Heft258 – 01/2024

Einleitung zum Heftschwerpunkt (258) – Orientierungsrahmen für die Diskurse der SPD-Linken: Lange Linien Linker Politik

#orientierungsrahmen #spw

Dr. Arno Brandt ist Ökonom (Schwerpunkte: Regional- und Innovationsökonomie sowie Strukturpolitik) und lebt in Lüneburg. Von 1990-2012 war er als Bankdirektor in der NORD/LB tätig. In Hannover ist er Vorsitzender des „Forums für Politik und Kultur e.V.“ und Mitglied des Koordinierungskreises der Keynes Gesellschaft Regionalgruppe Nord. Außerdem ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des SPD-Wirtschaftsforums.

Ole Erdmann ist Dipl. Volkswirt und Mitglied der spw-Redaktion.

Thilo Scholle ist Mitglied der spw-Redaktion, Jurist und lebt in Lünen.

VON Arno Brandt, Ole Erdmann und Thilo Scholle

Die Zeiten sind unübersichtlich, die Zahl der Krisen ist groß. Zu beobachten sind grundlegende Veränderungen der Art und Weise wie produziert und gearbeitet wird – Stichwort Digitalisierung – sowie Veränderungen der geopolitischen Achsen und der globalen Arbeitsteilung – Stichwort Aufstieg Chinas. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine haben zudem die Fragen von Krieg, Frieden sowie der militärischen Aufrüstung und Bündnisbildung bei der Entwicklung der internationalen Ordnung eine neue Dimension gewonnen.

Zugleich lässt sich eine immer stärkere Fragmentierung politischer Welten und politischer Diskurse beobachten. Dies fängt bereits bei der Wahrnehmung des eigenen Alltags und der eigenen Umgebung an.

Zudem sind nahezu alle größeren politischen und gesellschaftlichen Fragen in den letzten Jahren zumindest im öffentlichen Diskurs in einem Maße mit moralischen Argumentationen aufgeladen worden, die eine nüchterne und ggf. längerfristig angelegte Problemlösung erheblich erschweren. Die öffentliche Debatte über die Ausgestaltung der sozial-ökologischen Transformation oder die Frage des Einfrierens der Kriegshandlungen in der Ukraine sind Beispiele für Debatten, bei denen die Vielfalt der Grautöne aus dem Blick geraten ist. Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen, kaum ein aktuelles politisches Thema, das nicht unter ausschließlichen „richtig“ oder „falsch“ gelabelten Einordnungen diskutiert würde, und bei dem alles, was irgendwie als Versuch einer Kompromissfindung wahrgenommen wird, direkt als „Verrat“ oder zumindest „moralisch verwerflich“ gebrandmarkt würde. Es scheint mittlerweile in vielen auch linken Debatten die Fähigkeit zunehmend verloren zu gehen, längerfristige Perspektiven zu entwickeln, die Etappenschritte zu definieren, gesellschaftliche Mehrheiten suchen und dazu ggf. auch zur Kompromissbildung bereit zu sein.

Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung eines Diskursrahmens, der längerfristige politische Perspektiven öffnet, umso wichtiger. Ziel eines orientierenden Diskursrahmens sollte sein, Debatten zu strukturieren und so aus dem Verständnis aktueller ökonomischer, politischer sowie gesellschaftlicher Entwicklungen und Krisenprozesse Pfade langfristig angelegter politischer Gestaltung abzuleiten. Dies bedeutet vor allem, politische Strategien und Handlungskonzepte zu entwickeln, die Möglichkeitsräume zur Bewältigung der drängendsten gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen aufzeigen.

Die spw diskutiert über ihre künftigen Themenschwerpunkte und gibt sich dabei einen solchen Orientierungsrahmen, der die großen Linien des künftigen Diskurses der Zeitschrift absteckt. Dieser Orientierungsrahmen, der von einer Gruppe von Autor*innen aus dem spw- Umfeld verfasst wurde, versteht sich als ein offenes Diskussionsangebot, das einen Impuls für eine Neupositionierung der Zeitschrift setzen will und die Debatten im Kontext der Zeitschrift neu sortiert. Vor dem Hintergrund der transformativen Veränderungen betreten wir auch als Zeitschrift Neuland und verfolgen mit unseren Suchbewegungen das Ziel, die neuen Realitäten auf den Begriff zu bringen und politische Handlungskonzepte neu zu buchstabieren. Wir reagieren damit auf grundlegende Veränderungen der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die wir für die Entwicklung und Umsetzung linkssozialdemokratischer Politik im 21. Jahrhundert in den Blick nehmen sollten:

