Heft 262 – 01/2025
Ein Plädoyer für Realismus in Zeiten globaler Umbrüche.
#meinung #debatte #spw

Foto: © Privat
Marc Saxer ist Leiter des FES-Büros für Regionale Zusammenarbeit in Asien.
Marc Saxer
Der amerikanische Präsident möchte Grönland und Kanada annektieren. Russische Spionageschiffe sabotieren europäische Kommunikationsnetze in der Ostsee. Chinesische Hersteller laufen deutschen E-Autos den Rang ab. Viele der heutigen Polykrisen wären vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen. Dennoch steckt die deutsche Debatte über das Ausmaß und die Natur dieser Krisen erst in den Anfängen.
Ein großer Teil der Bevölkerung wünscht sich, einfach in Ruhe gelassen zu werden, und blockiert durch Klagen oder Wahlergebnisse selbst kleinste Neuerungen. Viele Entscheider glauben, dass es ausreicht, weiter an einzelnen Stellschräubchen zu drehen. Andere greifen zu den überholten Rezepten des Neoliberalismus – obwohl die Schwächung staatlicher Strukturen und der naive Glaube an die Innovationskraft des Marktes maßgeblich zur Entstehung der Krisen beigetragen haben.
Um die gemeinsamen Ursachen der zahlreichen Krisen zu erkennen und die strukturellen Erschütterungen für Europa besser einschätzen zu können, ist ein weiter Blick auf die internationalen Rahmenbedingungen nötig. Der geopolitische Wettbewerb und geoökonomische Umbrüche gefährden das deutsche Wirtschafts-, Sozial- und Sicherheitsmodell. Das alte Modell „billige Energie aus Russland, billige Sicherheit aus den USA und teure Autos nach China“ hat in der neuen Welt keine Zukunft mehr.
Die europäische Sicherheitsordnung ist kollabiert
Die Sicherheit Deutschlands und Europas wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von einem außereuropäischen Akteur, den Vereinigten Staaten, garantiert. In Washington herrscht heute jedoch Einigkeit darüber, sich künftig auf den Hegemonialkonflikt mit China zu konzentrieren und die Hauptverantwortung für die europäische Verteidigung den Europäern zu übertragen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat diesen geopolitischen Paradigmenwechsel vorübergehend überlagert. Spätestens mit dem Amtsantritt der Trump-Regierung wächst jedoch der Druck auf die Europäer, mehr für ihre eigene Sicherheit und die Stabilisierung ihrer Nachbarschaft zu leisten.
Die Lage könnte kaum dramatischer sein: Der Krieg als Mittel der Politik ist nach Europa zurückgekehrt. Selbst wenn es gelingt, den Ukrainekrieg durch eine politische Übereinkunft einzufrieren, bleibt der Antagonismus zwischen dem Westen und Russland bestehen. Ob dies tatsächlich – wie einige befürchten – in einem russischen Angriff auf die NATO mündet, erscheint jedoch fraglich. Umgekehrt dürfte die Hoffnung, Moskau würde nach ukrainischen Konzessionen von seinen revanchistischen Plänen absehen, trügerisch sein. Wahrscheinlicher sind aus heutiger Sicht asymmetrische Destabilisierungsversuche im Kaukasus, auf dem Balkan und im Baltikum.
Europa wird erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um trotz geringerer amerikanischer Sicherheitsgarantien abschreckungsfähig zu werden. Die Investitionen in die Wehrfähigkeit der Bundeswehr und den Wiederaufbau der Verteidigungsindustrie werden voraussichtlich weit über 2 % des Bruttoinlandsprodukts kosten. Die Debatte über die Gegenfinanzierung dieser Ausgaben hat bereits begonnen.
Das deutsche Wirtschaftsmodell ist obsolet
Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China wird mit harten Bandagen geführt. Durch Exportkontrollen und Investitionsbeschränkungen versuchen die USA, Chinas Aufstieg zur technologischen Weltspitze zu bremsen. Die technologischen Systeme beider Länder werden zunehmend inkompatibel. Die neue Trump-Regierung hat bereits weitere Zölle angekündigt. China hat im Gegenzug den Export seltener Erden eingeschränkt und verdoppelt seine Anstrengungen, durch eine hochsubventionierte Industriepolitik auf den Technologiemärkten der Zukunft führend zu werden.
Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten stärker als andere auf Interdependenz gesetzt. Um widerstandsfähiger gegenüber geopolitischen Risiken zu werden, müssen die daraus resultierenden Verwundbarkeiten abgebaut werden. Die Verlagerung der Lieferketten in befreundete Länder und der Abbau einseitiger Abhängigkeiten kommt jedoch nur schleppend voran. Gleichzeitig bremsen fehlende Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie ein chronisch schwaches Bildungssystem die Innovationskraft der Wirtschaft. Hohe Energiepreise belasten zusätzlich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Der deutsche Sonderweg in der Klima- und Energiepolitik erschwert eine Anpassung an die neue geopolitische Lage.
Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten stärker als andere auf Interdependenz gesetzt. Um widerstandsfähiger gegenüber geopolitischen Risiken zu werden, müssen die daraus resultierenden Verwundbarkeiten abgebaut werden. Die Verlagerung der Lieferketten in befreundete Länder und der Abbau einseitiger Abhängigkeiten kommt jedoch nur schleppend voran. Gleichzeitig bremsen fehlende Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie ein chronisch schwaches Bildungssystem die Innovationskraft der Wirtschaft. Hohe Energiepreise belasten zusätzlich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Der deutsche Sonderweg in der Klima- und Energiepolitik erschwert eine Anpassung an die neue geopolitische Lage.
Verteilungskonflikte erschüttern die liberale Demokratie
Um ihrem drohenden Abstieg entgegenzuwirken und wieder handlungsfähig zu werden, müssen Deutschland und Europa ihre Rolle in einer veränderten Welt neu definieren. Die Anpassung an die neuen internationalen Rahmenbedingungen erfordert grundlegende Richtungswechsel in der Fiskal-, Verteidigungs-, Industrie-, Migrations- sowie Bildungs- und Forschungspolitik. Zur Bewältigung der sicherheits-, energie- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen wird Deutschland in den kommenden Jahren rund 4 % seines Bruttoinlandsprodukts zusätzlich investieren müssen.
Innerhalb der Grenzen der Schuldenbremse ist das nicht umsetzbar. Kein Zufall also, dass die Ampelregierung an dieser Frage gescheitert ist. Eine deutlich höhere Schuldenaufnahme wird unvermeidlich sein, aber nicht ausreichen. Die Verteilungskämpfe um die Finanzierung der nötigen Investitionen nehmen daher an Schärfe zu. Soll das obere Drittel der Kapitalbesitzer die Kosten tragen, müssten Erbschaftsund Vermögenssteuern steigen. Soll das mittlere Drittel der Lohnempfänger belastet werden, wären höhere Lohn- und Konsumsteuern erforderlich. Oder der Wohlfahrtsstaat wird gekürzt, was die Last auf das untere Drittel der Transferempfänger verlagern würde.
Politisch ist keiner dieser Wege vom Gesellschaftsvertrag gedeckt. Eine große Mehrheit der Deutschen lehnt Rentenkürzungen ab, um damit höhere Verteidigungsausgaben zu finanzieren. Ebenso wenig sind breite Mehrheiten bereit, Konsumverzicht zu üben, um einen Kurswechsel in der Klima- und Energiepolitik zu ermöglichen. Solche Verteilungskämpfe werden das Parteiensystem durcheinanderwirbeln.
Solange die Bürger den Entscheidungsträgern nicht zutrauen, die Krisen zu bewältigen oder auch nur zu verstehen, und gleichzeitig befürchten – oft nicht zu Unrecht –, am Ende die Hauptlast zu tragen, werden rechtspopulistische Kräfte weiter an Zulauf gewinnen.
