Heft262 – 01/2025
Rezension: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung
#kultur #kritik #spw
Thilo Scholle ist Jurist. Er lebt in Lünen und Berlin.
von Thilo Scholle
Boris Ivanovic Nikolaevskij
Auf den Spuren des Marx-Engels-Nachlasses und der Archive der russischen Sozialdemokraten (1922 – 1940)
Argument Verlag, Hamburg 2021
320 Seiten, 22 €
Zu den die Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) begleitenden wertvollen Publikationen gehören seit vielen Jahren die Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Der vorliegende Sonderband 6 widmet sich Bausteinen der recht verschlungenen Wege der Sammlung und Publikation der Marx-Engels- Texte in den 1920er und 1930er Jahren. Persönlich- biografische Orientierung erhält die Darstellung dabei teilweise über die Biografie des Berliner Korrespondenten des Moskauer Marx-Engels-Instituts, Boris Ivanovic Nikolaevskij während dieser Jahre. Aufbewahrt wurde der Nachlass der beiden Denker im Archiv des SPD-Parteivorstands in Berlin, dem Nikolaevskij ebenfalls verbunden war, und zu dessen Rettung vor den Nazis nach 1933 er einen bedeutenden Beitrag leistete. Eine wichtige Rolle im Band spielt auch die Gründung des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam während der 1930er Jahre, das der neue Aufbewahrungsort nicht nur des Archivs der SPD, sondern auch weiterer bedeutender Archive und Nachlässe der Arbeiterbewegung wurde.
Der im Jahr 1887 in Belebei in Russland geborene Nikolaevskij engagierte sich bereits während seiner Jugend politisch, und wurde im Jahr 1904 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Innerparteilich auf dem menschewikischen Flügel verankert, war auch er Repressionen des russischen Staates ausgesetzt, und verbrachte während des Ersten Weltkriegs einige Zeit in der Verbannung in Sibirien. 1917 ins damalige Petrograd zurückgekehrt, arbeitete er anschließend vor allem als Archivar. Anfang 1921 verhaftet, wurde er für fast ein Jahr inhaftiert und reiste schließlich im Jahr 1922 ins Exil nach Deutschland aus. Zunächst übernahm er die Leitung des im Gebäude des SPD-Parteivorstands untergebrachten Russischen Sozialdemokratischen Archivs, bevor er 1924 durch den Organisator der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe, David Rjasanow, zum Berliner Korrespondenten des Moskauer Marx-Engels- Institut wurde. Hier arbeitete er intensiv an der Erfassung und Auswertung des Marxschen Nachlasses mit, korrespondierte mit Eduard Bernstein und anderen, arbeitete eng mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung zusammen und blieb zugleich im Netz der exilierten Menschewiki gut vernetzt. Wie auch die Beiträge im Band zeigen, war das von Rjasanow gesponnene Mitarbeiter-Netzwerk für die Arbeit an der Edition des Marxschen Werkes durchaus plural und umfasste gerade im Westen viele exilierte Menschewiken. Nachdem Rjasanow im Jahr 1931 in Moskau in Ungnade gefallen und später dem Stalinschen Terror zum Opfer fiel, wurde auch Nikolaevskij als Mitarbeiter des Instituts entlassen. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten floh er 1933 zunächst nach Frankreich und baute dort von 1935 bis 1940 die Pariser Dependance des neu gegründeten Internationalen Instituts für Sozialgeschichte (IISG) auf. Zugleich gehörte er zu den wichtigsten Organisatoren der Rettung des Archivs des Parteivorstands der SPD aus dem faschistischen Deutschland. Während der Zeit in Frankreich war er zudem intensiv in die Gespräche sowohl mit der Moskauer Regierung wie auch mit dem IISG über einen Ankauf des Archivs vom Parteivorstand involviert. Nach 1940 floh er weiter in die USA, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1966 lebte und vor allem als Kommunismusexperte auftrat.
Im namentlich nicht gezeichneten Editorial des Bandes wird festgehalten, dass Nikolaevskij trotz seiner großen Bedeutung für die Edition der Marx-Engels-Werke in Osteuropa Persona non grata geblieben sei. Publikationen, die seinen Namen erwähnten, habe es praktisch nicht gegeben. Die einzelnen Bestandteile des Bandes sind etwas unübersichtlich angeordnet, einzelne Texte sind auch zuvor schon an anderer Stelle erschienen. Rolf Hecker skizziert die Biografie Nikolaevskijs bis zum Weg ins amerikanische Exil. Wladislaw Hedeler gibt einen Überblick über einen Grabstein für die in den 1920ern im Exil verstorbenen russischen Menschewiki im Berliner Wedding. Es schließen sich mehrere Texte an, die sich mit der Gründung des IISG sowie dem Aufbau der dortigen Archive befassen. Anschließend schreibt noch einmal Hedeler über Nikolaevskijs Arbeit als Archivar der russischen Sozialdemokratie, und bettet diese Darstellung auch in eine Beschreibung der Berliner russisch-menschewikischen Exil-Szene ein. Weitere Texte widmen sich den Verhandlungen um den Verkauf des Marx- Engels-Nachlasses zwischen 1935 und 1938, bei der sich der SPD-Parteivorstand letztlich für einen Verkauf an das IISG entschied. Rolf Hecker skizziert im letzten Text die Arbeit Nikolaevskijs an einem weiteren Editionsprojekt, den Protokollen des Generalrats der IAA aus den 1860er Jahren, bei dem er u.a. mit dem in London exilierten Historiker und Engels- Biografen Gustav Meyer intensiv zusammenarbeitete. In einem Anhang sind zahlreiche Korrespondenzen Nikolaevskijs, u.a. mit dem georgischen Menschewiken Irakli Zereteli, mit Paul Hertz vom SPD-Exilvorstand sowie mit dem Gründer des IISG, Nicolaas Wilhelmus Posthumus, enthalten. Interessant sind zudem einige Protokolle, die die Moskauer Delegationen jeweils über ihre Verhandlungen über den Ankauf des Marx-Engels-Nachlasses anfertigten.
Insbesondere die Briefe sind ohne weitere Kenntnisse des zeitgenössischen Kontextes eher schwer zu verstehen. Zwischen manchen Texten finden sich zudem inhaltliche Überschneidungen. Dennoch ist der Band ausgesprochen lesenswert, lässt er den Lesenden doch direkt in ein spannendes Kapitel der Edition des Marxschen Werkes blicken. Deutlich wird, wie intensiv – bei allen politischen und ideologischen Differenzen – durchaus der Austausch zwischen Moskau und Mittel- und Westeuropa bliebt. Das Beispiel der Menschewiki zeigt zudem, das Ausgrenzung, Inhaftierung und Vertreibung in der Sowjetunion nicht erst mit dem Aufstieg Stalins, sondern im Prinzip mit der Staatsgründung der Sowjetunion und dann auch unter engsten ehemaligen Genossinnen und Genossen begannen. Inhaltlicher Austausch und Diskussion kamen dann aber dennoch erst ab Anfang der 1930er Jahre mit den ersten öffentlichen Verhaftungen und Prozessen in Moskau zu einem vollständigen Ende. Durchaus bemerkenswert ist, welchen Wert die Arbeiter*innenbewegung ihren Archiven beimaß und diesen nicht nur als organisatorischen Traditionsbestand, sondern in gewisser Weise auch als intellektuellen Wissensspeicher verstand.