Heft258 – 01/2024
Modell Deutschland in einer Umbruchphase der globalen Ökonomie
#orientierungsrahmen #spw

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Professor Dr. Kurt Hübner ist Inhaber des Jean Monnet Chair for European Integration and Global Political Economy und Chair for German and European Studies an der University of British Columbia University in Vancouver, Kanada
VON Professor Dr. Kurt Hübner
Duck Test
Was aussieht wie eine Ente, quakt wie eine Ente und watschelt wie eine Ente sollte nach der Logik des Duck Test auch eine Ente sein. Gegenwärtig werden nach der gleichen Logik der deutschen Wirtschaft diverse Krankheitsmerkmale zugeordnet und die Schlussfolgerung gezogen, dass Deutschland der ‚kranke Mann Europas’ sei. Wirtschafts- und Klimaminister Habeck konstatiert, dass Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig sei und Finanzminister Lindner beklagt, dass Bürokratie und Regulation Deutschland ärmer machen. Es stellt sich die Frage, ob diese Beobachtungen den Duck Text bestehen: wie krank ist das Modell Deutschland tatsächlich? Eine vergleichbare Frage stellt sich auch für die aktuelle Diagnose der globalen Ökonomie, wo die Einschätzung dominiert, dass die Zeit der us-amerikanischen Hegemonie unwiderruflich abgelaufen und die globale Wirtschaft in eine Phase der Multipolaritāt eingetreten sei. Ich erinnere mich an einen Beitrag von mir aus den späten 1990er Jahren, in dem ich argumentiere, dass die Phase einer Triadisierung begonnen habe – freilich ohne China zu erwähnen, denn die aufsteigende Macht der Zeit war Japan. (Hübner 1997). Aktuelle Entwicklungen können schnell fundamentale Elemente von Wachstumsmodellen überlagern und Analysen fehlleiten. Meine These ist, dass das deutsche Wachstumsmodell sich in einer endogenen und exogenen Umbruchphase befindet, die mit Umstellungs- und Anpassungskosten einhergeht und entsprechend politische Widerstände erzeugt. Endogen ist die Umbruchphase, insofern die gegenwärtige Regierung sich ursprünglich einen ambitionierten Pfadwechsel hin zu einem klimaverträglichen Akkumulationsregime vorgenommen hat, nur um dann die eigenen Ambitionen zurückzunehmen. Exogen ist die Umbruchphase, insofern Ereignisse, wie etwa die russische Invasion der Ukraine und Verschiebungen innerhalb der globalen Ökonomie sowie technologische Sprunginnovationen, die Randbedingungen des deutschen Wachstumsmodells gravierend beeinflussen.
Ausgangskonstellation
Das Modell Deutschland ist mit strukturellen Problemen konfrontiert, die sich in einer Situation eines konjunkturellen Einbruchs verschārfend auswirken. Das deutsche exportorientierte Wachstumsmodell war lange der Neid des Auslandes und der Stolz des Inlandes – beide Male aus ökonomisch ungerechtfertigten Gründen. Mit diesem Begriff ist ein Wachstumsmodell beschrieben, bei dem die kritischen Wachstumsimpulse von den Exportsektoren kommen und bei dem sich institutionelle Konfigurationen herausgebildet haben, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und damit das Management von Lohnstückkosten in den Mittelpunkt stellen. Kooperative Gewerkschaften und kooperationswillige Arbeitgeberverbände sowie diversifizierte Qualitätsproduktion orientieren sich an wettbewerbsfähigen Lohnstückkosten, die weiter mittels anti-inflationärer Geldpolitik und exportorientierten wirtschaftspolitischen Maßnahmen gesteuert werden (Hübner 1986).
