Heft 260 – 03/2024
Bürokratie braucht Leitplanken
#meinung #debatte #spw

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Prof. Dr. Olaf Struck, Herausgeber der SPW, Prof. für Arbeitswissenschaft. CIO-Board der Universität Bamberg. Vorsitzender der deutschen Vereinigung für Arbeitsmarktforschung (SAMF e.V.)
VON Olaf Struck
Vorweg: Es geht nicht darum, Bürokratie als Normkonstrukt in seiner formal rationalen Form (etwa nach Max Weber 1922) zu kritisieren: Aktenförmigkeit, stabile Regeln, Trennung von Amt und Person, Einsatz politischhierarchisch kontrollierter Fachmenschen mit einheitlichen Kenntnissen, die damit auch einfach ausgetauscht werden können, sind geeignet, um Machtwillkür zu mindern sowie Regelgebundenheit, Neutralität, Erwartungssicherheit und Widerspruchsmöglichkeiten zu fördern.
Von solchen normativen Leit- oder Idealbildern ist jedoch immer die institutionelle Praxis und eine substanzielle Rationalität zu unterscheiden. In dieser war und ist Bürokratie in der Praxis oft ineffizient (Crozier 1964), behindert Innovationen (Merton 1940), mindert individuelle oder lokale Handlungsspielräume und Motivationen (Blau 1963).
In einem Rechtsstaat dürfen (auch vermeintlich gute) Zwecke nicht die Mittel heiligen. Hierfür werden generelle Vorschriften geschaffen. Das Problem ist aber, dass generelle Normen die Vielfalt des Lebens nicht angemessen erfassen können. So leidet unter Normierung oft die Einzelfallgerechtigkeit. Anstelle einer professionellen, also den Einzelfall und spezifische Bedingungen und Interessen vor Ort (Oevermann 1996) mitberücksichtigenden Abwägungen von Zielen und Mitteln bestehen Standardregeln. Für bürokratische Verfahren müssen Menschen ihre Anliegen (die sie ggf. nur einmal im Leben haben) in für sie oft überfordernd komplexe, sprachlich zumeist unverständliche und in ihren Wirkungen teils gefährlich intransparente Aktenvorgänge übersetzen. Die falsche Angabe eines Laien im missverständlichen Formular kann Leistungsansprüche negieren. Man denke nur an den Sozialbereich (und die Umsetzung des SGB), hier ist eine seit langem eingeforderte Biographie-Orientierung unersetzlich.
Mit mehr als hunderttausend EU-, Bundes-, Landes- und Kommunalnormen, Verordnungen und Sonderregeln wird buntes und vielfältiges Handeln in graue Aktendeckel und graue, kalte Server gebunden. Dieses System von Rechtsvorschriften wird mit jeder als regelungsbedürftig erkannten Veränderung komplizierter (Crozier 1964).
Vermeiden derart intensiv geregelte soziale Tatbestände wenigstens juristische Klagewege? Nein. Die Ursache: Regeln, Verträge und Kontrollsysteme bleiben immer unvollständig (Grossman/Hart 1986). Juristen müssen in der Praxis damit umgehen. Hierbei ist ein Vertrag bereits vollständig, wenn er alle „wesentlichen Geschäftseigenschaften“ (essentialia negotii) enthält – Zukunftsoffenheit, Vertrauen und Pauschalierungen eingeschlossen. Anders in der Ökonomie oder Soziologie. In der Wissenschaft meint Vollständigkeit, dass für jeden denkbaren faktischen Zustand der Zukunft explizite Regelungen über die dann eintretenden Rechte und Pflichten aller Beteiligten getroffen wurden. Dumm ist, dass die überwiegende Mehrzahl von Verwaltungsbürokraten meint, dies ginge auch in der Praxis. Eine vollständige ex ante Beschreibung aller Umweltzustände oder eine sinnvolle Zuordnung von Handlungen zu allen Umweltzuständen ist aber schlicht nicht möglich oder „irre-(und)-teuer“. Es ist diese Fiktion vollständiger Vereinbarungen und Kontrolle, die bürokratische Verfahren zu oft versuchen zu erreichen. Jedoch:
- Bürokratische Kontrollinstrumente sind zu oft unzulänglich. Um im Fall von Klagen belegen zu können, „alles an aktuell bekannten Maßnahmen getan zu haben“ werden riesige, aber zu oft problemunangemessene Instrumente der Qualitätssicherung aufgebaut. Nur zwei Bespiele von heute früh: Forschungsarbeit zu Schutz- und Sicherheitsstandards einer Müllverbrennungsanlage. Tausend Seiten Verfahrens- und Sicherheitsanweisungen für das Bedienen der Anlage in deutscher Sprache. Gelesen werden die nicht. Nicht zuletzt reichen die Deutschkenntnisse der Beschäftigten mit Migrationshintergrund nicht aus. Ein anderes Unternehmen mittlerer Größe berichtet, dass es für ca. 50.000 verschiedene Zulieferteile Lieferketten dokumentieren muss. Jeder Tag bietet viele Beispiele solcher Legitimationsfassaden.