  • Wir befinden uns in einer Ära der Polyoder Mehrfachkrisen, die mit einer grundlegenden Veränderung der geopolitischen Tektonik einhergehen und zunehmend Fragen der systemischen Resilienz, öffentlicher Souveränität und infrastruktureller Leistungsfähigkeit auf die politische Agenda rücken.
  • Wir verstehen unter Zeitenwende primär den Zusammenbruch der neoliberalen Hegemonie, der große Chancen für progressiv- emanzipatorische Optionen, aber auch Gestaltungslücken hinterlässt, die gegenwärtig von rechtspopulistischen Strömungen gefüllt werden.
  • Wir beobachten einen dramatischen Vertrauensverlust in das politische System, weil dringend gebotene progressive Strukturreformen insbesondere im Zusammenhang mit den sozial-ökonomischen und digitalen Transformationsprozessen ins Stottern geraten oder erst gar nicht auf den Weg gebracht werden.
  • Wir sehen im Überfall auf Russland einen Zivilisationsbruch, der in Verbindung mit den geopolitischen Veränderungen zur Auflösung der alten Friedens- und Sicherheitsordnung führt. Damit stellen sich völlig neue Anforderungen an die Gestaltungsfähigkeit nationaler und insbesondere auch europäischer Politik, die neben neuen außen- und sicherheitspolitischen Strategien die Herausbildung eines eigenen neuartigen Regulierungs- und Akkumulationstyps erforderlich macht.

Auf diese grundlegenden Veränderungen linker Politik wird in dem in diesem Heft dokumentierten Orientierungsrahmen Bezug genommen und die mit ihnen zukünftig in der spw eine zentrale Rolle spielenden Diskursfelder skizziert.

Von der Vielzahl sich gegenseitig verstärkender Krisen ist auch die demokratische Linke in Deutschland und Europa nicht ausgenommen.

Fast überall sind bürgerlich-rechtskonservative Parteien auf dem Vormarsch, die nicht selten mit Unterstützung rechtspopulistischer Kräfte Regierungsmehrheiten bilden. In Deutschland geht von der ehedem ausgerufenen Fortschrittskoalition kaum mehr eine politische Ausstrahlung aus, die progressive soziale Bewegungen motivieren, geschweige denn begeistern könnte. Tragfähige politische Mehrheiten bzw. Wahlerfolge lassen sich in diesem Kontext schwerlich erreichen. Die innere Zerrissenheit der Ampelkoalition äußert sich in Selbstblockaden und das vom Bundesverfassungsgericht zementierte Regime der Schuldenbremse hebelt jede politische Gestaltung, die einen Pfadwechsel zugunsten einer „just transition“ einleiten könnte, aus. Diese Politik hinterlässt bei den Menschen schlussendlich eine verkleinerte Hoffnung auf Zukunft, die das Vertrauen in eine kollektive Verbesserung der Lebenslagen unterminiert (Linus Westheuser).

Aus unserer Sicht wäre viel gewonnen, wenn mit den Möglichkeiten einer linkssozialdemokratischen Zeitschrift, die bislang gesammelten Erfahrungen mit der Krisenpolitik im politischen Mehrebenensystem reflektiert und strategische Handlungskonzepte zugunsten progressiver Strukturreformen entwickelt werden könnten. Die spw will sich für diese strategischen Diskurse in Zukunft stärker öffnen und sich dafür breiter aufstellen. Dabei geht es auch um die Zukunft der spw. Wir arbeiten derzeit an einem Relaunch der spw, der neben der Fortsetzung der Printausgaben vor allem auch das digitale Standbein deutlich verstärken soll. Kai Burmeister skizziert den größeren Rahmen dieses Veränderungsprozesses im aktuellen Kurzum.

Als Startpunkt unseres Projektes zur Erneuerung der spw dokumentieren wir einerseits unseren Entwurf eines Orientierungsrahmens für die Zeitschrift. Andererseits haben wir eine Reihe von Autor*innen aus den Bereichen von Politik, Arbeit und Wissenschaft gewonnen, die den mit dem Orientierungsrahmen intendierten Impuls aufgreifen und in den unterschiedlichen Diskursfeldern Stellung beziehen:

In unserem Gespräch mit IG-Metall-Chefin Christiane Benner geht es um die Frage, wie Gewerkschaften in der aktuellen Situation der Vielfach- und Transformationskrisen reagieren und neue Handlungsspielräume gewinnen können. Die IG-Metall bekennt sich zur Notwendigkeit der sozial-ökologischen Transformation und formuliert einen gewerkschaftlichen Anspruch zur Mitgestaltung der Transformation. Dieser kann u.a. dann erfolgreich sein, wenn durch zusätzliche öffentliche Investitionen die strukturellen Voraussetzungen der Energie- und Mobilitätswende entscheidend verbessert werden. Zugleich weist Christiane Benner darauf hin, dass die Gewerkschaften Reformvorschläge zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vorgelegt haben, um die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer*innenvertretungen gerade auch im Hinblick auf die Mitgestaltung der Transformation und damit den Umbau der Wirtschaft zu verbessern.