Wenn man Handelsbilanz- und Leistungsbilanzüberschüsse als Erfolgsindikatoren wählt, dann war das Modell Deutschland sehr erfolgreich. In den letzten 25 Jahren verzeichnete Deutschland immer einen Handelsbilanzüberschuss und auch die Leistungsbilanz bewegte sich nach fünf Defizitjahren schnell in einen Surpluskorridor, wobei in einzelnen Jahren der Überschuss berechnet als Anteil am BIP acht Prozent ausmachte. Freilich sind Leistungsbilanzüberschūsse nicht ohne Problem, denn sie zeigen an, dass inländische Akteure mit ihrer Konsum- und Investitionsgüternachfrage den produzierten Output nicht abschöpfen. Es kommt dann schnell dazu, dass der Unternehmenssektor einen Sparüberschuss und damit eine Nettokreditposition aufweist und als Ergebnis inländische Investitionen sich auf einen suboptimalen Pfad hin bewegen: „Der Beitrag des Kapitaleinsatzes zum Potenzialwachstum ging … stark zurück, von 1,5 Prozentpunkten in den 1970er-Jahren auf 0,4 Prozentpunkte in den vergangenen fünf Jahren” (SVR 2023 S. 91). Wenn dazu staatliche Fiskalpolitik durch eine regelgebundene Defizitobergrenze, ergänzt durch ein ideologisches Narrativ wie der ‚Schwarzen Null’, begrenzt wird, ist das weitere Ergebnis eine Absenkung öffentlicher Investitionen. Die geringe öffentliche Investitionsbereitschaft resultiert in einem rūckläufigen Kapitalstock der öffentlichen Hand (Dullien/Jürgens/Paetzden/Watzka 2021). ‚Weniger Staat’ bedeutet dann angesichts des oftmals komplementären Charakters staatlicher Investitionen eine Erschwerung privater Investitionen und damit weniger private Akkumulation.
Die hohen Handelsbilanz- und in der Folge Leistungsbilanzüberschüsse sind wesentlich das Resultat eines Managements der Lohnstückkosten – indirekt unterstützt von einer inflationsdämpfenden Geldpolitik – das international Wettbewerbsfähigkeit in den Vordergrund stellt. Seit dem Jahr 2000 bewegten sich entsprechend die Zuwachsraten der deutschen Lohnstückkosten unterhalb der Raten des Euroraumes, was deutsche Exporte auch preislich hat attraktiv werden lassen.
Das deutsche Exportmodell wurde, so kann man argumentieren, ein Opfer seines Erfolges, denn Überschüsse bedeuten Defizite anderer Wirtschaftsräume. Wenn aber ein globaler Wachstumsrückgang einsetzt, verlieren die deutschen Exportsektoren Absatz, mit negativen Konsequenzen für das BSP. Die fundamentalen Schwächen des Modells zeigen sich zu einem ungünstigen Zeitpunkt, nämlich dann, wenn eine Umbruchphase einsetzt, zu deren Bewältigung es der ökonomischen wie politischen Fähigkeit bedarf, eine Umsteuerung einzuleiten und aktiv zu gestalten. Drei Schwächen sind hervorzuheben. Erstens: Das Festhalten an einer regelgebundenen Fiskalpolitik mit einer kontraproduktiven Schuldenbremse restringiert den Gestaltungsspielraum in der gegenwärtigen Umbruchphase. Zweitens: Die Bemühungen, Kernunternehmen der Exportsektoren mittels Steueranreizen und Subventionen sowie regulatorische Nachsicht im Lande zu halten, bremsen den eigentlich gewünschten Strukturwandel zu den grünen Sektoren. Drittens: Das Narrativ des deutschen Exportmodells als Königsweg zur Prosperität besetzt im kollektiven Diskurs eine Monopolposition und erschwert auf diese Weise jeden Pfadwechsel.
Alle diese Schwächen sind prinzipiell überwindbar, oder jedenfalls politisch so zu steuern, dass sie den Übergang zu einem neuen Wachstumsmodell nicht verhindern. Wenn beispielsweise der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen abnimmt und gleichzeitig der Abfluss von Direktinvestitionen aus Deutschland zunimmt, wie die OECD (2023a) berichtet, ist dies nicht automatisch ein Beleg für eine Deindustrialisierung, wie interesssierte Beobachter konstatieren, sondern kann auch als ein Zeichen von Reallokation gedeutet werden, die durchaus positiv sein kann, jedenfalls dann, wenn zukunftsorientierte Produktionen in Deutschland bleiben und der ‚braune’ Kapitalstock abgebaut wird. Eine solche Steuerung wäre Teil einer funktionierenden Industriepolitik. Wenn, um ein weiteres Beispiel zu geben, der Anteil von Forschungs- und Entwicklungsausgaben am deutschen BIP sich oberhalb des OECD-Durchschnittes bewegt (OECD 2023b), dann deutet dies an, dass Innovationsanstrengungen unternommen werden, wenn auch nicht unbedingt in einem Maße, das der Umbruchsituation angemessen ist. Es gilt mithin, dass die Chancen der Umbruchphase nur unzureichend genutzt werden, und demgegenüber defensive kurzfristige Partialinteressen die Politik dominieren. Jüngstes Beispiel, klimapolitisch weniger relevant aber symbolisch hochbedeutend, ist das Einknicken der Regierung im Zuge der Bauernproteste. Die Zurücknahme und Abmilderung von Maßnahmen, die den CO2-Ausstoss vermindern sollen, ist keine Modernisierungs- sondern eine Bestandsbeibehaltungspolitik, die zeigt, dass selektiver Lobbyismus Erfolge zeitigen kann.
