Heft 256 – 03/23
Rezension: Solidarität in den Krisen der Arbeitswelt. Aktualität kollektiver Widerstandserfahrungen.
#kultur #kritik #spw
Paul Oehlke ist Sozialwissenschaftler; Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zunächst zu sozialen Bewegungen, dann im Rahmen staatlicher Humanisierungsaktivitäten zu arbeitspolitischen Innovationsprozessen in Programmen und Projekten auf nationaler, regionaler und europäischer Ebene; ab 2007 weiterhin zu flüchtlings- und prostitutionspolitischen, verfassungs- und wirtschaftspolitischen Fragestellungen in diversen kritischen Zeitschriften – hier etwa: Sozialismus 2/2008 im Supplement; Widerspruch 50, 57 (2/2009); Z 104, 106; BdWi 2018, jW am 21.1.2020.
von Paul Oehlke
Richard Detje / Dieter Sauer
Solidarität in den Krisen der Arbeitswelt
Aktualität kollektiver Widerstandserfahrungen
Argument Verlag, Hamburg 2021
160 Seiten, 2023, 12,80 €
ISBN 978-3-96488-181-6
Richard Detje und Dieter Sauer analysieren schon seit zwölf Jahren Krisenerfahrungen der Beschäftigten in ihrem Arbeitsleben. Dies erfolgt vor Ort in ausgewählten Betrieben aus Industrie- und Dienstleistungsbereichen, in dieser Studie mit jüngst kampferfahrenen Betriebsrät:innen und Gewerkschaftssekretär:innen. Die Autoren wenden sich nach der Corona-Krise im letzten Band (siehe hierzu spw 6, 2021, 75, 76) nunmehr der Entwicklung kollektiver Widerstandserfahrungen in Interviews und Gruppendiskussionen zu. Hierbei steht die Frage der Solidarität im Zentrum, die an das Lebenswerk ihres verstorbenen Kollegen Otto König (1945-2023) in der IG Metall Geschäftsstelle Gevelsberg-Hattingen anknüpft.
Solidaritätsbegriff auf dem Prüfstand
Vor dem Hintergrund einer multiplen Krisensituation und ihrer hautnahen Zuspitzung während der Corona-Epidemie identifizieren Detje und Sauer eine erneuerte Aufwertung des Solidaritätsbewusstseins. Empathie und Hilfsbereitschaft überbrücken den gestörten sozialen Zusammenhalt in einem gemeinsam handelnden „Wir“. So sinngemäß in dem Motto „ungebrochen solidarisch“ des Maiaufrufs 2023 des DGB. Ihrem klassenübergreifenden Solidaritätsbegriff in einer krisengebeutelten „Schicksalsgemeinschaft“ liegen freilich Veränderungen in der Arbeitswelt zugrunde, die allgemeinem soziologischen Verständnis nach zunehmend von sozialstrukturellen Differenzierungen und individualisierten Lebensstilen geprägt sind.
Diesem vielfach geteilten Befund stellen die Autoren eine neu erwachte Kampfbereitschaft seit dem Herbst 2022 quer durch Industrie und Dienstleistungen gegenüber, insbesondere im Bereich öffentlicher Infrastrukturen: Post, Bahn, Nahverkehr und Kommunen. Sie sprechen von einer neuen Welle der Solidarität über betriebliche, professionelle und sektorale Schranken hinweg, die sich mit zivilgesellschaftlichen Bündnispartnern von Sozialverbänden bis zur Klimaund Ökologiebewegung entfaltet. In dieser gesellschaftlichen Aktivierung wenden sich die Autoren alltäglichen Erfahrungen und Entstehungskontexten von Solidarisierungen zu, die sich weniger im „medialen Radar“ befinden, aber noch zu hebende Lernpotenziale enthalten.
In kapitalistischen Verwertungsprozessen begrenzte Solidarität
Vor den betrieblichen Fallstudien wollen die Autoren den begrifflichen Rahmen im konstituierenden Kontext der „arbeitsweltlichen Geschichte“ klären. Dabei rekurrieren Detje und Sauer allerdings nicht auf die Entstehung der Arbeiterbewegung als „historischen Lernprozess“ (Thompson, Vester) im Zuge frühkapitalistischer Enteignung, Landnahme, Ausbeutung und Verarmung. Statt eines polit-ökonomischen Zugangs der historischen Entwicklung von Solidarität wählen sie in Abwendung von moralischen Bekundungen „karikativer“ Alltags- und Menschenrechtssolidarität eine industrie-soziologische Herangehensweise, ausgehend von den aktuellen Erfordernissen zusammenhängender Produktionsprozesse. Diese verlangen entsprechende kooperative Strukturen des Arbeitsprozesses als „materiell-sozialer Basis der Solidarität“ in einem funktionalen und zugleich sozialen Raum mit kollektiven und performativen Lernprozessen nach Thompson: „it was present at its own making“ (134).
