Heft 259 – 02/2024
Rezension: Kapitalismus & Demokratie
#kultur #kritik #spw
Thilo Scholle ist Mitglied der spw-Redaktion, Jurist und lebt in Lünen.
von Thilo Scholle
Quinn Slobodian
Kapitalismus ohne Demokratie
Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und
Steueroasen zerlegen wollen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
428 Seiten, 32 €
Mit dem Buch „Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus“ hat der kanadische Historiker Quinn Slobodian vor einigen Jahren eine ausgesprochen beeindruckende Studie zur intellektuellen Entwicklung neoliberalen Denkens vorgelegt.
Der vorliegende Band „Kapitalismus ohne Demokratie“ widmet sich im Anschluss an diese Thematik eher libertären Ausprägungen neoliberalen Denkens: Im Original „Crackup- Capitalism“ genannt, geht es hier weniger um die neoliberale Durchdringung staatlicher Strukturen, sondern um das Ziel einer Abschaffung staatlicher Strukturen überhaupt. Als einen wesentlichen Zielpunkt dieser über die letzten Jahrzehnte durchaus heterogenen Ansätze mach der Autor dabei die Zerschlagung größerer Territorialstaaten zu Gunsten von kleinen Einheiten eher von der Größe von Stadtstaaten wie etwa Hongkong, Singapur, oder den Vereinigten Arabischen Emiraten aus. Neben den aus der geringen Größe abgeleiteten eingeschränkten machtpolitischen Ressourcen dieser Staaten sieht der Autor hier vor allem das Ziel einer noch stärkeren In-Konkurrenz-Setzung von Staaten als analytisch- strategischen Hintergrund solcher Zielsetzungen. Vorschläge, die in Richtung einer räumlichen und inhaltlichen Minimierung staatlicher Strukturen gehen, bilden denn auch den roten Faden der Darstellung.
Die Verkleinerung der Nationalstaaten muss dabei nicht immer über eine Aufteilung des jeweiligen Staates erfolgen. Als einen wesentlichen Ansatzpunkt des libertären Denkens macht Slobodian die Entwicklung von besonderen „Zonen“ innerhalb von Nationalstaaten aus. Eine „Zone“ in diesem Sinne ist „eine Enklave, die aus dem Territorium eines Nationalstaats herausgelöst und von den üblichen Formen der Regulierung ausgenommen wird.“ Innerhalb der Zone würden oft die Besteuerungsbefugnisse aufgehoben, so dass Investoren, die dort tätig werden, de facto selbst festlegen könnten, an welche Regeln sie sich halten wollten. Zonen seien daher beinahe extraterritoriale Gebiete. Der Autor zählt weltweit bereits mehr als 5.400 solcher Zonen. Befürworter der Zonen würden erklären, die Utopie des freien Marktes durch Sezession und Fragmentierung von Nationalstaaten durchsetzen zu können. Letztlich entwickele die Zone im kleinen Maßstab dann das Modell eines neuen Staates für alle. Genau an dieser Stelle erklärt sich auch der Sinn des Begriffs „Crack-up-Kapitalismus“ – Slobodian möchte damit eine aktuelle Beschreibung der kapitalistischen Welt auf den Begriff bringen, „die zunehmend vernetzt und zugleich zunehmend fragmentiert ist“.
Gegliedert ist der Band in drei Teile, die den verschiedenen Varianten der Fragmentierung nachgehen. Einleitend wird von „Inseln“ gesprochen. Ausgangspunkt der Darstellung ist Hongkong und die Geschichte, wie Milton Friedman die damalige Kronkolonie in den 1970er Jahren als Musterbeispiel neoliberalen Denkens erkor: Als Territorium mit eingeschränkter Demokratie, aber weitgehend ungeregelten Marktverhältnissen (bei denen Friedman und seinesgleichen die eher oligarchischen Eigentumsstrukturen gerne übersahen). Es folgt ein Blick auf die Rolle der City of London sowie das von dort ausgehende Expansionsprojekt Carnary Wharf und die letztlich zumindest vorrübergehend erfolgreiche Bemühung der Thatcher-Regierung in den 1980er Jahren, die eigentliche Stadt London in diesen Bereichen zu entmachten. Ziel war die Steuerung eines Teils der britischen Hauptstadt als gewinnorientiertes Unternehmen, das demokratischer Kontrolle und Gestaltung verschlossen bleiben sollte. Abgeschlossen wird der Abschnitt mit einem Kapitel über Singapur.