Hoffnung Europa?
Deutschland ist tief in den europäischen Wirtschafts- und Politikraum integriert. Der Gemeinsame Markt ist die Basis für die export- und importseitige Verflechtung und die gemeinsame Währung und die Regeln und Gesetze des Euroraumes und der Europäischen Union machen einen wesentlichen Teil der Governancestrukturen aus. Freilich haben die Nationalstaaten in vielen Bereichen weiter relativ autonomen Gestaltungsspielraum, etwa im Bereich der Steuern und in der Sozialpolitik. Von einem einheitlichen Wachstumsmodell der EU sollte und kann deshalb nicht gesprochen werden. Dazu muss man nicht den Vergleich zwischen Deutschland und Ungarn oder der Slowakei heranziehen, auch ein vergleichender Blick auf Deutschland und Frankreich macht die Unterschiede der Wachstumsregime deutlich. Freilich sind viele der nationalen Wachstumsregime komplementärer Natur. Das haben vor allem Unternehmen der deutschen verarbeitenden Industrie schnell erkannt und dementsprechend tiefe innereuropäische Lieferketten aufgebaut, die nationale Lohn- und Steuerdifferenzen sowie nationale Ansiedlungsprämien zu ihrem Vorteil nutzen.
Der Prozess europäischer Integration geht einher mit dem Aufbau eines weitreichenden polit-ökonomischen Regimes, dessen Kern die Gesetzgebungs- und Regulationsnormen eines einheitlichen Binnenmarktes ausmachen, aber seit der Einführung der gemeinsamen Währung auch ein komplexes fiskalpolitisches Subregime beinhaltet. In den letzten Jahren, insbesondere seit der Corona-Epidemie, hat der Europäische Rat darüber hinaus die Kommission beauftragt, ein EU-weites Investitionsprogramm und eine klima- sowie digitalpolitische Offensive in Angriff zu nehmen, die erstmalig mit einer kollektiven Bondemission einhergeht. Dieses Regime setzt einerseits nationalen Politiken Grenzen, gerade auch im Bereich der Fiskalpolitik, wobei allerdings die Kommission durchaus Politikspielräume hat, wenn es um die Auslegung und Anwendung einzelner Regeln geht. In der Vergangenheit wurde beispielsweise Deutschlands Verletzung innerhalb des im makroökonomischen Ungleichgewichtsverfahrens maximal zulässigen Leistungsbilanzüberschusses extrem milde behandelt. Gleichzeitig haben deutsche Regierungen, zusammen mit anderen fiskalpolitischen Hardlinern, immer auf die Einhaltung der Maastricht-Schuldenkriterien beharrt. Die Politisierung des Governance-Regimes ist dann ein Problem, wenn nationale Interessen den Auslegungsspielraum dominieren. Andererseits erlaubt das ökonomische Governance-Regime Korrekturen und Änderungen nationaler Wachstumsregime, wie beispielsweise das Projekt ‚Next Generation EU’ zeigt, das auf Antrag der nationalen Regierungen relative große Beträge für spezifische Strukturmaßnahmen zur Verfügung stellt. Was einige Beobachter als europäisches ‚Hamilton Moment’ (Bundeskanzler Scholz) deklariert haben, hat sich allerdings als einmaliger Vorgang mit begrenzten Wirkungen herausgestellt. Einmalig, weil die Mehrheit der Mitgliedsländer unter der Führung der ‚Neuen Hanseatischen Liga‘ mit tatkräftiger Unterstützung Deutschlands daran festhält, dass dies ein einmaliges Programm war, das nur unter Bedingungen der Pandemie gerechtfertigt war. Begrenzt, weil der erwartete starke Investitionsschub unter Bedingungen von Inflation und Unsicherheit nicht eingetreten ist. Zwar ist bis Anfang 2024 nur etwas mehr als ein Drittel der Gesamtsumme von 670 Milliarden Euro (zu konstanten Preisen von 2018) abgerufen worden, und es kann deshalb durchaus sein, dass sich noch relevante Effekte einstellen. Dennoch bleiben Zweifel, die sich am Fall der relativen Produktivitätsentwicklung veranschaulichen lassen.