Traditionelle Solidaritätsstrukturen unterliegen jedoch einer fortschreitenden Erosion durch Dezentralisierung der Betriebe, Vereinzelung in der Arbeit und systematische Abwertung von Beschäftigung, die organische Formen der Zusammenarbeit, in der Zeit wachsende Kollegialität und bewusstes organisatorisches Interessenhandeln beim Outsourcing von Betriebsteilen erschweren. Hierbei unterscheiden die Autoren in ihren Fallbetrieben unterschiedliche Felder in ihren hemmenden Bedingungen: schrumpfende Industriearbeit mit Verlagerungstendenzen in der Fertigung, zunehmende industrielle Angestelltentätigkeiten unter (digitalem) Rationalisierungsdruck und das breite Feld der privaten und öffentlichen Dienstleistungen mit restriktiven Beschäftigungs- und komplexen Organisationsbedingungen, zudem bei zersplitterten und prekären Arbeitsformen mit häufig von Migrant:innen geprägten Belegschaften.
Angesichts der unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken und interessenpolitischen Strukturen skizzieren Detje und Sauer ebenso vielfältige Formen des Widerstands. Bei Betriebsschließungen und starken Interessenvertretungen sorgen die Kämpfe um die Erhaltung der Arbeitsplätze für breiten Zusammenhalt, selbst wenn diese in Sozialplänen und Transfergesellschaften nur bedingt erfolgreich verlaufen, etwa bei den Schließungen von Werften in Bremen und Hamburg, hier unter dem bekannten Motto: „Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ So sehr die Fertigungsbelegschaften den Kern des freilich ermüdenden Widerstands bilden, so wenig sind die numerisch wachsenden, vielfach qualifizierten Angestellten in der Industrie bereit, sich widerständig zu organisieren. Betriebsräte stehen vor der schwierigen Aufgabe, statt „Politik für die Arbeiter … jetzt Politik mit den Angestellten“ (146) zu machen.
Grenzüberschreitende Solidarität in sozialer Perspektive
Wie diese Formen des Widerstands wider alle begrenzenden Bedingungen kapitalistischer Verwertungslogik dennoch entstehen können, zeigen sie an einzelnen Beispielen – etwa im Wandel von Fertigungs- zu Angestelltenbelegschaften, bei dem im Zuge von zunehmend indirekten Steuerungsmethoden der häufig ältere Betriebsrat individuelle Kommunikationsformen direkter Ansprache entwickeln muss. Strategien für die zumeist jüngeren Kolleg:innen stellen einen herausfordernden Paradigmenwechsel für alle Beteiligten dar. Dies wird bei Arbeitszeitfragen besonders deutlich: weitgehende, zumeist gesetzlich abgesicherte Regulierung in der Fertigung oder selbstbestimmte Einteilung im Homeoffice, allerdings bei vorgegebenen Ergebnissen: im Extremfall Selbstausbeutung durch Autonomie! Zuweilen in solchem doppelten Widerspruch befangen, ist der Betriebsrat gezwungen, eine aktivierende Vermittlungsfunktion zu übernehmen.
Im Kampf von Mitarbeiter:innen eines ausgegliederten Servicebereichs eines städtischen Klinikums um die Rückkehr in einen Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes erfolgt eine Bündelung zentraler Fragestellungen grenzüberschreitender Solidarität, hier zwischen Beschäftigten in der Reinigung, Wäscherei, Küche und im Zentrallager, Waren und Patiententransport mit denen in Pflege- und medizinischen Bereichen. Es geht um nicht weniger als die gespaltene Logik gesundheitsökonomischer Effizienz wieder in die um die Sorge der Patienten zu überführen – also um die aktuelle Frage moralischer Ökonomie, in der gegenüber betriebswirtschaftlich verengten Erwägungen die sozialen und finanziellen Abwertungen von Servicefunktionen wie gewerkschaftlicher Interessenvertretung in solidarischen Arbeitskämpfen überwunden werden können. Erfolge verlangen aber die Entwicklung übergreifender Solidarität auf kommunaler Ebene: in Zivilgesellschaft, Medien und Politik.
Fazit
Die vorliegende Darstellung kollektiver Widerstandserfahrungen zeigt an ausgewählten Beispielen, wie unter vielfach autoritär „ versperrten“ Rahmenbedingungen einer radikalisierten Marktgesellschaft sich Belegschaften, wenn auch häufig scheiternd, wieder gegenüber einseitigen finanziellen Kalkülen des Managements zu wehren beginnen. Dabei besticht die sachliche Argumentation, die klare Gliederung der einzelnen Entwicklungsund Entscheidungsprozesse bis hin zu den abschließenden Schlussfolgerungen der Solidarisierung als „Möglichkeitssinn“ (153). Die Erschließung notwendiger Solidarisierungen über den Betrieb hinaus führt die anfängliche Fokussierung auf betriebliche Kooperationsstrukturen wieder in die Gesellschaft als Hort der Solidarität, die ihre modernen Anfänge in frühkapitalistischer Aneignung und Exploitation von Arbeit erfuhr.