Für Kurt Hübner befindet sich das deutsche Wirtschaftsmodell gegenwärtig in einer Transformationskrise, die sowohl politische als auch ökonomische Ursachen hat. Einerseits rächt sich die starke Exportorientierung des deutschen Wirtschaftsmodells in einer Zeit geopolitischer Veränderungen, die auch die globalen Absatzmärkte in Mitleidenschaft zieht. Andererseits erfolgt die sozialökologische Transformation nicht mit der notwendigen Geschwindigkeit, um die Klimaziele rechtzeitig zu erreichen und damit eine hohe Innovationsdynamik in der deutschen Volkswirtschaft in Gang zu setzen. In einer solchen Konstellation, in der auch rechtspopulistische Bewegungen an Boden gewinnen, befindet sich Deutschland in einer „Gramsci-Konstellation“, die den Pfadwechsel zu einem neuen Wirtschaftsmodell immer teurer macht.

Für Michael Krätke befindet sich der gegenwärtige Kapitalismus in einer „großen Krise“, die nur zu überwinden ist, wenn sich die Europäische Union von ihrer restriktiven Finanzpolitik emanzipiert und offensiv eine Strategie des grünen Kapitalismus verfolgt. Vor allem eine Strategie der Steigerung der Arbeitsproduktivität ist für ihn der Schlüssel, der den Weg aus der gegenwärtigen Krise öffnet. Dafür muss der Staat eine aktive Rolle als Pionierunternehmer übernehmen und von Fesseln, wie der Schuldenbremse, befreit werden.

Bundesentwicklungshilfeministerin Svenja Schulze skizziert in ihrem Beitrag die „Chancen linker Globalpolitik“. Ebenfalls ausgehend von einem Bild vielfältiger und sich gegenseitig verstärkender Krisen plädiert sie für ein Zusammendenken verschiedener Handlungsfelder, etwa von Geoökonomie und Geopolitik sowie von Ökonomie und Ökologie. Letztlich sei u.a. soziale Sicherheit in einem globalen Maßstab eine Voraussetzung für eine gelingende Arbeit an der Transformation.

Klaus Dörre plädiert in seinem Beitrag für einen Neubeginn der demokratischen Linken angesichts einer völlig veränderten gesellschaftlich- ökonomischen Gesamtkonstellation. Vorbildlich ist für ihn aktuell die erfolgreiche Politik der KPÖ plus in Österreich, die vor allem mit ihren Initiativen zur Wohnungsfrage erhebliche Wahlerfolge auf der kommunalpolitischen Ebene einfahren konnte. Den neuen politischredaktionellen Orientierungsrahmen der spw mit seinem Fokus auf progressive Strukturreformen, die auf eine höhere Resilienz, Nachhaltigkeit und Souveränität der sozioökonomischen Strukturen abzielen, sieht Dörre als einen fruchtbaren Ansatz für die konzeptionelle Neubestimmung linker Politik im 21. Jahrhundert.

Die aktuellen finanzpolitischen Debatten auf Bundesebene ordnet Wiebke Esdar in ihrem Beitrag ein. Dabei geht es ihr grundsätzlich um eine aktive Rolle des Staates, wie er im Orientierungsrahmen ebenfalls angelegt und begründet ist. Sie betont das Erfordernis der Erneuerung von gesellschaftlichen Infrastrukturen im Sinne einer echten Generationengerechtigkeit und skizziert die Ansätze, die die SPD-Bundestagsfraktion in den kommenden Monaten verfolgen wird, um die Investitions- und Finanzierungsbedarfe zu stemmen.

Der Juso-Bundesvorsitzende Philipp Türmer setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit der Politik der Ampel-Regierung auseinander und markiert wesentliche Elemente einer Fortschrittsagenda. Die SPD müsse gerade angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung und der Angriffe von Rechtsaußen, aber auch von Neoliberalen bei CDU und FDP eine konsequente Umverteilungsagenda aufrufen, damit klar werde, dass die SPD an der Seite der Arbeitnehmer*innen steht. Mit der Forderung nach der Ausweitung der drängendsten Investitionen etwa in sozial geförderten Wohnungsbau und andere Bereiche der Daseinsvorsorge und deren gerechter Finanzierung formuliert Türmer Ansätze der Jusos für die politische Auseinandersetzung der kommenden Monate aus, die sich auch in den grundsätzlichen Überlegungen zur Ökonomie des Alltagslebens und der Infrastrukturökonomie im spw-Orientierungsrahmen wiederfinden.

2025-06-26T19:14:36+02:00
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