Die Aufbau- und Resilienzfazilität als Herzstück des Programms hat den Anspruch, die Mitgliedsländer auf den Übergang zu einem klimaneutralen Wachstumsmodell und das ‚digitale Zeitalter’ vorzubereiten und zu unterstützen. Letztere Komponente zielt auf eine Innovationsoffensive, die sich dann in einem Anstieg der Arbeitsproduktivität niederschlagen soll. Das Problem ist, dass sich die Erwartungen nicht realisieren. Nimmt man die Gruppe der Eurozonenländer und vergleicht den realen Output je Arbeitsstunde mit dem der USA und Großbritanniens, dann zeigt sich, dass die Produktivitätslücke zu den USA nicht etwa kleiner, sondern größer geworden ist. Hinter dieser Entwicklung verstecken sich eine Reihe von Besonderheiten.
Erstens ist die Arbeitsproduktivität der verarbeitenden Industrie in Europa zwischen dem 3. Quartal 2019 und dem 3. Quartal 2023, also über die Covid-Periode hinweg, um 5,8 Prozent gestiegen. Dieser Anstieg ist allerdings wesentlich auf eine drastische Reduktion der Beschäftigung zurückzuführen und reflektiert keine grundlegende qualitative und quantitative Ausweitung des Kapitalstocks.
Der Anstieg, zweitens, ist allerdings sehr viel geringer als der Anstieg der Arbeitsproduktivität in den USA, und entsprechend hat sich die Produktivitätslücke zu den USA sogar vergrößert. Dies mag mit der unterschiedlichen Innovationsdynamik zusammenhängen, ist aber auf alle Fälle der sehr viel stärkeren Wachstumsdynamik der USA geschuldet, die im Kern auf die sehr expansive Fiskalpolitik und den Effekten des Inflation Reduction Act (IRA) der Biden- Administration zurückzuführen ist.
Drittens sind die von der EU angestoßenen Investitionen selbst im besten Falle unzureichend, um die klimapolitischen Ziele der EU und simultan die Digitalisierung des europäischen Wirtschaftsraumes zu gewährleisten (Wolf 2021).
Unter den Bedingungen einer restringierten Fiskalpolitik und dem Narrativ der ‚Schwäbischen Hausfrau’ hat die EU vermutlich bereits das Maximum an industriepolitischer Intervention bereitgestellt. Gegenwärtig deutet sich gar an, dass es zu einer Reallokation von Fonds zu Gunsten des militärisch-industriellen Komplexes kommt. Darüberhinaus ist heute nicht entschieden, ob die seitens der Next Generation EU bereitgestellten Mittel auch nur annäherend die erwarteten klima- und digitalpolitischen Effekte zeitigen werden, denn seit der russischen Invasion in die Ukraine haben die Mitgliedsländer die Gelegenheit genutzt und ihre Mitteleinsatzpläne revidiert.
Fragmentierung der globalen Ökonomie
Deutschland und die deutsche Industrie haben vom Prozess der europäischen Integration in den letzten Jahrzehnten überproportional profitiert. Schon insofern sollte die deutsche Politik ein starkes Interesse haben, dass Europa im Zuge der Umschichtungen der globalen Ökonomie seine Wettbewerbsfähigkeit nicht verliert. Globalisierung bedeutet nicht nur, dass in einer relativ offenen Wirtschaft Unternehmen miteinander konkurrieren. Es bedeutet auch, dass nationale Wirtschaftsräume direkt und indirekt miteinander in Konkurrenz stehen. Darüberhinaus ist zu bedenken, dass Globalisierung eine Zunahme von Interdependenz einschließt und mithin politisch-ökonomische Entwicklungen in einem Raum der globalen Ökonomie Effekte in anderen Räumen zeitigen. Der europäische Wirtschaftsraum ist gegenwärtig zwei Zangenbewegungen ausgesetzt, einmal von China und dann von den USA.