Genau darin liegt der Grund, warum der „Kampf gegen Rechts“ scheitern muss: Er verwechselt Ursache und Wirkung. Die Wurzeln der Krise liegen im intellektuellen Bankrott des Kalten Krieg-Liberalismus, während die rechtspopulistische Gegenrevolte nur ein Symptom ist. Moralappelle reichen nicht aus, um den rechten Angriff auf die Demokratie abzuwehren. Das demokratische Zentrum muss endlich die Probleme angehen, die es durch zahlreiche politische Fehlentscheidungen selbst mitverursacht hat. Stattdessen wird der „Kampf gegen Rechts“ oft genutzt, um von eigener Verantwortung abzulenken und innere Kritiker mundtot zu machen.
Bis sich die politischen Lager neu sortieren, droht dem System eine lähmende Blockade. Dringend notwendige Kurswechsel könnten in politischen Scharmützeln und Kulturkämpfen stecken bleiben. Um die Transformation erfolgreich zu meistern, braucht es einen realistischen Ansatz. Eine kompromisslose Umsetzung ohne Rücksicht auf die Kosten, wie sie viele Progressive fordern, provoziert eine reaktionäre Gegenbewegung, die alles bekämpft, was den gewohnten Lebensstil bedroht. Das Ergebnis der moralisch aufgeladenen Debatten ist politischer Stillstand. Noch schlimmer: Wenden sich breite Schichten frustriert ab, droht eine populistische Machtübernahme, die demokratische Institutionen beschädigt, ohne die Ursachen des Niedergangs anzugehen. Die notwendigen Richtungswechsel sind politisch nur umsetzbar, wenn die daraus entstehenden Lasten gerecht verteilt werden. Anders gesagt: Eine grundlegende Reform des Landes ist gleichbedeutend mit der Neuverhandlung des Gesellschaftsvertrages.
Um Deutschland und Europa für eine Welt im Umbruch fit zu machen, brauchen wir einen politischen Kompass, der Orientierung bietet. Es braucht eine realistische Einschätzung, wie die Welt von morgen aussehen könnte, sowie neue Ansätze, um uns darauf auszurichten.
Sicherheit in einer Welt im Umbruch
Der Wiederaufstieg großer Mächte wie China und Indien bedeutet geopolitisch einen relativen Abstieg des Westens. Mit dem Ende der amerikanischen Hegemonie schließt sich der unipolare Moment nach dem Kalten Krieg. Das Aufflammen von Kriegen und Konflikten nicht nur an den Peripherien, sondern auch in den Zentren der Ordnung markiert das Ende der Pax Americana.
Der Wettbewerb zwischen Zivilisationen mit gegensätzlichen Ordnungsvorstellungen untergräbt den universellen Anspruch des Westens. Die Relativierung von Demokratie und Menschenrechten als Prinzipien der internationalen Ordnung – durch revisionistische Großmächte und die Doppelstandards des Westens – markiert das Ende der liberalen Weltordnung.
Eine neue Machtkonstellation zeichnet sich ab, die als asymmetrische Multipolarität beschrieben werden kann. An der Spitze stehen die USA und China, zwei Supermächte mit deutlich überlegenen Fähigkeiten, jedoch nicht dominant genug, um zu einer Neuauflage des bipolaren Systems des Kalten Krieges zu führen. Gleichzeitig steigen Regionalmächte wie Brasilien, Nigeria, Südafrika, Saudi-Arabien, die Türkei, der Iran und Indonesien auf, denen jedoch die Mittel zur globalen Machtprojektion fehlen. Dazwischen befinden sich drei kontinentale Großmächte – Russland, Indien und die Europäische Union –, die das Potenzial haben, eigenständige Pole der internationalen Ordnung zu werden, jedoch auch an ihren inneren Widersprüchen scheitern könnten.
Zur Eindämmung der eskalierenden Konflikte zwischen diesen und weiteren Mächten braucht es eine neue internationale Ordnung. Dabei prallen unterschiedliche Ordnungsvorstellungen aufeinander. Russland propagiert offen eine Einflusszone, in der die Souveränität von Klientelstaaten eingeschränkt und Grenzen gewaltsam verschoben werden können. China und der Iran verfolgen subtilere, aber ähnliche Ambitionen. Die aus Sicht der alten Ordnung bizarren Annexionspläne von Präsident Trump scheinen von der Wiederbelebung der Monroe- Doktrin inspiriert, die eine exklusive Einflusszone der USA in der westlichen Hemisphäre anstrebt.
