Heft261 – 04/2024
Verspielt die SPD ihr Ansehen als Friedenspartei?
#meinung #debatte #spw

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Prof. Dr. Dietmar Köster, Mitglied des Landesvorstands der NRW SPD, Mitglied des europäischen Parlaments von 2014 bis 2024, davor Professor für Soziologie an der Hochschule in Dortmund.
von Dietmar Köster
Das SPD-Präsidium hatte sich am 12. August 2024 im Rahmen einer Videoschalte entschieden, die geplante Stationierung von landgestützten US-amerikanischen Mittelstreckenraketen 2026 auf deutschem Boden zu befürworten. In einer bilateralen Erklärung hatten der US-amerikanische Präsident Biden und der deutsche Bundeskanzler Scholz vereinbart
- landgestützte Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 2.500 km (Typhon)
- Standard Missile 6 (SM-6) in der Ausführung als Boden-Boden-Rakete mit einer Reichweite von 470 km („Flugabwehrrakete“) und
- die noch in der Testphase befindlichen Hyperschallraketen Dark Eagle mit einer Reichweite von 3.000 km
zu stationieren.
Etwas verklausuliert heißt es in dem Präsidiumsbeschluss, dass die SPD Verantwortung dafür übernehmen müsse, dass „kein Kind, das heute geboren wird, wieder Krieg erleben muss“ und dafür die Stationierung von „US-amerikanischen Raketen mit größerer Reichweite ein wichtiger Baustein ist“.¹
Dieser Überraschungscoup der Parteispitze in der Sommerpause hatte wohl das Ziel, diese Entscheidung mehr als einen Verwaltungsakt der Bundesregierung erscheinen zu lassen, die keiner größeren öffentlichen Debatte in der Partei, im Parlament und in der Öffentlichkeit bedürfe. Mittlerweile ist aus dem Willy- Brandt-Haus angekündigt worden, dass über die geplante Stationierung der Mittelstreckenraketen debattiert werden sollte. Allerdings ist davon bislang wenig zu hören. Eine ernsthafte breit angelegte Debatte mit ergebnisoffenem Ausgang scheint nicht vorgesehen zu sein.
Mit diesem Beschluss berührt die SPD-Spitze die historische Kernidentität der SPD als Friedenspartei. Mit der Befürwortung, US-amerikanische Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden zu stationieren, wird die SPD ihre Glaubwürdigkeit einbüßen, in der Tradition von Willy Brandt und seiner Losung „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“ zu stehen. Oder auch von Rosa Luxemburg, die schrieb: Die SPD muss „eine unbedingte Anhängerin des Friedens und glühende Gegnerin militärischer Rüstungen“ (Luxemburg 2022:19) sein. Eine Möglichkeit, die SPD als Friedenspartei zu profilieren, wäre es gewesen, wenn der sozialdemokratische Bundeskanzler ein gegenseitiges Moratorium bei der Stationierung von landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa ins Gespräch gebracht hätte.
In der Zeitenwende droht die SPD eine Partei zu werden, die in der politischen Praxis stark auf Aufrüstung und Abschreckung setzt. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung die Stationierung von Mittelstreckenraketen befürwortet, für die Aufrüstung in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steht und die Gesellschaft „kriegstüchtig“ gemacht werden soll, wie es der sozialdemokratische Verteidigungsminister fordert. In dem Beschluss des Präsidiums gibt es wohl ein allgemeines Bekenntnis zu „wirksamer Rüstungskontrolle in Europa“. Allerdings fehlen vollkommen praktische Schritte auf dem Weg dorthin. So droht der SPD ein weiterer Glaubwürdigkeits- und in der Folge auch ein Bedeutungsverlust. Das Thema Frieden überlässt man weitgehend der rechtsextremen AfD und dem links-nationalen BSW, das mit dem Thema bei den letzten Landtagswahlen bereits erfolgreich war.
Der Bundeskanzler hat seine Entscheidung für die bilaterale Erklärung nicht in einen größeren Begründungskontext gestellt. Er behauptet, das sei aus Abschreckungsgründen gegen Russland geboten. In diesem Fall gab es nicht nur eine schwache Kommunikation, jetzt gibt es gar keine mehr und es wird einfach entschieden. Bastapolitik in Reinkultur.
