Heft 260 – 03/2024
Vom Nutzen der Bürokratie
#meinung #debatte #spw

Foto: © Joyce Gosemann
Axel Priebs, war drei Jahrzehnte in der öff entlichen Verwaltung tätig, zuletzt als Umwelt- und Planungsdezernent der Region Hannover. Seitdem wissenschaft – liche Tätigkeiten (Universitäten Wien, Kiel und Hannover), seit 2023 Präsident der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz- Gemeinschaft (ARL)
VON Axel Priebs
Bürokratie gilt in aktuellen Diskursen als ein Grundübel der Gesellschaft , weswegen die permanente Forderung nach ihrem Abbau nur folgerichtig erscheint. Und tatsächlich wurde der Begriff der Bürokratie zunächst als Schimpfwort erfunden (Bogumil & Jann 2020, 172 ff ). Der Franzose de Gournay habe damit die Herrschaft des „Büros“, die „nicht legitimierte Herrschaft von Subalternen“ kritisiert. Bogumil & Jann weisen aber auch auf Max Weber (1921) hin, der Begriff und Th ematik wissenschaft lich „neutralisiert und objektiviert“ habe. Während viele Forderungen aus Politik und Lobbyismus den Anschein erwecken, die Welt werde mit jeder abgeschafft en Rechtsvorschrift ein Stückchen besser, betont Weber zentrale Aspekte von Bürokratie, die heute wesentliche Merkmale rechtsstaatlicher Verwaltung sind – das Handeln nach allgemeinen, berechenbaren Regeln, den Schutz vor Willkür sowie ausgebildetes und weder korruptes noch politisch einseitig agierendes Personal. In diesem Sinne wäre es sinnvoll, in der teilweise sehr hektischen und populistischen Debatte über Bürokratieabbau einen genauen Blick auf das inkriminierte Objekt zu werfen. Eine funktionierende öffentliche Verwaltung (im Weber´schen Sinne auch gerne „Bürokratie“) stellt eine wesentliche Infrastruktur eines funktionierenden Staatswesens und einen unverzichtbaren Beitrag zum Rechtsstaat dar. Dessen klare Regeln für öffentliches Handeln machen den Standort Deutschland international durchaus attraktiv. Denn wie wichtig eine funktionierende Verwaltung im Kampf gegen Chaos und Willkür ist, sieht man in vielen Staaten, in denen die Verwaltung nicht funktioniert und korrupt ist.
Aber wie viele Vorschriften sind im Verhältnis von Bürger*innen und Unternehmen einerseits und Behörden andererseits notwendig? Oft wird behauptet, dass die Menschen vernünftig seien und wir nicht so viele Vorschrift en bräuchten. Passt das zu den Medienberichten, dass nach den pragmatisch angelegten Corona-Hilfen in rund 12.000 Fällen wegen Betrugsverdachts ermittelt wurde? Und wie häufig stolpern Personen, von denen man es nicht erwartet hätte, über frisierte Reisekostenabrechnungen oder den Missbrauch dienstlich bereitgestellter Ressourcen. Und „Kreativität“ oder kriminelle Energie bei Steuererklärungen und bei der Beantragung staatlicher Leistungen möchte ich hier gar nicht weiter ausführen – wo wir es mit Menschen zu tun haben, müssen wir auch mit ihren Schwächen rechnen und entsprechende „bürokratische“ Vorsorge und Kontrolle ins System einbauen.
Auch Menschen, die natürlich gegen Bürokratie sind, erwarten von Staat und Kommunen, dass er ihre Sicherheit garantiert. Ich erinnere mich an Brände in einer Flughafenhalle und an das eingestürzte Dach einer Sportanlage, wo als erstes die Frage gestellt wurde, wer das genehmigt habe. Während meiner persönlichen Zuständigkeit für die Bauaufsicht gab es gerade bei Brandschutzauflagen immer wieder Auseinandersetzungen und Forderungen, die zu teuren behördlichen Auflagen zu reduzieren. Gerne werden auch die Pflichten zur Meldung für statistische Zwecke kritisiert. Natürlich müssen derartige Pflichten immer wieder überprüft und ggf. auch reduziert werden – aber Medien, Verbände, Öffentlichkeit und natürlich auch die Politik bedienen sich gerne der amtlichen Zahlen, um eigene Argumente zu untermauern. Ein anderes Beispiel, wo der Öffentlichkeit in der Pandemie bewusst wurde, wie wichtig eine funktionierende Verwaltung ist, ist das öffentliche Gesundheitswesen. Obwohl auch Gesundheitsämter in den letzten Jahren erhebliche Einsparungen hinnehmen mussten, haben sie in der Pandemie sowohl ihre Notwendigkeit als auch ihre Funktionsfähigkeit bewiesen.
Nicht immer sind sogenannte Erfolge der Entbürokratisierung überzeugend. Es ist schon einige Jahre her, da wurde es als Sieg über die Bürokratie gefeiert, dass „Kleinstgaststätten“ keine Gästetoiletten mehr vorhalten müssen. Man mag sich freuen, dass es dadurch mehr Imbisse mit Sitzgelegenheit gibt. Eltern kleiner Kinder oder Radtourist*innen hingegen, die in einer Bäckerei mit Kaffeeausschank keine Toilette mehr vorfinden, sind nicht ganz so begeistert von dieser heroischen Tat.
