Heft 260 – 03/2024
Theorien des digitalen Kapitalismus
#kultur #kritik #spw
Thilo Scholle ist Mitglied der spw-Redaktion, Jurist und lebt in Lünen.
von Thilo Scholle
Tanja Carstensen/Simon Schaupp/Sebastian Sevignani (Hrsg.)
Theorien des digitalen Kapitalismus
Arbeit, Ökonomie, Politik und Subjekt
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
533 Seiten, 28 €
Technologische Entwicklungen können auch Veränderungen des jeweiligen Kapitalismusmodells zur Folge haben. Die Frage, wie sich technologische Entwicklungen und die Beschaffenheit der jeweiligen kapitalistischen Formation zueinander verhalten, ist Gegenstand vielfältiger Debatten. In den letzten Jahren ist insbesondere mit Blick auf das Aufkommen digitaler Technologien das Bild des „digitalen Kapitalismus“ geprägt worden. Der vorliegende Band möchte sich diesem Thema mit einer Zusammenstellung grundlegender Texte widmen. Versammelt sind im Band insgesamt 25 Texte, die auf die Abschnitte „Arbeit“, „Ökonomie“, „Politik“ und „Subjekt“ verteilt sind. Bei sieben Beiträgen handelt es sich um Nachdrucke von anderer Stelle, die übrigen Texte sind Originalbeiträge.
In ihrer Einleitung halten die Herausgebenden fest, der Band solle eine Zusammenschau einzelner Aspekte und Veränderungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bieten. Verbunden werden sollen dabei die nach Ansicht der Herausgebenden im deutschsprachigen Diskurs bislang weitgehend „sprachlos nebeneinanderstehenden Ansätze der kritischen Politischen Ökonomie und der Science and Technology Studies“. Für die weitere Forschung nötig erscheinen ihnen „1. eine stärkere produktivkrafttheoretische Unterfütterung, die herausarbeitet, was das diesbezüglich Neue am digitalen Kapitalismus ist; 2. ein konsequentes Zusammendenken von Produktion und Reproduktion – auch mit Blick auf ökologische Fragen, 3. die Weiterentwicklung intersektionaler und international vergleichender Perspektiven.“ Die einzelnen Beiträge sind durchweg lesenswert, zeigen aber, dass „Aspekte des digitalen Kapitalismus“ möglicherweise ein etwas präziserer Titel für den Band gewesen wäre, da die einzelnen Texte doch in sehr unterschiedlicher Tiefe (auch) Fragen der Theorie verhandeln, oft aber eher Beschreibungen einzelner Aspekte und Ausprägungen des Einsatzes digitaler Technologien in bestimmten Bereichen von Gesellschaft oder Ökonomie beinhalten. Es zeigt sich, dass die Relevanz digitaler Technologien für den aktuellen Kapitalismus zunächst einleuchtend wirkt, eine wirklich tiefe Auseinandersetzung auf theoretischer Ebene bislang aber nur von wenigen betrieben wird.
Im ersten Abschnitt „Arbeit“ schreibt etwa Kylie Jarrett über „digitale Arbeit als feminisierte Arbeit“ – durch den Zusammenbruch der Unterscheidung von Arbeit und Freizeit werde in der digitalen Wirtschaft die feminisierte Sphäre der Reproduktion in wirtschaftliche Kalküle mit hineingezogen. Jamie Woodcock widmet sich der Plattformarbeit und hält fest, Plattformen hätten sich in den letzten Jahren zwar als „Laboratorium für das Kapital“ erwiesen, könnten zugleich aber auch ein Testfeld für neue Formen des Widerstands und der Organisation von Arbeitnehmer:innen darstellen. Andreas Boes und Tobias Kämpf stellen ihren Zugriff auf die Relevanz digitaler Technologien unter dem Begriff „Produktivkraftsprung“ vor. Ähnlich wie die Industrialisierung die Entfesselung der Produktivkräfte auf Seiten der Handarbeit bedeutet habe, treibe heute der Aufstieg des Informationsraums in Gestalt der digitalen Transformation eine Entfaltung der Produktivkräfte auf Seiten der Kopfarbeit voran. Diese gesellschaftstheoretische Perspektive dürfe nicht mit der „wenig ertragreichen mikro- oder makroökonomischen Suche nach Veränderungen in den Produktivitätskennzahlen der Wirtschaftsstatistik“ verwechselt werden. Marx folgend gehe es weniger um die ökonomische Kategorie der Produktivität, sondern vielmehr um eine wesentliche Erweiterung der menschlichen Handlungsfähigkeit.