Das chinesische Wachstumsregime mit seiner Investitions- und Exportlastigkeit ist in einer tiefen Krise, ausgelöst von den Effekten der Null-Covid-Politik und den damit verbundenen Schließungen ganzer Produktionsbereiche sowie tieferliegenden Widersprüchen des Wachstumsmodells. Problematisch hat sich der langanhaltende Boom des Häusermartktes erwiesen, der dazu fũhrte, dass der Anteil dieses Sektors am chinesischen BIP sich auf etwa 26 Prozent bewegte. Das Platzen der Häuserblase am Ende der Covid-Episode hat zu großen Wertverlusten nicht allein bei den Unternehmen des Sektors, sondern vor allem bei der Mittelklasse geführt. Diese Verluste haben das Zukunftsvertrauen unterminiert und die Konsumnachfrage und dann auch das private Investitionstempo reduziert. Da gleichzeitig die Provinzregierungen enorm hohe Schuldenquoten aufweisen, sind kompensatorische fiskalpolitische Maßnahmen – wenn überhaupt – nur eingeschränkt möglich. Die chinesische Zentralregierung hat auf diese Situation mit einer Stärkung der verarbeitenden Industrie reagiert, die als Lokomotive zukünftigen Wachstums gesehen wird, gerade auch als Triebkraft der Umsteuerung zu einem grünen Wachstumsregime. Das Ergebnis ist ein wachsender Exportüberschuss der verarbeitenden Industrie, der mittlerweile knapp 2 Prozent des weltweiten BIP ausmacht und den aggregierten Überschuss von Deutschland und Japan übersteigt. Prominent ist gegenwärtig die E-Auto-Offensive, getrieben von BYD, dem mittlerweile größten Produzenten batteriebetriebener Autos. Die eigentliche Triebkraft zur Aufrechterhaltung des chinesischen Exportmodells ist freilich seine strukturell hohe Sparquote, die 28 Prozent der gesamten globalen Ersparnisse ausmacht, nur wenig unterhalb des aggregierten 33-prozentigen Anteils der USA und der EU (IMF 2024). Eine solche Sparquote kann investitionsseitig unter den Bedingungen der gegenwärtigen Wachstumskrise nicht produktiv eingesetzt werden. Wenn dann auch noch die private Konsumnachfrage zurückhaltend ist und eine Erhöhung der – säkular niedrigen – Lohnquote politisch nicht gangbar ist, dann bleibt allein eine Ausweitung des Leistungsbilanzsaldos als Ausweg. Eine solche Ausweitung impliziert, dass andere wirtschaftliche Räume ein entsprechendes Defizit akzeptieren müssen. Ob dies ohne ein Wiederaufflackern eines Handelskrieges geschehen wird, wird sich zeigen. Auf alle Fälle würde dies für offene Wirtschaftsräume wie die EU und Deutschland eine Herausforderung darstellen.
Chinas klassische merkantlistische Politik ist kein Einzelfall. Die Kombination von Merkantlismus und Protektionismus wurde seitens der Biden-Regierung nahezu nahtlos von der Trump-Administration übernommen. Das prominenteste Beispiel ist der IRA, der localcontent- Klauseln etabliert, die erfüllt werden müssen, wenn die weitreichenden Steuererleichterungen für Produzenten und Konsumenten genutzt und Subventionen zugänglich werden sollen. IRA und die Begleitprogramme sind das Musterbeispiel der Renaissance einer losen Form von Industriepolitik, die zusammen mit weiteren fiskalpolitischen Maßnahmen die USÖkonomie auf einen neuen Wachstumspfad gesetzt haben. Übersetzt hat sich die Wirtschaftspolitik in einen überraschend starken Anstieg der Arbeitsproduktivität, gemessen als Output pro Stunde, und in einen vollbeschäftigungsähnlichen Arbeitsmarkt, und all dies bei einer systematischen Rückfuhr der Inflationsrate. Insbesondere der Anstieg der Arbeitsproduktivität könnte ein Indiz sein, um es vorsichtig zu formulieren, dass die preisliche us-amerikanische Wettbwerbsfähigkeit sich verbessert (Brusuelas 2024).