Aber beklagt wird ja nicht nur fehlender Bürokratieabbau, sondern auch eine ständig steigende Dichte von Gesetzen und Vorschriften. Aber diese fallen bekanntlich nicht vom Himmel. Dahinter steht in der Regel ein gesellschaftlicher und entsprechend politischer Gestaltungswille. Wenn erkannte Probleme beim Klimaschutz, bei den Lieferketten und bei der Verhinderung der Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgegriffen und gelöst werden sollen, müssen entsprechende Gesetze gemacht und von Behörden umgesetzt werden. Dabei müssen Kriterien, Grenzwerte und andere Regeln geschaffen werden, damit die Gesetze rechtssicher angewendet werden können. In diesem Kontext wird häufig argumentiert, man müsse mehr Vertrauen in die sachbearbeitenden Personen setzen und diesen Entscheidungsspielräume eröffnen, um einem Einzelfall gerecht zu werden. Dabei wird gerne vergessen, dass klare und transparente Regelungen den Antragstellenden ja auch Rechte geben und Willkür verhindern. Denn es gibt ja nicht nur ideale Sachbearbeitende – was, wenn da jemand mit rassistischem Gedankengut, politischer Voreingenommenheit, Geldnot oder anderen Schwächen sitzt?
Aber vielleicht besteht ja gar kein Dissens, dass wir eine gute Verwaltung mit klaren Regeln brauchen. Dann bin ich sofort dabei, über das zu reden, was nicht funktioniert. Auch mich nerven unverständliche Formulare, lange Bearbeitungszeiten, willkürlich komponierte Textbausteine in Behördenbriefen und fehlende Erklärungen. Und natürlich müssen wir darüber reden, warum die Digitalisierung so schleppend umgesetzt wird. Brauchen jedes Bundesland und jede Kommune wirklich individuelle Software? Und warum müssen bei jedem neuen Antrag alle Personendaten neu eingegeben werden, obwohl diese mit Sicherheit schon in der Behörde gespeichert sind? In den nordeuropäischen Staaten haben alle Menschen lebenslang eine Personenkennziffer für alle Kontakte mit öffentlichen und von diesen beauftragten Stellen – von der Bibliothek über das Gesundheitswesen bis zur Steuererklärung. Wobei letztere eigentlich nur gegengezeichnet werden muss, weil das Finanzamt alle Daten schon hat. Vermutlich wird das in Deutschland wegen des gerne als Vorwand benutzten Datenschutzes und eines tiefen Misstrauens gegen „den Staat“ so nie gehen.
Sicherlich besteht ein breiter Konsens, dass Verwaltungsverfahren vereinfacht, Bearbeitungszeiten gestrafft und Regelwerke immer wieder auf ihre Erforderlichkeit überprüft werden. Aber warum läuft es so schleppend, hier besser zu werden? Einige von vielen Gründen sollen kurz angesprochen werden.
Erstens mangelt es an einer Fehlerkultur, die schnelles und pragmatisches Entscheiden höher wertet als eine dreifache Absicherung.
Zweitens ist die Klagefreudigkeit gerade in Deutschland immens, wobei eine im Vergleich zu anderen Ländern gut ausgebaute Verwaltungsgerichtsbarkeit eher fördernd als abschreckend wirkt. Und in einigen Verfahren, beispielsweise im Bau- und Planungsbereich, geht es häufig um hohe Summen. Oder es geht darum, dass demokratisch legitimierte Entscheidungen einfach nicht respektiert werden. Jedenfalls gelten Kanzleien als erfolgreich, die es schaffen, in jedem Verwaltungsverfahren einen formalen Fehler zu finden und damit ein Projekt zu kippen.
Drittens werden die Vorteile des Föderalismus zu häufig konterkariert mit materiell unbedeutenden, für Nutzende aber ärgerliche Unterschiede in den Verwaltungsverfahren, in den gesetzlichen Begriffen und in den Zuständigkeiten.
Viertens werden Veränderungen in problematischen Verwaltungsabläufen und organisatorischen Strukturen häufig nicht gemeinsam mit den Kompetenten und Gutwilligen in der Verwaltung angegangen, sondern mit Externen, deren Unkenntnis eher Widerstand als Unterstützung erzeugt. Erst recht regt sich natürlich Widerstand, wenn erkennbar wird, dass gar nicht die Optimierung von Prozessen, sondern eher Personaleinsparungen das Ziel sind.
Da sind wir abschließend bei einem Punkt, der gerne übersehen wird: Behörden können nur besser und schneller werden, wenn sie genügend und gut ausgebildetes Personal haben. Im Vordergrund der öffentlichen Personalpolitik stand in den vergangenen Jahrzehnten aber eher der Personalabbau. Wenn die öffentliche Verwaltung pauschal schlechtgeredet wird, wird es schwer, die Fachkräfte zu gewinnen, die wir auf allen Ebenen von Staat und Kommunen brauchen, um die Leistungen in der Qualität zu bieten, die die Gesellschaft mit Recht erwartet. Auch und gerade in den (notwendigen) Diskussionen über die Optimierung von Verwaltungsprozessen, also über „Bürokratieabbau“, wäre etwas mehr Respekt für die Aufgaben und Differenzierung bei der Problemanalyse wünschenswert!