Im Abschnitt „Ökonomie“ hält Christian Fuchs fest, in der heutigen Gesellschaft seien digitale Technologien in Kombination mit digitaler Arbeit wichtige Produktivkräfte, die in fast allen Systemen und Momenten der Gesellschaft verwendet würden und diese prägten. Die heutige Gesellschaft sei digitale Gesellschaft und kapitalistische Gesellschaft zugleich. Akkumulation im digitalen Kapitalismus funktioniere auf den unterschiedlichen Sphären: Im Bereich der Wirtschaft erfolge Akkumulation von digitalem Kapital auf der Grundlage digitaler Waren, im Bereich der Politik entwickele Akkumulation von Entscheidungsmacht in Bezug auf die Kontrolle von digitalem Wissen und digitalen Netzen, und im Bereich der Kultur lasse sich Akkumulation von Reputation, Aufmerksamkeit und Respekt durch die Verbreitung von Ideologien im und über das Internet beobachten. Nick Srnicek plädiert in einem folgenden Beitrag dafür, mit Blick auf Regulierungsnotwendigkeiten statt der „Faszination“ des freien Zugangs zu Daten zu folgen, eher auf Fragen der Monopolisierung sowie auf die mit dem notwendigen hohen Anlagekapital verbundenen Marktzutrittsschranken zu schauen. Für eine Rückgewinnung der Kontrolle über Big Tech sei jedenfalls mehr als nur die Daten in den Blick zu nehmen. Stefan Schmalz bietet in seinem Text zudem interessante Vergleiche auf die digitalen Kapitalismen in den USA und China.
Der Abschnitt zu „Politik und Öffentlichkeit“ wird von einem Beitrag Philipp Staabs eröffnet. Darin versucht dieser, seine bisherigen Überlegungen zum digitalen Kapitalismus um Überlegungen zu den Entwicklungsrichtungen des sozialen Konflikts zu ergänzen. Eine auf Ordnungen jenseits von „Markt und Technokratie“ gerichtete Position kann Staab dabei aktuell nicht ausmachen. Die gesellschaftlichen Positionen formiert er um zwei Konfliktachsen, bei der sich zwei Varianten der „Adaptionsskepsis“ mit Blick auf digitale Technologien, – „Digitaler Arbeitskampf “ sowie „Postneoliberales Marktdesign“, und zwei Positionen der „Adaptionseuphorie“, – „Digitale Planwirtschaft/ Demokratisches Marktdesign“ sowie „Punitive Marktgesellschaft“ gegenüberstehen. Marisol Sandoval widmet sich den Genossenschaften im digitalen Kapitalismus. Trotz grundsätzlich positiver Bewertung genossenschaftlicher Ansätze müssten sich diese aber ihres kapitalistischen Umfelds bewusst sein, damit die Idee der Genossenschaften nicht als schlichte Variante verantwortungsbewussteren Unternehmertums ende. Jodi Dean erläutert ihre Auslegung des Konzepts des „Neofeudalismus“ als Beschreibung der aktuellen kapitalistischen Formation. Wichtige Merkmale für Dean sind die Entwicklungen von digitalen Herr- Leibeigenen-Beziehungen, etwa zwischen den Akteur:innen in der Plattformökonomie, sowie die „Hinterlandisierung“ – die Schaffung eines großen Bereichs der notwendigen riesigen Vertriebszentren, Serverfarmen und Callcenter, die jenseits der Metropolen errichtet werden können.
Mit Blick auf die weitere Entwicklung von „Theorien des digitalen Kapitalismus“ bieten etwa die Beiträge von Boes und Kämpf sowie von Fuchs interessante Ansätze. Entscheidend für die weitere Debatte dürfte unter anderem sein, wesentlich stärker die Verbindungen aus technologischen Entwicklungen, Geschäfts und Produktionsmodellen und dem politischgesellschaftlichen Regulierungsrahmen zu beschreiben.