Allerdings ist der von Biden eingeleitete Pfadwechsel nicht ohne Probleme. Noch ist es möglich, daß die FED an ihrer Hochzinspolitik zu lange festhält und es doch noch zu einer sanften Rezession kommen kann. Auch kann die gespaltene politische Konstellation, die die Biden-Administration zu unvorteilhaften Kompromissen zwingt, in eine politische Lähmung münden. Sollte es nach den Novemberwahlen zu einer Rückkehr von Donald Trump kommen, wäre ein Rückbau der Richtung des Pfadwechsels und auch eine Pfadumkehr wahrscheinlich. Für Europa und Deutschland wäre letzteres ein perfekter Sturm.
Duck Test
Deutschland befindet sich in einer Pfadwechselkrise: Das alte Wachstumsmodell ist nicht länger tragfähig und das neue Wachstumsmodell ist noch nicht ausgebildet. In einer solchen Gramsci-Konstellation bedarf es einer stringenten und kohärenten Transformationspolitik, die die Erwartungen der Akteure der Transformation steuert und damit Investitions- und auch Konsumsicherheit herstellt. Daran allerdings mangelt es auf EU- wie auch auf der Deutschlandebene. Die Mitte-Rechts- Koalition der von-der-Leyen-Kommission hat ambitioniert begonnen und sich dann unter dem Eindruck der Ukraineinvasion und der Migrationsbewegungen einer irrlichternden Politik verschrieben. In Deutschland wiederum weist die Ampelkoalition starke Bindungen an das etablierte Wachstumsmodell auf, die das Transformationstempo entschleunigen und die genaue Transformationsrichtung unbestimmt lassen.
Der Duck Test stellt im Falle Deutschlands die falschen Fragen. Es steht außer Frage, dass die deutsche Ökonomie sich in einer Krise befindet. Allerdings ist es eine Transformationskrise, die ökonomische wie politische Ursachen hat. Die Abkehr von ‚braunen’ Aktivitäten ist zu langsam und die Umschichtung zu neuen, klimaneutralen Aktivitäten erfolgt zu langsam. Strukturkonservative Akteure nutzen die Chance der stotternden Umbruchphase, um die Zweifel in der Wählerschaft zu stärken und das alte Wachstumsmodell zu verteidigen. Wenn in einer solchen Situation die diskursive Dominanz verloren geht, wie zu beobachten ist, dann verlängert sich die Gramsci-Konstellation und wird der Übergang zu einem neuen Wachstumsmodell ökonomisch wie politisch teuer.
Literatur
Brusuelas, J. (2024): https://realeconomy.rsmus.com/productivity-continues-to-rise-in-potential-game-changerfor-economy/)
Dullien, S., Juergens, E., Paetz, C., Watzkal, S. (2021): Makroökonomische Auswirkungen eines kreditfinanzierten Investitionsprogramms in Deutschland, IMK Report Nr. 168, Mai 2021
Hübner, K. (1997): „Triadisierung statt Globalisierung“, Ökologisches Wirtschaften – Fachzeitschrift, 12(1). doi:10.14512/oew.v12i1.859.
Hübner, K. (1986): „Modell Deutschland“ – Karriere einer „ökonomischen Kampfformation“, in: Hans-Günter
Thien/Hans Wienold (Hrsg.): Herrschaft-Krise-Überleben. Gesellschaft der Bundesrepublik in den 80er Jahren, Münster 1986, S. 374-393.
IMF (2024): IMF Country Report No. 24/38, Washington
OECD (2023a): https://www.oecd.org/investment/statistics.htm
OECD (2023 b): https://data.oecd.org/rd/gross-domesticspending-on-r-d.htm)
SVR Jahresgutachten 2023/24: Wachstumsschwäche überwinden– in die Zukunft investieren, Wiesbaden
Wolf, G.B. (2021): https://www.bruegel.org/blog-post/howmuch-investment-do-we-need-reach-net-zero