Am anderen Ende des Spektrums fürchten kleinere Mächte eine Welt, in der nur das Recht des Stärkeren zählt. Nicht nur Europa, sondern auch große Teile des Globalen Südens setzen sich daher für den Erhalt einer regelbasierten Ordnung ein. Diese Regeln müssten jedoch an die Machtbalance des 21. Jahrhunderts angepasst werden, indem aufstrebende Mächte des Globalen Südens stärker einbezogen werden. Ein möglicher Kompromiss könnten reformierte internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen sein. Diese würden die Universalität des internationalen Rechts wahren, jedoch auf Regimewechsel und „humanitäre“ Interventionen verzichten.
Europa kann auf viele Gleichgesinnte hoffen, die als Partner für die Anpassung des internationalen Ordnungsrahmens gewonnen werden können. Der Preis dafür ist jedoch der Verzicht auf moralisierende Belehrungen und Doppelstandards sowie ein verstärktes Engagement bei der Lösung globaler Probleme – von Klimawandel über Pandemien bis hin zur Überschuldung.
Europa sollte sich aus sicherheitspolitischen Engagements in fernen Regionen wie dem Indo- Pazifik, in denen seine unmittelbaren Sicherheitsinteressen nicht berührt werden, zurückziehen und seine begrenzten Ressourcen auf die Sicherung des eigenen Kontinents und die Stabilisierung seiner turbulenten Nachbarschaft konzentrieren. Deutschland muss dabei eine zentrale Rolle übernehmen. Dies kann nur gelingen, wenn es Berlin schafft, strategische Partnerschaften auf der Basis gemeinsamer Interessen zu schmieden. Eine Einteilung der Welt in Gut und Böse oder in Demokratisch und Autokratisch steht dem im Weg. Die wertebasierte Außenpolitik sollte daher einer realpolitischen Haltung weichen, die sich der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten bewusst ist.
Wachstum und Wohlstand in einer fragmentierten WeltWirtschaft
Deutschland und Europa müssen sich auf eine fragmentierte, regionalisierte und krisenanfällige Welt einstellen. Ziel ist es, Verwundbarkeiten abzubauen und die Resilienz zu stärken. Ein pragmatischer, interessengeleiteter Ansatz sollte dabei Vorrang haben vor dem normativen Eifer einiger Wertepolitiker, die eine vollständige Entkopplung von autoritären Märkten fordern. Selbst wenn Europa technologisch zu den führenden Nationen aufschließen kann, wird dieser Prozess mindestens eine Generation dauern. In dieser Zeit gilt es, alles zu vermeiden, was die eigene Position zusätzlich schwächt.
Der notwendige Wandel erfordert eine gemeinsame Kraftanstrengung von Staat, Privatwirtschaft und Wissenschaft. Die Ideen libertärer Kreise, wie sie etwa von Elon Musk vertreten werden, die jedes staatliche Programm, von dem sie nicht direkt profitieren, zusammenstreichen wollen, sind in einer Welt des harten geopolitischen Wettbewerbs zum Scheitern verurteilt. Sowohl der staatlich gelenkte chinesische Kapitalismus als auch amerikanische Venture- Kapitalisten scheuen sich nicht, enorme Summen zu investieren und Verluste in Kauf zu nehmen, um langfristig Markt- und Technologieführerschaft zu sichern. Deutschland muss daher seine hohen Sparrücklagen produktiv einsetzen und den Staat aus seinem fiskalischen Korsett zu befreien.
Die Rückkehr des Primats der nationalen Sicherheit bedeutet, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen zu Infrastruktur, Handelsbeziehungen oder Technologien zunehmend durch eine geopolitische Brille betrachtet werden. Ein entkernter Nachtwächterstaat kann das ebenso wenig leisten wie eine auf kurzfristigen Shareholder Value ausgerichtete Privatwirtschaft. Stattdessen müssen Staat und Wirtschaft ihre Fähigkeiten zu langfristigen, strategischen Entscheidungen durch eine gezielte Kompetenzoffensive stärken.