Da die Stationierung der Raketen „weitreichende Folgen für die Sicherheit Europas und die globale nuklearstrategische Stabilität hat und die nuklearen Risiken der deutschen Bevölkerung“ (Neuneck 2024:1) erhöht hat, werden auch zunehmend kritische Stimmen in der SPD laut, die dem Beschluss des Präsidiums widersprechen. Zu den Kritikern zählt nicht nur der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. So haben u.a. der ehemalige Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans, Ralf Stegner, die SPD AG 60 plus und die DL212² in einem separaten sozialdemokratischen Aufruf zur Friedensdemonstration am 3. Oktober erklärt: „Wir kritisieren die einseitige Festlegung einer automatischen Stationierung neuer konventioneller (aber nuklear aufrüstbarer) bodengestützter amerikanischer Mittelstreckenraketen mit kürzesten Vorwarnzeiten in Deutschland“. Weiter wird bemängelt, dass dies nicht ein gemeinsamer Beschluss der NATO ist und die Raketen nur auf deutschem Boden stationiert werden sollen. Ebenso halten die Verfasser es für problematisch, dass mit der bilateralen Erklärung nicht auch ein Verhandlungsangebot an Russland verbunden ist, um Moskau zu Rüstungsverhandlungen zu drängen.
Welche Argumente bringen die Befürworter*innen vor? Gibt es wirklich eine Abschreckungslücke?
Zur Erinnerung: 2019 kündigten die USA mit Trump als Präsidenten den INF-Vertrag aus dem Jahr 1987, der alle bodengestützten Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern verbot. Gegen diesen Vertrag soll Russland verstoßen haben, das neben einer Vielzahl an luft- und seegestützten Systemen selbst bereits landgestützte Mittelstreckenwaffen stationiert hatte. Russland bestritt, dass der genannte Marschflugkörper eine Reichweite von mehr als 500 Kilometer besitzt und damit gegen den INFVertrag verstößt. Präsident Putin schlug nach Auflösung des INF-Vertrags 2019 und 2020 ein neues Moratorium für landgestützte Mittelstreckenraketen vor. So einigten sich beide Seiten auf Inspektionen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beendete dieses Vorhaben (Graef, Thies, Mengelkamp 2024).
Ein weiteres Problem für die USA bestand darin, dass der INF-Vertrag China nicht einbezog. So gab es Debatten darüber, einen neuen Vertrag über Mittelstreckenraketen zu schaffen, der auch China zwingen sollte, seine landgestützten Raketen abzurüsten. Darauf ließ sich Peking nicht ein. Die amerikanische Kündigung des INF-Vertrages hatte somit vor allem auch den Grund, Mittelstreckenraketen gegen China aufstellen zu können (Gottschalk 2024).
Zudem plante die NATO, Abwehrsysteme aufzustellen, die 2016 in Rumänien in Betrieb genommen wurden. Während die NATO betonte, dass das System nicht gegen Russland gerichtet sei, sah das die russische Seite anders und kündigte wiederum Gegenmaßnahmen an, darunter Iskander-Raketen in der Exklave Kaliningrad. Im Mai 2018 wurde dann bekannt, dass Russland tatsächlich mit der dauerhaften Stationierung von Iskander-Raketen begonnen hatte.
Dennoch gibt es keine Abschreckungslücke, denn mit see- und luftgestützten Mittelstreckenwaffen besitzt die NATO schon jetzt ein Übergewicht an Gegenmaßnahmen gegenüber den russischen Waffensystemen. Es kommt also nicht so sehr darauf an, einzelne Waffengattungen, sondern das Gesamtkräfteverhältnis in den Blick zu nehmen. So jedenfalls Oberst a.D. Wolfgang Richter in einem Konzeptpapier der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) (Richter 2024).