Der zweite Abschnitt ist überschrieben mit „Phylen“, angelehnt an die Vorstellung von Stämmen in der Antike. Interessant ist dabei die Darstellung der Entwicklung von „Homelands“ im Apartheid-Südafrika der 1980er Jahre. Auch hier spielte Milton Friedman als intellektueller Ideengeber und persönlicher Netzwerkknoten eine wichtige Rolle. Die „Homelands“ sollten eine stärkere Trennung der Bevölkerungsgruppen im rassistischen Staat ermöglichen, und zugleich die Illusion demokratischer Selbststeuerung dieser Gebiete erzeugen. Mit dem Homeland der Ciskei stellt Slobodian ein Beispiel dafür vor, wie auch hier mit antistaatlichem Denken und Varianten einer Durchlöcherung von Staatlichkeit experimentiert werden konnte. Die Ciskei sollte so zum kapitalistischen Musterstaat werden – im Rahmen einer bei den „weißen“ beratenden Akteuren von Außerhalb durchaus ambivalenten Haltung zum Thema „Rassentrennung“. Geschildert werden im Abschnitt weiterhin separatistische Initiativen mit ähnlichen politisch-ökonomischen Zielsetzungen in den USA selbst – die im Unterschied zu den anderen Beispielen allerdings nicht zur Umsetzung kamen. Der letzte Beitrag dieses Abschnitts widmet sich sodann der Entwicklung Liechtensteins zu einer Steueroase.
Der abschließende Abschnitt trägt den Titel „Franchise-Nationen“. Hier beginnt der Autor mit einem Kapitel zu Entwicklungen in Somalia nach dem Sturz des Diktators Siad Barre im Jahr 1991 und dem auch dort unternommenen Versuch, in dem im Norden gelegenen Landesteil Somaliland eine Enklave des freien Marktes zu errichten. Slobodian weist allerdings auf den Widerspruch hin, dass Somaliland gerade der relativ erfolgreichste Teil des zerfallenen Staates der am stärken „normale“ Nationalstaat dieses Gebietes ist – die Initiativen der neoliberalen Akteure hier also faktisch gar keine Wirkung entfaltet haben. Weiteres Beispiel dieses Abschnitts ist Dubai als ein weitgehend auf private ökonomische Interessen ausgerichtetes Staatswesen. Im folgenden Kapitel wird die Idee der „Charter-Städte“, also letztlich komplett privat organisierter Städte, vorgestellt, die insbesondere im Silicon Valley Befürworter findet, deren konkrete Umsetzung bislang nur in Ansätzen beobachtbar ist. Der letzte Text widmet sich sodann der immateriellen Welt mit der Rolle des Metaverse für eine buchstäbliche Flucht aus der Staatlichkeit in digitale Welten.
Slobodian schreibt gut und prägnant. Mit dem gewählten Blickwinkel gelingt ihm zudem ein anderer Zugriff auf die Geschichte des Neoliberalismus als allgemein üblich. Mit den gewählten Beispielen libertären Denkens nimmt er einerseits einen radikalen Rand neoliberalen Denkens in den Blick, zeigt aber zugleich die personellen und ideellen Verflechtungen in das Zentrum des Neoliberalismus. Viele der vorgestellten Ereignisse und Denkansätze sind in öffentlichen Diskussionen wenig geläufig, etwa zu den „Homelands“ in Südafrika sowie den sezessionistischen Denkansätzen in den USA. Eine Einordnung der Denkansätze in eine allgemeine Beschreibung neoliberalen Denkens erfolgt allerdings nur in Ansätzen. Insgesamt handelt es sich um einen lesenswerten Band, der die Fragmentierung staatlicher Räume als zentralen Baustein neoliberal-libertären Denkens aufzeigt. Deutlich wird aber auch die unterschiedliche Erfolgsbilanz solcher Ansätze – so florieren mit Hongkong, Singapur und Dubai letztlich doch Zonen, hinter denen klassische und durchsetzungsfähige nationalstaatliche Macht steht, während viele der anderen geschilderten Beispiele bzw. Entwicklungsambitionen letztlich Theorie blieben oder in der Praxis scheiterten.