabei immer wieder genannt wird, in den unterschiedlichsten Formulierungen sowohl von Leuten, die sich von der SPD abgewandt haben, als auch von solchen, die sie (noch) wählen: Die SPD vertrete nicht mehr „unsere Interessen,“ die Interessen der arbeitenden Menschen oder „kleinen Leute.“ Es ist hier nicht der Ort, um ausführlicher über die dabei meist gewählten Begrifflichkeiten zu diskutieren und herauszufinden, wer genau damit gemeint ist. In dieser Kritik steckt aber eine Erwartungshaltung, die oft enttäuscht wird: In einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die auch über „die Politik“ ausgetragen wird, wurde die SPD von einer bestimmten Gruppe von Menschen als ihre Interessenvertretung angesehen und wird das heute zu häufig nicht mehr. Um das zu ändern, reichen weder einzelne politische Maßnahmen noch die beste Kommunikationsstrategie. Voraussetzung, um das ändern zu können, ist eine klare Verortung in eben dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung: Wessen Interessen vertritt die Sozialdemokratie? Und wessen nicht? Schließlich geht es in der Politik nicht bloß darum, Probleme zu lösen. Es geht darum, gesellschaftliche Verhältnisse zu gestalten. In der Auseinandersetzung darum, wie das passieren sollte, gibt es sehr unterschiedliche Interessen. Manche dieser Interessen stehen in solcher Weise im Widerspruch, dass es keine Lösung im Sinne aller gibt, sondern man sich für eine Seite entscheiden muss.

Der Begriff „Partei der Arbeit“ ist im Grunde gut geeignet, um auf den Punkt zu bringen, wo sich die Sozialdemokratie dabei verortet. Man sollte ihn nur nicht gebrauchen, um zwei Gruppen von Menschen gegeneinander auszuspielen, deren Interessen ähnlich und voneinander abhängig sind: Die Gruppe der lohnabhängig Beschäftigten und ihrer Angehörigen (die mittelbar von der Lohnarbeit abhängig sind und häufig unbezahlte Arbeit im Haushalt verrichten) einerseits sowie andererseits die Gruppe derjenigen, die an ihre Stelle treten könnten, aber derzeit auf den Sozialstaat angewiesen sind.

Die größte Aufgabe für ein neues Grundsatz-Programm der SPD dürfte aber sein, eine Zukunftsvorstellung der Sozialdemokratie zu erarbeiten. Es ist kein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Sozialdemokratie, dass ihr eine Zukunftsvorstellung fehlt, die über ein oder zwei Legislaturperioden hinausreicht. Soll es aber mit dem Programm-Prozess gelingen, dass die SPD weniger als eine Partei wahrgenommen wird, der das Regieren zum Selbstzweck geworden ist, muss eine konkrete Perspektive für die Zukunft unserer Gesellschaft ein notwendiger Teil davon sein. Denn die Sozialdemokratie muss – wie die gesellschaftliche Linke überhaupt – ein positives Bild, eine Perspektive aufzeigen können, wohin wir unsere Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wollen. Der Fundus der eigenen Geschichte, aus der die Partei dabei schöpfen kann, ist reichhaltig. Diese Zukunftsvorstellungen in die Gegenwart zu übersetzen, als Leitidee für eine Sozialdemokratie auf der Höhe der Zeit, das wäre eine lohnenswerte Arbeit – für die deutsche und die weltweite Sozialdemokratie. Ob der angesetzte Zeitraum von zwei Jahren für die Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms dafür ausreichen wird, ist aber fraglich.

2025-06-27T12:45:32+02:00
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