- Wenige Bürger verfügen über einen notwendigen Überblick über die sie betreffenden Normenkomplexe und Rechte! Dies führt zu Ungleichbehandlung zwischen jenen, die sich im System der Vorschriften zurechtfinden, und jenen die das nicht können. Dies erschwert Zugänge etwa zu Leistungen des Sozialstaates und es fördert Ungleichheit zu Lasten der „einfachen Leute“ bei Steuerabschreibungen. Die politischen Schäden solcher Ausschließungen gelten als hoch.
- Der Versuch, viel schon im bürokratischen Verfahrensablauf zu erfassen und zu kontrollieren befördert entweder eine Standardeinfachproduktion von Gütern, um sie überhaupt vergleichend kontrollieren zu können. Dies widerspricht professionellem Handeln, Einzelfallgerechtigkeit und mindert Innovationshandeln. Oder es entstehen, gemessen am Verwaltungszweck, unverhältnismäßig hohe Kosten, Zeit- und Arbeitskraftbedarfe zu Lasten eines zügigen, zweckgerichteten Handelns. Beispiel Universität: Anstelle einer finanziell und personell hinreichenden Grundausstattung für Wissenschaft und Innovation sind permanent und auch für sehr kleine Summen sehr umfängliche Anträge zu schreiben, die oft viele Ergebnisse schon vorwegnehmen. Eine hohe Ablehnungsrate bewirkt eine steigende Zahl von risiko- und innovationslos standardisierten Anträgen. Kommt das Projekt, dann ist es sehr kompliziert abzurechnen. Arbeiten in verlässlichen Teams, Zielvereinbarungen und Ergebniskontrolle durch professionelle Gutachtende im Ergebnis gingen mit deutlich mehr Zeit für qualitativ und quantitativ bessere Ergebnisse einher. Hierin unterscheiden sich innovative Institute und Unternehmen übrigens von deutschen Universitäten. Sinnvoll und günstig ist es zunächst, auf die Rationalität und Wahrung von Interessen vor Ort zu vertrauen. Insofern später Handeln oder das Ergebnis zu beanstanden ist, lässt es sich anpassen. So bleiben Innovationen möglich und Kosten einer (anlassbezogenen) Kontrolle von Ergebnissen sind viel geringer, als ein Bürokratieapparat für Kontrollen im Verfahren. Letztere binden in 99 Prozent der Fälle Personal ohne jeglichen Ertrag. Zur Abwehr opportunistischen Verhaltens sind demokratische, professionelle Entscheidungsgremien mit wechselnden Populationen, die Fehlverhalten durch Abwahl, Umbesetzungsvorschläge oder veränderte Mittelverteilungen sanktionieren können, effektivere Äquivalente zu Motivation raubenden, permanenten Verfahrenskontrollen.
Es geht um Personen und es geht um die Normen. Bei den Personen sind es die leider zu wenigen „Ermöglichenden“, die uns das Leben erleichtern. Gerne sprechen sie über ihre Erfolge des Ermöglichens. Unsere Anerkennung für ihr umsichtiges und substanziell, rationales Handeln ist ihr Anreiz. Aber leider gibt es weit überwiegend Verwaltende, die aus Angst oder Unwissenheit Kontrolle über Ermöglichung setzen.
Und bei Normen reichen Leitplanken, die sich an gemeinwohlorientierten Zwecken ausrichten, aber dabei Entscheidungskompetenzen in hohem Maße dezentralisieren. Hier ist Subsidiarität streng einzuhalten. Zudem sind Ermessensspielräume für Verwaltungen zu schaffen und zur innovativen Gestaltung von Zielgesellschaft und Wirtschaft sind Experimentierräume (Reallabore) zu fördern. So lässt sich konkreten Situationen besser gerecht werden. Unter Einbezug der Bevölkerung können innovative Lösungsversuche unter Realbedingungen für Herausforderungen etwa im Bereich Wohnen, regionale Klima-, Umweltschutz-, Energie- und Verkehrskonzepte, Sozialarbeit, Pflege, Kinderbetreuung etc. ausprobiert und evaluiert werden. Kurzum: Es geht darum, überschaubare Lebens- und Funktionsbereiche zu schaffen, um eine demokratische Teilhabe der Bürger am politischen System zu stärken und Ermöglichungen zu schaffen, Vertrauen und Selbstwirksamkeit zu generieren. Bürokratie bleibt nötig. Aber substanziell rational im Ergebnis, nicht störend im Verfahren und umgesetzt von kompetenten, souveränen Ermöglichenden, die sich auch schon Max Weber erhoffte.