Die geplante Stationierung der Mittelstreckenraketen hat für die USA strategische Bedeutung. Mit diesen Raketen kann Moskau seine atomare Zweitschlagfähigkeit gefährdet sehen. So können russische Stellungen aus Deutschland angegriffen werden, ohne dass Russland wissen kann, ob diese Raketen nuklear bestückt sind. Umgekehrt verfügt Russland nicht über die Fähigkeit, die USA mit Mittelstreckenwaffen anzugreifen. So führt die Stationierung der Mittelstreckenraketen zu einer Störung des atomaren strategischen Gleichgewichts. Damit steigt das Risiko, dass die US-amerikanischen Stationierungsorte in Deutschland primäres Ziel von russischen Angriffen werden. Es ist zu bezweifeln, ob ein Präsident Trump in irgendeiner Weise bei einer zugespitzten Konfrontation des Westens gegenüber Russland die Überlebensinteressen der europäischen Bürger*innen im Blick bei der Frage hat, ob die Mittelstreckenraketen von deutschem Boden gegen Russland eingesetzt werden sollen. Es ist unverantwortlich, einem Präsidenten Trump die Entscheidung zu überlassen, Russland mit den neuen Mittelstreckenraketen zu drohen.
Auch die Behauptung im Beschluss des SPD-Präsidiums, mit der Stationierung sei keine verschärfte Konfrontation mit Russland beabsichtigt, hält einer genaueren Betrachtung nicht Stand. Die Stationierung „verschärft somit vorbehaltlos die Konfrontation zwischen Russland und der NATO. Sie trägt auch dazu bei, Moskaus Motiven für die Fortsetzung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen die Ukraine neue Nahrung zu geben. Denn seit langem richtet sich sein Sicherheitsinteresse darauf, die NATO auf Abstand zu halten und eine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenwaffen in seiner geographischen Nähe zu verhindern“ (ebenda, 13).
Weiter heißt es im Präsidiumsbeschluss, dass die Stationierung der Mittelstreckenraketen eine Antwort auf den russischen Angriff gegen die Ukraine sei. Auch das überzeugt nicht. In den USA wurden Vorbereitungen für die Stationierung schon 2021 getroffen.
Rolf Mützenich warnte eindringlich davor, die Gefahren einer Stationierung von Langstreckensystemen mitten in Europa zu unterschätzen (taz vom 21.07.2024). Es geht um nicht weniger als um die Frage, ob unser dicht besiedeltes Land zum Ziel eines atomaren Erstschlags werden könnte. Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation aufgrund der kürzer werdenden Vorwarnzeiten ist groß. Sie beträgt mit der Stationierung von Hyperschallraketen nur noch 10 bis 15 Minuten (Mika 2024). Da ist es fast unmöglich zu einer realistischen Einschätzung zu kommen, ob es sich hier um einen Fehlalarm oder einen realen Angriff des Westens handelt und daher ein atomarer Zweitschlag auszuüben ist. Damit wird die strategische Stabilität geschwächt, denn es wird die Gefahr russischer Fehlwahrnehmungen und damit vorbeugender Fehlreaktionen erhöht. Das Risiko unbeabsichtigter militärischer Eskalation zwischen Russland und den USA steigt. Außerdem sollen die Raketen nur in Deutschland stationiert werden. Damit wird in Europa Deutschland zum alleinigen Ziel möglicher russischer – auch atomarer – Gegenschläge.
Die geplante Stationierung der Mittelstreckenraketen wird auch weitreichende Auswirkungen auf das Wettrüsten haben. So gibt es mit dem Auslaufen des START-Vertrags 2026 keine verbindlichen Begrenzungen für strategische Nuklearwaffen mehr. Dies öffnet die Tore für ein neues atomares Wettrüsten und verschärft die globale Instabilität.
Die Stationierung der Mittelstreckenraketen muss verhindert werden. Es ist nun Aufgabe, innerhalb der SPD dafür die richtigen Beschlüsse zu fassen. Dem Beschluss des SPD-Präsidiums muss widersprochen werden. Es geht auch um das friedenspolitische Profil der SPD.
¹ Kinder für die eigene politische Position zu instrumentalisieren, ist schon per se höchst fragwürdig.
² Weitere Kritiker*innen: Willy-Brandt-Kreis, Naturfreunde, AWO, DJS Die Falken, Erhard-Eppler-Kreis